RE: ADHS - Spektrum und Psychose : Gibt es einen Zusammenhang von ADS / ADHS und Schizophrenie ?
Ich schaue auf die kontroverse ADHS vs. Schizophrenie schon fast mit etwas Neid, so einfach scheint die Sache zu sein. Viel komplexer - und sicherlich auch viel häufiger - ist die mögliche oder tatsächliche Komorbidität von ADHS mit der bipolaren Störung. Ich bin da gerade in einer therapeutischen Zwickmühle, wobei mein - angesichts der neuen, bedrohlichen Situation vielleicht nachvollziehbares - Agieren als Zeichen einer (hypo-)manischen Phase gedeutet bzw. missdeutet wird. Davon will man mich jetzt erstmal herunterholen. War das jetzt in diesem Beitrag oder in einem anderen von Martin Winkler, die interesssante Feststellung, dass bei ADHS gerade eine sehr schnelle REAKTIVE Änderung der Stimmung und der Aktivierung stattfinden kann. Übel ist es, wenn gerade die therapeutische Interaktion, sei es mit Psych. oder Arzt, solch einen Trigger darstellt, so dass der Therapeut NUR mit EINEM Extrem des Verhaltensspektrums konfrontiert wird und deshalb falsche Schlüsse zieht. Häufig passiert es mir, dass dann hinterher die therapeutische Interaktion ein bisschen irreal erscheint, vor allem auch deswegen, weil meine vielleicht etwas euphorisch agitierte Stimmung dann sehr schnell wieder in eine Grund- und Ziel-lose Dysphorie umschlägt. Alleine schon die schriftliche Dokumentation oder die Erstellung von zielführenden Notizen über die Sitzung kann dann schon eine unüberwindbare Hürde darstellen. Von der gehobenen, zielgerichteten Stimmung ist dann plötzlich nicht mehr viel zu spüren. Obwohl ich sicher auch Anteile von einer hypomanischen Störung habe, erscheint mir der (Hyper-)Fokus (sic!) der Therapeuten auf die Manie etwas suspekt. Und in Bezug auf den therapeutischen Effekt und Fortschritt problematisch.
So, jetzt werde ich mich der Weiterführung einer extrem langwierigen und lästigen und mit vielfältigen negativen Emotionen aufgeladenen Aufgabe widmen. (hoffentlich...)
Danke. Klar, zur Bipolaren Störung könnte und müsste ich weit mehr schreien bzw .sagen. Das ist ja der "Klassiker", den ich fast wöchentlich in der Klinik habe. Die affektive Labilität von ADHS wird als Bipolar Typ II fehlteingeschätzt. Und die Rejection sensitive Dysphoria dann auch völlig falsch "gedeutet".
Ich hoffe ja, dass ich hier bei Steemit die ganzen Gedanken dazu von mir aus anderen Blogs / Stellen ein wenig sammeln und sortieren kann bzw. auf einige andere Autoren mit diesen Gedanken verweisen kann.
Und da das in meinen Augen die Quintessenz der Überlappungen und Komorbiditäten bei ADHS ist, bringe ich das auch hier wieder rein:
Das Thema Evolution und ADHS fassen folgende Sätze des deutschlandweit führenden Genetikers (und auch einer der weltweit führenden Genetiker) zu ADHS Prof. Klaus-Peter Lesch von der Psychiatrie der Uniklinik Würzburg zusammen:”…Früher vermuteten die Forscher, einige wenige Gene würden ADHS auslösen; doch das trifft, wenn überhaupt, nur auf ganz wenige Familien zu. Für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gilt: Vermutlich sind es 500 bis 1000 Gene, die einen – jeweils minimalen – Einfluss auf das Temperament und die Konzentrationsfähigkeit des Menschen haben. Diese sind mithin auch keine Krankheitsgene, vielmehr gehören sie zur natürlichen Ausstattung des Menschen. “ADHS ist ein Extrem einer Persönlichkeitsvariante, das zunächst einmal gar keinen Krankheitswert besitzt”, bestätigt auch Klaus-Peter Lesch. Diese milden Ausprägungsformen von ADHS seien in einem Fünftel der Bevölkerung vorhanden und hätten sich im Laufe der Evolution des Homo sapiens immer wieder als vorteilhaft durchgesetzt. Lesch: “Der hohe Energiepegel, der Enthusiasmus, sich mit einer Sache auseinanderzusetzen, die große Kreativität, die Fähigkeit zum Querdenken und der Gerechtigkeitssinn – all das sind Ressourcen, die für unsere Gesellschaft wichtig sind.” zu finden in dem Artikel des ADHS-Gegners Jörg Blech im Spiegel: MEDIZIN: Psychopille & Pausenbrot – DER SPIEGEL 26/2013
Der evolutive Vorteil von ADHS-Genen ist im Ausmaß abhängig von den Umweltbedingungen. So gibt es Länder, Ethnien und Kulturen, die ADHS-Gene und ADHS evolutiv begünstigen (während andere es entsprechend benachteiligen). So erklären sich auch die in Wahrheit weltweit deutlich unterschiedlichen Prävalenzen von ADHS, die macherorts wahrscheinlich ein Mehrfaches der bis zu 10% in Deutschland erreichen. Zusätzlich zum Faktor evolutive Selektion kommt dann bei den ADHS-Prävalenzen noch der Faktor geographische Isolation hinzu, so auch betrffend wahrscheinlich die Inseln bzw. Inselgruppen Island, Kreta und Japan .
Dass die Umweltbedingungen des 21. Jahrhunderts ADHS verstärkt von der Latenz in den sichtbaren Bereich rücken, versteht sich ebenfalls.
So viel zur Evolutionären Anthropologie der ADHS.
Was die Akzeptanz von ADHS erschwert, ist der sperrige Begriff aus 4 Großbuchstaben. Der Begriff “Autismus” (hier noch erwähnenswert: bis zu ca. 50% der Patienten mit Asperger sollen ebenfalls ADHS haben) z.B. ist viel weniger sperrig und flüssiger.
Es wird mitunter von ADHS-Gegnern diverser Couleur argumentiert, dass sich hinter ADHS diverse andere Psychische Störungen verbergen können und es ADHS somit quasi gar nicht gäbe. Die Wahrheit ist viel eher: Hinter FAST allen anderen Diagnosen in der Psychiatrie KANN sich ADHS als kausale oder komorbide Störung verbergen. So auch z.B. die Prognose von Russel Barkley , dem weltweit renommiertesten Wissenschaftler zu ADHS , dass sich das ADHS-Spektrum irgendwann einmal als das zentrale Thema in der Psychiatrie insgesamt herausstellen wird.
Man muss dazu noch sagen, dass bei einem Geschlechterverhältnis von in Wahrheit 1:1 und einer Persistenz von zumindest einer Restsymptomatik in in Wahrheit 100% der Fälle die Prävalenz von ADHS in Deutschland bis zu 10% der Bevölkerung beträgt.
Natürlich ist ADHS nicht Alles-oder-Nichts, sondern eine dimensionale wie auch eine kategoriale Angelegenheit, d.h. es gibt ganz leichte und ganz schwere Fälle und es gibt auch bei ca. gleichem Schweregrad Unterschiede auch in der Neurobiologie. Zudem KÖNNEN (nicht müssen) FAST alle anderen Störungen der Psychiatrie bei ADHS als Komorbidität vorkommen. Z.B. wird geschätzt, dass mehr als 1/3 der Patienten mit Schizoaffektiver Störung / Schizophrenie ebenfalls ADHS hat, bei Depression, “Burnout”, Borderline, Alkoholismus etc. ist es ähnlich.
Der angeborene Part bei den multifaktoriellen Erklärungsmodellen zur Pathogenese Psychischer Erkrankungen geht auch mehr und mehr zu den Hirnentwicklungsstörungen und ADHS ist die mit Abstand häufigste Hirnentwicklungsstörung aufgrund der evolutiven Vorteile, die ADHS-Gene bzw. mitunter auch phänotypisch manifestes ADHS haben können.
So viel zu der Frage, ab wann ADHS eine Krankheit und keine Persönlichkeitsvariante mehr ist…
...die anderen Hirnentwicklungsstörungen dürften wahrscheinlich, so anscheinend der Stand der Forschung, durch ähnlich viele Gene mitbedingt sein (500 bis 1000 bis mehrere 1000, der Mensch hat nur ca. 20 000 Gene) wie ADHS. Zur Genetik von ADHS empfehle ich weiter einen Gastbeitrag von Prof. Andreas Reif, dem Chef der Unipsychiatrie Frankfurt von neulich in der FAZ, wo er all das erklärt...
zu guter letzt: beim Outcome von ADHS den Faktor Sozialisation nicht vergessen. Der hat nämlich eine quasi überragende Rolle...
Von dieser Schrotflinten-Theorie des Herrn Lesch halte ich gar nichts. Was soll das heißen, ADHS hat per se keinen Krankheitswert? Das ist doch vollkommen hahnebüchern. Ich schlage deshalb vor, dass Du Dich oder wir uns statt dessen präferierend mit den Studien von Prof. Max Muenke beschäftigen, der die an ADHS massgeblichen Gene auf etwa 4 bis 5 eingegrenzt hat.