Modelle der Wahrnehmung

in #deutsch4 years ago

Es gibt verschiedene Blickwinkel aus denen heraus man sein Leben betrachten kann. Je nach dem "wie man es sieht" erscheint die Welt als ein heller oder dunkler Ort. Frisch verliebte würden die Welt am liebsten umarmen, Depressive sehen nur grau und schwarz. An der eigenen Sichtweise muss also etwas sehr mächtiges sein, wenn sie die Welt (die eigene Realität) so grundsätzlich verändern kann.

Hier werden vier grundsätzliche Modelle vorgestellt, aus denen heraus man Wirklichkeit betrachten kann.

Das dingliche Modell

Ich bin ein Ding: Bei diesem Modell gibt es im Grunde nur zwei Dinge, mich selbst und die Welt. Mein Körper hat klare Grenzen und so gibt es eine klare Trennung zwischen mir und der Welt.

Trennung und Begrenztheit sind die beiden Grunderfahrungen.

Dinge sind in diesem Modell der Ursprung von allem, aus Dingen ist alles entstanden, man steckt selbst in einem Ding (Körper) und die Gedanken die man denkt, werden auch von einem Ding (Gehirn) erzeugt. „Ich bin ein Ding“ denkt man nicht, es ist vielmehr die Grundlage für alle Gedanken die man denkt.

Es ist ein harmloses Modell, man kümmert sich nur um die Dinge, die man zum Überleben braucht. Mehr nicht.

Ein Ding zu sein erscheint doch etwas wenig, wie wär´s mit etwas mehr…?

Das haben Modell

Ich bin was ich habe: In diesem Modell bezieht man sein Ich-Gefühl aus den Dingen die man hat. Materielle Dinge, Körper, Bildung, Geld, Glaube, Überzeugungen – alles was mir gehört, wird zu einem Teil von mir.

In der Annahme mit mehr Dingen an mehr Glück und mehr Zufriedenheit zu gelangen, strebt man ständig nach mehr und hat doch gleichzeitig Angst, etwas von dem was man schon hat wieder zu verlieren.

Habenwollen, Angst, Trennung, und Begrenztheit sind die Grunderfahrungen.

Recht haben erscheint äußerst wichtig, weil die eigenen Ansichten als ein Teil vom Ich erlebt werden. Nicht recht zu haben wäre so, als müsste man etwas von seiner "Habe" hergeben. Im Extremfall entscheidet man sich sogar dafür, lieber recht zu haben als zu überleben.

Gleiches gilt für den Glauben. Man glaubt an eine bestimmte Religion, Philosophie, Wissenschaft oder auch an gar nichts. Im Besitzt des rechten Glaubens fühlt man sich dazu legitimiert, Menschen mit anderen Sichtweisen herabzusetzen, zu verurteilen oder ihnen sogar Leid zuzufügen.

Beziehungen auf Basis des Haben-Modells können durchaus funktionieren, so lange man glaubt die Liebe des anderen zu haben. Ansonsten neigen Haben-Partner zu übertriebener Eifersucht, sind besitzergreifend, einschränkend, kontrollierend und manipulierend.

Auch Zeit wird als begrenzt erlebt. So glaubt man zu wenig Zeit zu haben, fühlt sich unter Zeitdruck, verliert sich in vergangenen oder zukünftigen Ereignissen und ist nur selten da wo man wirklich ist.

Unbewusst - für dieses Modell entscheidet man sich nicht bewusst, es wird vielmehr von den Eltern, der Gesellschaft oder den Medien übernommen.

Kein Mensch der lebendig sein will, würde es freiwillig wählen.

Wie wir man es wieder los? Die Frage bringt uns zum nächsten Modell.

Das Filter Modell

Bei diesem Modell geht man davon aus, dass man nicht 1:1 auf die Welt schaut, sondern durch eine Reihe von Filtern blickt. Die Wirklichkeit die man wahr-nimmt, muss deshalb nicht unbedingt mit dem übereinstimmen was wirklich ist.

Was sind Filter?

Filter sind unter anderem all unsere Überzeugungen, Meinungen und Vorurteile. Sie lassen bestimmte Informationen durch, andere werden blockiert oder so verändert, dass sie mit dem Filter wieder übereinstimmen. Wenn man zum Beispiel glaubt, Regen sei schlechtes Wetter, so wird diese Einstellung zuverlässig verhindern, Regen auch mal als schön zu erleben.

Mit Abstand die meisten Filter haben wir in den Bereichen Religion, Sexualität und Beziehung.

Wie erkennt man seine Filter?

Standpunkte die so scheinen als wäre man damit besser als andere, wenn man sich als menschlich oder moralisch überlegen fühlt, wenn man glaubt seine Meinung unbedingt verteidigen zu müssen, sind Anzeichen für einen aktiven Filter.

Vera F. Birkenbihl hat eine Checkliste entwickelt, anhand derer man Filter, Viren des Geistes wie sie es nennt, erkennen kann. Um so mehr Punkte zutreffen, desto wahrscheinlicher ist ein Filter aktiv.

  • Widerspricht es meinem Glauben?
    (Er liegt falsch – was ich glaube ist gut, richtig, wahr)

  • Ist es tugendhaft?
    (Ist es tugendhaft/anständig so darüber zu denken wie ich es tue)

  • Handelt es sich um ein Tabu?
    (Ist das zentrale Thema tabu oder kann man offen darüber reden)

  • Löst es Intoleranz/Ärger aus?

Nehmen wir an, jemand hätte vor 100 Jahren behauptet, Sex vor der Ehe sei in Ordnung. Dies hätte dem Glauben der Leute damals widersprochen, es wäre unanständig gewesen so zu denken, das eigentliche Thema war Tabu und selbstverständlich hätte es Intoleranz (gelinde gesagt) ausgelöst.

Warum sollte man sich überhaupt die Mühe machen?

Um so mehr Filter man bei sich erkennt, um so klarer wird der Blick und um so mehr verschwinden auch die Grunderfahrungen von Habenwollen, Angst, Trennung und Begrenztheit. Mit der Zeit verändert und erweitert sich die Sichtweise.

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So ist zum Beispiel die Strichfolge im Bild links immer die gleiche und doch erscheint sie einmal als Buchstabe B und einmal als die Zahl 13.

Sieht man nur eine durch Meinungen/Filter begrenzte Wahrheit, dann ist B richtig, 13 ist falsch oder umgekehrt.

Im Filter-Modell kann B und 13 gleichzeitig wahr sein, es geht nicht mehr um richtig oder falsch.

Aus dieser Perspektive legt man auch nicht mehr viel Wert darauf Recht zu haben, Menschen mit anderen Meinungen haben eben nur andere Sichtweisen/Filter und das ist viel interessanter.

So ist der eigene Glaube nicht mehr allgemein verbindlich, sondern dient lediglich der eigenen Orientierung, die man für sich gewählt hat. Grundsätzlich nimmt man seine Überzeugungen und Standpunkte nicht mehr so wichtig, weil das Ich-Gefühl nicht länger davon abhängt. Und dies hat einen sehr befreienden Nebeneffekt: was andere glauben oder denken, ist dann auch nicht mehr so wichtig.

In Situationen in denen man bisher keine Wahl hatte, kann man plötzlich wählen. Sagte jemand "Idiot" musste man sich ärgern, man hatte keine Wahl. Wie bei einer Marionette, jemand zieht den Faden und schon hebt sich der Arm. Das Filter-Modell trennt diese Fäden.

Das kreative Modell

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Bei diesem Modell ist die Welt nicht aus sich selbst heraus da, sondern wird durch den kreativen Prozess der eigenen Wahrnehmung mit erschaffen. So ist man an der Entstehung der eigenen Realität unmittelbar beteiligt und mit ihr verbunden, so wie alles mit allem verbunden ist.

Die Gedanken haben ihre Herrschaft verloren, man ist im Sein und nicht mehr im Verstand verwurzelt. In diesem Modell geschehen Wunder - Liebe, Schönheit, Kreativität - um so mehr man gibt, um so mehr erhält man. Man lebt in der Welt und gleichzeitig lebt die Welt in einem.

Ab und zu im Leben geschieht es, das wir "ES" erleben dürfen. Es sind jene kostbaren Augenblicke in denen der Verstand ausnahmsweise nicht beteiligt ist.

Es ist der Moment in dem du dich verliebst und den geliebten Menschen zum erstem Mal in die Arme nimmst, der Moment in dem du nichts denkst und gleichzeitig weißt, der glücklichste Mensch auf der Welt zu sein. Es ist der Moment in dem du die Hand eines geliebten Menschen hältst, während dieser seinen letzten Atemzug macht, der Moment in dem du nichts denkst und gleichzeitig weißt, der traurigste Mensch auf dieser Welt zu sein. Es ist der Moment in dem Freude und Tränen zu EINS verschmelzen und du nichts denkst und gleichzeitig weißt, das Trauer und Glück aus der selben Quelle fliesen.

Diesen Text habe ich vor gut 15 Jahren geschrieben, die zugrunde liegenden Gedanken stammen unter anderem von Erich Fromm und Vera F. Birkenbihl. Wer Fr. Birkenbihl nicht kennt, in diesem Video (startet automatisch bei 19:50) spricht sie über die oben erwähnte Checkliste.

Den 100 Prozent dinglichen Menschen wird es wohl nicht geben, eben sowenig wie den rein Kreativen. Je nachdem, wechselt man auch zwischen den Modellen und wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Modelle und Möglichkeiten, als wir uns das heute vorstellen können.

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Lieber Andreas,
das ist ein sehr bereichernder Artikel.
Herzlichen Dank dafür!
Und lieben Gruß

Danke Werner für den positiven Kommentar, freut mich wirklich sehr!

Ja so früh am Morgen noch so guten Input. Mein Gehirn ist müde, doch durch diesen Artikel wieder wach geworden.

Hallo Andreas,
heute Morgen habe ich nur Zeit zum "Überfliegen" und dem kurzen Urteil "klasse Beitrag, der geteilt werden muss" gehabt. Tab offen gelassen, denn hier soll mehr als ein Vote kommen. Hm. Ich bin ja auch ein Freund des Perspektivwechsels und der Vermeidung von Beurteilungen im Austausch. Insofern ändert sich gar nichts an meinem ersten Urteil zu deiner Veröffentlichung und ich will gar nicht weiter schwallern... ;-)
Schwer interessieren würde mich noch, ob es einen bestimmten Anlass gab, weshalb du diesen Text vor 15 Jahren geschrieben hast.
Echter Mehrwert auf dem Steem - danke!
Liebe Grüße
Chriddi

Der Anlass war hauptsächlich mein damaliger Blog, dort hatte ich den Text veröffentlicht. Und natürlich auch, die eigenen Gedanken zu sortieren.

Kurze Geschichte zum Habenmodell: Im Frühsommer saß ich wieder mal vor der Almhütte die unser Verein gepachtet hatte, als Lektüre hatte ich mir Haben oder Sein mitgenommen. Vor mir eine schöne Blumenwiese und keine 5 Gehminuten entfernt, ein angelegter Blumengarten mit seltenen Bergblumen. Dann las ich den Unterschied Haben/Sein am Beispiel einer Blume am Wegesrand. Der Habenorientierte würde sie pflücken und mit nach Hause nehmen, der Seinsorientierte dagegen die Blume bewundern, sie "erleben" und dann weiterziehen. Das hat mich schwer beeindruckt und irgendwie will man solche Eindrücke dann auch weitergeben.

Ganz lieben Dank für deinen Kommentar, hast mir ein Lächeln auf's Gesicht gezaubert und ich will auch gar nicht weiter schwallern... ;-)

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Voten kann ich deinen Beitrag ja leider nicht mehr (ich habe bis heute nicht verstanden, weshalb ein Beitrag nur 168 Stunden lang Vote-zeugungsfähig sein darf...). Aber meinen Kommentar hast du herauf beschworen, jetzt schau, wie du ihn zurück in die Flasche (mich) bekommst. ;-)

Ein sehr schöner Bericht. Da muß ich in Ruhe nachlesen, zu welchem Modell oder zu welchen Modellen ich tendiere. Auf jeden Fall herausfinden, welche Filter man besser nicht benutzen sollte.

Hallo Jochen,

irgendwie hatte ich dich überhaupt nicht "am Schirm", habe gerade bei einen deiner Erinnerungen kurz reingeschaut, sehr interessant, die lese ich später auch mal in Ruhe. Jetzt gibt's nämlich Kaffee und danach Frischluft ;-)

Und ja, die lieben Filter - im Moment wird uns da einiges auf's Auge gedrückt.

Vielen Dank für's Vorbeischauen!

Das freut mich, daß wir uns "gefunden" haben. Bei uns gibts den letzten Spargel und Frischluft höchstens unterm Regenschirm.

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Einfach stark Andreas! Muss schon sagen Du haust schon wenn Du schreibst für den Steem immer einen Mehrwert raus. Weiter so!!

Liebe Grüße Michael

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Danke dir Michael und Respekt, früh am Morgen könnte ich solche Kost noch nicht verdauen ;-)

Sehr interessant und aufschlussreich, vor Allem ist man sich vieler Dinge gar nicht bewusst bevor man es gelesen hat.

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wunderbar geschrieben....bei punkt 4 fühlte ich mich zuhause :-)
tollen tag dir

Danke dir Elfe und meine Güte, ich hab dein 2jähriges übersehen schäm. Gratuliere zu deinem Durchhaltevermögen und... 70/5000 das packst du locker.

danke dir...naja,du bist ja auch sehr selten hier zu lesen,da bekommt man das dann auch nicht so mit :-)
und so schlimm war es ja nun auch nicht,kommt ja noch n weiteres jahr :-) lg dir

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