Geographie 010 - Unerwünschte, strahlende 'Lebenszeichen' aus Majak

in #deutsch7 years ago (edited)

23. November 2017

Diese Woche wurde berichtet, dass vor etwa 2 Monaten, Ende September 2017, über dem eurasischen Kontinent wieder einmal eine erhöhte Radioaktivität gemessen wurde [1, 2]. Es betraf das radioaktive Isotop des Übergangsmetalls Ruthenium mit der Massenzahl 106 (106Ru) [3]. Dieses Isotop ist mit einer Halbwertszeit von 373,6 Tagen das stabilste aller radioaktiven Isotope des Ruthenium, welches natürlicherweise in 7 stabilen Isotopen auftritt.

106Ru entsteht zu einem geringen Teil bei der Kernspaltung von Uran und zerfällt via den Mechanismus des β- Zerfalls zunächst zum kurzlebigen 106Rhodium und dann weiter zum stabilen 106Palladium. Verwendet werden kann 106Ru in der Radiotherapie von Augentumoren. Wie das funktioniert, ist mir nicht bekannt.

Dass die Wolke mit erhöhter Konzentration 106Ru, die vor allem in der Umgebung der Kerntechnischen Anlage Majak [4] observiert wurde (55.695132 N, 60.803613 O), keiner Tumortherapie im Makromassstab diente, dürfte einigermassen sicher sein. Majak und die benachbarte Stadt Osjorsk (russ. Озёрск) [5] befinden sich in der Oblast Tscheljabinsk in der nordwestlichen Umgebung von Tscheljabinsk. Stadt und Kerntechnische Anlage sind bis heute ein geschlossenes Gebiet des Verteidigungsministeriums und nur für ausdrücklich Berechtigte zugänglich [6]. Betreiber der Kerntechnischen Anlage ist Rosatom [7], die Föderale Agentur für Atomenergie Russlands. Ursprünglich diente die Anlage der Produktion militärisch nutzbarer Isotope, vor allem waffenfähiges Plutonium. Offiziell wurde in den späten 1980er Jahren damit aufgehört, um seitdem vor allem in der Produktion von Radionukliden und der Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen tätig zu sein. In Osjorsk leben heute etwa 80'000 Einwohner.

2017-11 - Sat Osjorsk Majak 1.jpg
Lage von Osjorsk mit Bezug zum europäischen Kontinent. Google Maps [23].

2017-11 - Sat Osjorsk Majak.jpg
Übersichtskarte Osjorsk und Majak. Lage der Kerntechnischen Anlage:
55.695132 N, 60.803613 O. Google Maps [23].

Die Geschichte von Osjorsk begann als ein Straflager im Jahr 1946, welches bis mindestens 1960 bestand. Es hiess Kusnezki-ITL. Bereits Mitte 1948 soll in Majak der erste Kernreaktor der UdSSR in Betrieb gegangen sein. Wer diesen gebaut hat und woher die Technologie stammt, ist mir nicht bekannt, es interessiert mich aber durchaus. Die Stadt hiess damals Tscheljabinsk-40, später Tscheljabinsk-65, Osjorsk heisst sie erst seit 2001. Am 29. September 1957 kam es auf dem Areal Majak zum Kyschtym-Unfall [8], einer der schwersten Unfälle in der Geschichte der Kerntechnik. Dieser war aber bei weitem nicht der einzige in der Geschichte der Anlage [4].

Auch bei der Wahl der Deponie für die Abfälle war man besonders kreativ und nutzte den Karatschai-See [9]. Wie dessen letzter Status ist, ist mir nicht bekannt. Anfang der 1990er Jahre, hätte ein einstündiger Aufenthalt ohne Schutzvorkehrungen zum Tod durch akute Strahlenkrankheit geführt. Auch der Fluss Techa [10], der später in den Tobol fliesst, bekam Unmengen an radioaktiver Strahlung ab.

Beim neuesten Zwischenfall betrug die gemessene Konzentration an 106Ru in der Luft im nahegelegenen Argajasch [11] zeitweise gegen das 1'000-fache des erlaubten Grenzwerts. Was genau geschehen ist, dürfte von aussen schwierig zu beschreiben und zu rekonstruieren sein. Ich jedenfalls weiss es nicht. Wenn Aufklärung geleistet werden könnte, dann von innerhalb, was aber leider nicht zuletzt aufgrund des rechtlichen Status der Anlage nicht zu erwarten ist. Rosatom dementierte einen möglichen Zwischenfall auf der Anlage Majak, wobei sich durchaus die Frage stellt, wer denn sonst für eine Emission dieser Art verantwortlich sein sollte, wenn in der Umgebung lediglich eine dazu fähige Anlage steht. Für mich von aussen betrachtet ist es das typische Dilemma russischer Tätigkeiten, das sich hier einmal mehr zeigt und vor allem für das Militär gilt. Man ist sich seit Jahrhunderten offenbar gewohnt, viel Platz für allerlei Aktivitäten zu haben, auch für schädliche. Tut man das mit sehr giftigem Material, dessen Konzentration in der Luft weltweit gemessen wird oder auch in Flüssen oder Ozeanen, wird man früher oder später mit der Wahrheit solcher Messungen konfrontiert oder mit einer leidenden Bevölkerung. Auch wenn man das auf Statistiken längere Zeit unterdrücken kann, werden sich die Auswirkungen früher oder später in der Realität zeigen.

Vor einigen Jahren war Majak sowohl in Deutschland, als auch in der Schweiz ein Diskussionsthema. In der Schweiz weil die Axpo [12], Kernkraftwerksbetreiber der Anlagen Beznau, Gösgen und Leibstadt, in Majak und Sewersk aufbereitete Kernbrennstoffe kaufte. Im Herbst 2011 [13] und Anfang 2014 wurde vermeldet, dass man mittlerweile darauf verzichtet [14]. Im selben Artikel wurde erwähnt, dass es sowohl Vertretern der Axpo, als auch des Eidgenössischen Bundesamtes für Energie nicht erlaubt wurde, die Anlage zu besuchen. Das gleiche galt für eine weiter östlich gelegene Kerntechnische Anlage Tomsk [15], die bei der Stadt Sewersk [16] liegt, wie Osjorsk eine geschlossene Stadt.

Das Schweizer Fernsehen berichtete zwei Mal im Magazin Rundschau über Kernbrennstoffe aus Russland. Am 14. September 2011 [17] und am 08. Februar 2012 [18]. In Deutschland wurde im Jahr 2010 über Lieferungen zur Wiederaufbereitung von abgebrannten Kernbrennstoffen nach Majak diskutiert. Deutsche Welle TV erstellte daraufhin eine knapp 10 Minuten dauernde Reportage [19].

Es gibt zum Thema auch eine russische Dokumentation, die mit deutschen Untertiteln versehen wurde. Sie heisst Verseuchtes Land - Die Atomfabrik Majak [20].

Was man vielleicht auch erwähnen sollte, ist, dass das Problem nicht gelöst ist, wenn die Mitteleuropäer nicht mehr mit Majak zusammenarbeiten. Man kann von Majak mit der Bahn auch nach Indien, in den Iran, nach China und in weitere Länder fahren.


Zusätzlich möchte ich hier noch erwähnen, dass es eine neue Dokumentation über Osjorsk gibt. City 40 erschien im Jahr 2016 und wurde von der Amerikanerin Samira Goetschel produziert [21]. Bislang ist sie erst in englischer Sprache erschienen und ich habe sie nicht gesehen. Es gibt ein Interview mit der Produzentin [22], auch in Englisch.


[1] Russland bestätigt extreme radioaktive Konzentration. NZZ.ch, 21. November 2017 https://www.nzz.ch/quiz/panorama/russland-bestaetigt-extreme-konzentration-von-ruthenium-106-ld.1330560
[2] Auch das Tessin betroffen - Russland gibt extreme Strahlenwerte im Ural zu. 20min.ch, 21. November 2017 http://www.20min.ch/panorama/news/story/Russland-gibt-extreme-Strahlenwerte-im-Ural-zu-20144285
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Ruthenium
https://en.wikipedia.org/wiki/Ruthenium
http://www.periodensystem-online.de/index.php?id=isotope&el=44&mz=106&nrg=0&show=nuklid&sel=
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Kerntechnische_Anlage_Majak
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Osjorsk_(Tscheljabinsk)
[6] Geographie 003 - Russland, geschlossene Gebiete III. @saamychristen, 28. März 2017 https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/geographie-003-russland-geschlossene-gebiete-iii
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Föderale_Agentur_für_Atomenergie_Russlands
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Kyschtym-Unfall
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Karatschai-See
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Techa_River
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Argajasch
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Axpo_Holding
[13] Axpo verzichtet auf Schmutz-Uran. 20min.ch, 12. November 2011 http://www.20min.ch/news/dossier/atomenergie/story/Axpo-verzichtet-auf-Schmutz-Uran-27379368
[14] Axpo verzichtet auf Uran aus russischem Majak. SRF.ch, 27. Januar 2014 https://www.srf.ch/news/wirtschaft/axpo-verzichtet-auf-uran-aus-russischem-majak
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Kerntechnische_Anlage_Tomsk
[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Sewersk
[17] Mangelnde Transparenz. SRF.ch, Rundschau, 14. September 2011 https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/mangelnde-transparenz?id=0ab0a43f-279e-4d5a-8c86-4806224529c8
[18] Schweizer Lieferstopp für russisches Uran? SRF.ch, Rundschau, 08. Februar 2012 https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/schweizer-lieferstopp-fuer-russisches-uran?id=27a9c0e4-1eb1-4cdc-a28c-61861d5f1df5
[19] Atommülllager im russischen Majak | Journal Reporter. DW Deutsch YouTube Kanal, 28. November 2010
[20] Verseuchtes Land - Die Atomfabrik Majak. out of focus Vimeo Kanal, 2010
[21] 'The graveyard of the Earth': inside City 40, Russia's deadly nuclear secret. The Guardian, 20. Juli 2016 https://www.theguardian.com/cities/2016/jul/20/graveyard-earth-inside-city-40-ozersk-russia-deadly-secret-nuclear
[22] CITY 40 Interview | Life in a Closed, Radioactive City. Cinema Sophistry YouTube Kanal, 29. Mai 2016
[23] Google Maps Screenshots dürfen ohne ausdrückliche Bewilligung verwendet werden.
https://www.google.de/earth/media/licensing.html
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Eine Addition zum Artikel, die ich auch in diesen integriert habe:

Zusätzlich möchte ich hier noch erwähnen, dass es eine neue Dokumentation über Osjorsk gibt. City 40 erschien im Jahr 2016 und wurde von der Amerikanerin Samira Goetschel produziert [21]. Bislang ist sie erst in englischer Sprache erschienen und ich habe sie nicht gesehen. Es gibt ein Interview mit der Produzentin [22], auch in Englisch.


CITY 40 Interview | Life in a Closed, Radioactive City. Cinema Sophistry YouTube Kanal, 29. Mai 2016

Schade das Menschen genötigt sind in solchen Anlagen ihr Geld zu verdienen, schade um Mensch und Natur :(

Ja, es ist sicherlich bedauerlich. Wobei ich nicht weiss, wie es den dort arbeitenden Menschen geht. Es gibt kaum Reportagen darüber. Man hört lediglich, dass es den Bewohnern geschlossener Städte zumindest solange sie gesund sind, recht gut gehen soll. Der Lebensstandard ist höher als sonstwo, allerdings auch die Risiken bei der Arbeit.

Problematischer dürfte es vor allem für die in unmittelbarer Umgebung ausserhalb Lebenden sein. Z.B. Bauern, deren Gebiet an einem radioaktiv kontaminierten Fluss liegt oder solche, die in der Windrichtung eines grossen Verschmutzers leben. Die werden viel stärker betroffen sein und ihre Interessen nie durchsetzen können.

Es ist auch interessant. Im Westen wird von sozialistisch orientierten Menschen gerne für nicht direkt produktive Aktivitäten geworben. Verbesserungen bei Umweltstandards auf Staatskosten werden teilweise als Arbeitsplätze schaffend gelobt. Ich bin sehr dafür, dass man hohe Umweltstandards durchsetzt, aber sie müssen realistisch sein. Mir ist wichtig, dass die Industrien auch in Europa eine Zukunft haben. Denn, schon einige Produzenten hat man mit hohen Auflagen und komplizierten Vorschriften vertrieben, um sich dann erneut zu empören, wenn in anderen Ländern mit weniger Vorschriften nicht nach europäischen Standards produziert wurde.

In der Sowjetunion, einem ziemlich kaputten sozialistischen System hatte man aufgrund der permanenten Revolution gerade für so etwas wie Umweltschutz weder Zeit noch Energie noch Ressourcen... Was in der Folge dazu führte, dass man dort gegenüber dem heutigen Stand der Technik ähnlich rückständig ist, wie am Ende des Russischen Kaiserreichs.

Das Energiethema ist in unseren Tagen wirklich ein Dilemma.

Ja, das ist es. Mich nervt daran vor allem, dass es seit langem die nötige Technologie gibt, einigermassen sauber mit radioaktivem Material zu hantieren.

Wenn man aber das Gebiet sperrt, allerlei übelste Abfälle rauslässt und bei nett gehaltenen Nachfragen schon mauert, wird es dann doch ziemlich beschämend. Es zeigt auch, dass die staatsmonopolistischen Agenturen oder Konzerne wohl die Organe sind, die dem Privateigentum der Nachbarn am wenigsten Respekt entgegenbringen. Das an die Leute gerichtet, die immer noch glauben, man könne via den Staat ein höheres Mass an Ordnung erzielen.

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