Nach-Wahl: Warum ich nicht über die Überraschung überrascht bin

Der große Wahltag ist vorbei, die Überraschung (für die meisten) perfekt: Der narzistische, unbeherrschte, lügende Fremdenhasser und "Frauenheld" ist de facto Präsident des mächtigsten Landes der Welt. Und alle Medien und Politiker stehen mit offenem Mund da.

Doch das ist nicht die Schuld der Wähler. Das ist die Schuld, ja, des Establishments.
Wenn man nämlich in den letzten Wochen über den eigenen Tellerrand hinaus geschaut hätte - oder neudeutsch aus der eigenen Filterbubble in die Bubble der anderen - dann wäre es nicht so überraschend gewesen. Ich selbst habe Trump eine gute Eindrittelchance gegeben.

Am schlimmsten aber finde ich, dass alle so tun als wäre etwas nie dagewesenes passiert. Ich will hier keinen Hitler oder Berlusconi bemühen, ganz im Gegenteil. Ich rede hier von atkuellen Ereignissen.
Brexit, die Unterstützung die Erdogan im eigenen Volk hat, die AfD und jetzt eben auch Trump.

In den Medien und von den meisten Politikern werden diese Menschen gern als "Abgehängte" klassifiziert, denen man nur die Wirklichkeit besser erklären muss. Wenn man aber so an die Sache herangeht, macht man es sich viel zu einfacher, womöglich sogar noch einfacher, als wenn man "Ausländer sind an allem Schuld" sagt.

Denn mit diesen Abgehängten sind meist die "Lumpenproletarier" gemeint. Die sind aber sowohl bei Trump als auch der AfD gerade NICHT die Kernwählergruppe. Es sind vor allem die Menschen, die bisher zu den Kernwählern der Konservativen zählten.
Arbeiterklasse, die nicht SPD gewählt haben.
Mittelstand, die nicht Grüne gewählt haben.
Diese Gruppe ist es, die den Neurechten Bewegungen Aufschwung verschafft.
Und sie als dumm oder uninformiert oder einfach nur fremdenfeindlich hinzustellen, ist Selbstmord, wie Hillary feststellen musste.

Denn in ihrer eigenen Filterbubble, in ihrem eigenen Weltbild sind diese Menschen durchaus informiert, realistisch und logisch. Dabei ist es egal, ob es sich um den Mittelstand handelt, dem von den oberen 10 Prozent die Hälfte des alten Wohlstandes genommen wurde, und der jetzt Angst hat, dass die Flüchtlinge auch noch die andere Hälte stehlen. Es ist egal, ob es sich um Abtreibungsgegner in den USA handelt, die auf die Straße gehen um Leben zu retten. Es ist egal, ob es sich um Leute handelt, die nicht von Terroristen in die Luft gesprengt werden wollen und jeden Vollbertträger am liebsten vorsichtshalber einsperren würden.
Es ist auch egal, ob es sich im die Machteliten handelt, die denken, sie steuern die Welt. Oder um Latteschlürfende Mütter mit veganem Kinderwagen, die gegen die Massentierhaltung auf die Straße gehen.

Sie alle eint eines: Sie halten ihr Weltbild für stimmig und ihre Probleme für die Wichtigsten und ihre Lösungen für die einzig funktionierenden.
Und in alle Fällen sind es die vermutlich einfachen Lösungen, die sie propagieren. Die Lattmütter sagen: Hört einfach auf Fleisch zu essen. Die Abtreibungsgegner sagen: Hört auf, Kinder zu ermorden. Die Trump-Fans sagen: Ihr 10 Prozent, hört auf, uns zu betrügen. Die Brexiter sagen: EU, hör auf uns zu bevormungen.

Ich sage: Hört auf, alle anderen für Idioten zu halten. Die Welt kracht an allen Ecken und Enden, und wer Heil verspricht, dem werden sie folgen. Weil Menschen so sind. Aber deswegen sind sie keine Idioten, sondern nur Menschen. Behandelt sie so. Hört ihnen zu. Nein, nicht nur hören, versteht sie. Redet mit ihnen.

Sie mögen Idioten sein. Sie mögen objektiv im Unrecht sein. Geschenkt! Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass ihr es auch seid.
Hört ihnen zu. Ich meine richtig zuhören, und nicht nur das hören, von dem ihr denkt, was sie sagen.
Redet mit ihnen.
Prüft ersthaft, wo sie Recht haben - sowohl objektiv als auch subjektiv.
Überlegt, was das bedeutet. Dann werdet ihr vielleicht beim nächsten Mal nicht überrascht sein.

Man habe die Radikalität unterschätzt, mit der Wähler bereit seien, aus ihrer persönlichen Situation die Konsequenzen zu ziehen.
Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses