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RE: Charakter - Stärke oder Charakter - Schwäche

in #deutsch7 years ago

Da das zuvor leider ohne Resonanz geblieben ist, dann hier noch:

To be or not to be - Sein oder nicht sein - die Entscheidungen, die wir treffen:

Der berühmteste aller Sätze, den man mit William Shakespeare, dem berühmtesten aller Dramatiker überhaupt, in Verbindung bringt, ist zweifelsohne "To be or not to be" oder zu deutsch "Sein oder nicht sein". Dieser Satz steht sinnbildlich für ein zentrales dramaturgisches Element der Shakespeare-Dramen: die Erzeugung von Spannung und Dramatik durch weitreichende Entscheidungen der jeweiligen Protagonisten, die Entscheidung für Gut oder Böse, für Leben oder Tod, für Rache oder Vergebung, für das eigene Fortkommen oder den Heldentod, für den Thron oder gegen den Thron (so eben Hamlet bei der Frage, für den Thron oder dagegen - Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage). Shakespeare war ein Genie, wenn auch nicht das erste der Geschichte. Mit realer Wahrscheinlichkeit hatte Shakespeare ADHS oder war zumindest im erweiterten Sinne dem ADHS-Spektrum zuzurechnen. Der Satz von Cordula Neuhaus , Betroffene mit ADHS seien die einzigen genuin kreativen Menschen überhaupt, ist definitiv nicht aus der Luft gegriffen und deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Mein Bruder ist kreativ, hat aber nur ADHS in rudimentärer Ausprägung. Man kann auch komplett ohne ADHS kreativ sein - mit ADHS ist man kreativer oder sagen wir: Das jeweilige literarische, graphische oder sonstige Talent ist die Substanz, ADHS ist der Katalysator. Wie auch immer, ADHS zieht sich wahrscheinlich als Roter Faden durch die Geschichte der Literatur und Dramatik , Goethe und Schiller mit Sturm und Drang , Hesse , Mark Twain , Tolstoi , Balzac - ADHS kann man eben nur riechen, wenn man es mehr oder weniger selber hat. Wie auch immer, Shakespeare war nicht das erste Genie der Dramaturgie und schon bei Griechen und Römern gab es in den Theather-Vorstellungen eine ausgefeilte, hochklassige Dramaturgie und in der modernen Version der Römer-Dramaturgie, dem cineastischen Evergreen "Gladiator" mit Russel Crow wählt der moralisch verkommene Besitzer der Gladiatoren-Schule im alles entscheidenden Moment statt persönlichem materiellem Reichtum den Heldentod und immer wieder geht es auch sonst in der Dramaturgie um die Entscheidungen, die wir treffen, eben "to be or not to be" ... so etwa Darth Vader im alles entscheidenden Moment, als er sich für den eigenen Sohn und gegen den bösen Imperator entscheidet usw. usw.

Wie komme ich nun von Shakespeares "to be or not to be" auf ADHS? Auch ich als Betroffener mit ADHS finde mich (wie alle anderen Personen auch) immer wieder und jeden Tag vor Entscheidungen gestellt, die ich treffen muss, insbesondere auch moralischer Art. Und ich treffe Entscheidungen, die richtig sind und ich treffe welche, die ich im Nachhinein bereue.

Ich bin jemand mit ADHS, der eine zwar nicht gänzlich reibungslose, aber dennoch relativ unproblematische Sozialisation durchlaufen hat. Ich wuchs nicht auf in total verwahrlosten Zuständen in einem rumänischen Kinderheim der 80er/ 90er, ich wurde nicht als Kind sexuell missbraucht, ich habe keine relevanten Gewalterfahrungen in der Kindheit erleiden müssen, keine Drogen, Alkohol, kein gar nichts. Kurzum: ich wuchs insgesamt geborgen und behütet in einer normal wohlhabenden Familie auf. Ich bin nun als Erwachsener nicht persönlichkeitsgestört, traumatisiert oder drogenabhängig und ich habe eine normale Persönlichkeit entwickeln können. Ich bin aufgrund meiner normalen, unbelasteten Persönlichkeit somit auch nicht biographisch bedingt in meinen zukünftigen Handlungen in unheilvolle Bahnen gelenkt. Kurzum: Ich habe es selbst in der Hand, wie ich mich jeweils entscheide. Für ca. 70% aller mit ADHS Betroffenen dürfte das ähnlich gelten. Somit haben wir die Verantwortung für unsere Entscheidungen.

Ich habe jedoch an mir selbst festgestellt, dass wir Gewohnheiten entwickeln können, wie wir uns entscheiden. Das heißt, wir entscheiden uns gewohnheitsmäßig und konditioniert in dem Kontext tendenziell oder gar immer für die eine Seite - nicht weil wir es nicht anders könnten, sondern weil wir es so gewohnt sind und wir somit gar nicht mehr auf die Idee kommen, uns in der jeweiligen Situation anders zu entscheiden. Und je länger eine Gewohnheit andauert, desto ununmkehrbarer ist sie am Ende. Ich will an der Stelle ein paar Beispiele nennen:

-der Roma-Bettler in der Fußgängerzone:
Ich hatte die Wahl, ob ich den Roma-Bettler aggressiv auf den Sozialstaat und HartzIV hinweise und ihn aggressiv auffordere, das Land zu verlassen oder ob ich mir Kommentare verkneife und mir klarmache, dass ich diese Person des Roma-Bettlers in all ihren Facetten und Hintergründen nicht kenne und ihm da möglicherweise Unrecht tun würde.

-der herum gammelnde Flüchtling aus Schwarzafrika abends in der Döner-Bude am Bahnhof am Spielautomaten:
Ich hatte die Wahl, ob ich mich in dieser Situation innerlich in eine aggressive Anti-Flüchtlings-Stimmung hinein steigere oder ob ich mir sage, na und.

-diverses erlittenes Unrecht:
Ich hatte und habe die Wahl, ob ich in vielen Situation statt den Weg der Rache und Vergeltung mir vornehme, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen.

-Lästern über andere Leute mit all ihren Fehlern:
Ich hatte und habe die Wahl, ob ich in diversen Situationen über andere Leute und ihre Fehler lästere oder ob ich mir vorher überlege, ob ich tatsächlich einen Grund dafür habe.

-Das kalte Herz (wie bei Willhelm Hauf):
Ich hatte und habe die Wahl, ob ich mir vorsätzlich Empathie, Gefühle, Mitleid und Wärme in meinem "Herzen" abtrainiere, um mir einen Panzer zuzulegen gegen die Härten des Lebens. Wer ein kaltes Herz hat, der fühlt keinen Schmerz - aber er fühlt auch keine Freude
bzw. ich habe die Wahl, ob ich gegenüber meinem vor knapp über 2 Tagen verstorbenen Opa Gefühle wie Trauer, Mitleid und Schmerz zulasse oder ob ich ganz offen auf die massiven materiellen Vorteile eines früher als erwarteten Ablebens meines Opas hinsichtlich Erbschaft und Pflegefall gespart schiele...

Es ist quasi immer so, dass bei ADHS ohne allzu gravierend problematische Sozialisation (jeder ADHSler hat Probleme in der Sozialisation, klar, aber das ist relativ, im Vergleich mit Missbrauchsopfern, Trauma-Erfahrenen bin ich wie das Gros der ADHSler glimpflich davon gekommen) der ADHSler sehr affin ist zu Moral und menschlicher Wärme. Das liegt schon in der Persönlichkeit bei ADHS. Ich persönlich hasse Gutmenschen, aber ich würde mich von meiner Primärpersönlichkeit tatsächlich als guten Menschen bezeichnen und wenn man sich dann quasi vorsätzlich auf den Weg in Richtung Schlechtmensch begibt, irgendwann ruft eine laute Stimme aus dem Off: Das bist nicht Du! An dem Punkt ist es Zeit, Halt zu machen und zu sich selbst zu finden... To be or not to be, alleine wir entscheiden!

Sort:  

Diese Szene aus Star Wars kennt jeder, aber sie macht das mit dem to be or not to be etwas plastischer und greifbarer:

ADHS und Charakter - es gibt Menschen, für die tue ich intuitiv und quasi automatisch alles ... und dann gibt es Leute, die sind mir "nicht so wichtig" ... Aufopferungsbereitschaft und Selbstlosigkeit und das sich nicht Verbiegen lassen auf bestimmte Personen eingrenzen, möglicherweise ist das eine Option... ob das in der Praxis umsetzbar ist, darauf kenne ich bisher keine eindeutige Antwort...

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