Rockmusik: Der geheime Geigerzähler der gesellschaftlichen Stimmung

in #deutsch5 years ago (edited)

nina hagen live halle.jpgCynthia Frisby von der journalistischen Fakultät der Universität von Missouri in Columbia muss recht erstaunt gewesen sein, als sie nach der Analyse von immerhin 400 von mehreren tausend Texten von Liedern aus der Hitparade der Jahre 2006 bis 2016 feststellte, dass in netter Popmusik ähnlich häufig Anspielungen auf Gewalt stecken wie in Rap- oder Hip-Hop-Songs.

Zwar werde bei Rap und Hip-Hop häufiger mit Obszönitäten gearbeitet. Bei Anspielungen auf Gewalt aber lägen die Texte der Pop-Songs gleichauf. Nur Country-Musik unterschied sich deutlich, so die Forscherin. Hier gebe es die wenigsten gewaltverherrlichenden oder frauenfeindlichen Inhalte.

Popkultur als Gradmesser für Politik und Gesellschaft

Das aber hat Tradition. Denn Musik, gerade Popmusik in allen ihren Spielarten, lässt sich stets auch als Landkarte gesellschaftlicher Befindlichkeiten lesen, wie eine neue Studie der beiden Pop-Forscherinnen Kathleen Napier und Lior Shamir von der Lawrence Technological University in Michigan belegt.

Die Wissenschaftlerinnen hatten für etwas, das sie in einem Beitrag für das Journal of Popular Music Studies „quantitative Gefühlsanalyse“ nennen, Songtexte aus dem Jahr 2018 mit denen aus früheren Jahrzehnten verglichen, um herauszufinden, ob der Kalte Krieg, die Entspannung oder die direkte Konkurrenz von verschiedenen Staaten wirtschaftlichem Gebiet sich in Poptexten niederschlägt.

Über 6 000 Texte erfolgreicher Songs seit den 50er Jahren wurden untersucht, bewertet wurden nicht einzelne Zeilen, sondern mit Hilfe einer automatischen Analyse durch Algorithmen die Stimmung, die in den Texten zum Ausdruck kommt. Anschließend fassten die Wissenschaftlerinnen die Top-100-Songs eines Jahres zu einem Durchschnitt zusammen, um die Stimmungen über die Jahre hinweg vergleichen zu können.

Popmusik wird seit Jahren wütender und pessimistischer

Das erstaunliche Ergebnis: Nach der von Popmusik transportierten Grundstimmung geht es mit der guten Laune in der Gesellschaft schon seit Jahren immer weiter bergab. Deutlich sei bei der Untersuchung geworden, dass die Songs der 50er Jahre insgesamt am wenigsten zornig oder wütend waren, seitdem aber alle Wutregler fast beständig weiter nach oben gingen.

Auffallend fanden Kathleen Napier und Lior Shamir nur eine kurze Phase zwischen 1984 und 1986 und eine weitere Mitte der 90er Jahre, als Rock- und Pop-Interpreten überwiegend auf fröhliche und freundliche Inhalte setzten. Nach der ersten Enttäuschung aber, dass das Ende des Kalten Krieges nicht etwa Wohlstand für alle und Frieden überall brachte, sondern islamischen Terrorismus, Erklärungen zur Alternativenlosigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems und besorgniserregende Nachrichten von der Klimafront, begannen Liedtexte beständig, immer wütender, trauriger und ängstlicher zu werden.

Optimistische Songtexte: Höhepunkt in den 1970ern

Freude dagegen und Optimismus, in den Songtexten der ersten Rockmusik-Generation der 50er Jahre noch die alles überstrahlenden Gefühle, erreichten bereits Mitte der 70er Jahre ihren Höhepunkt. Seitdem geht es bergab, während Traurigkeit, Abscheu und Angst in Wellenbewegungen wachsen.

Angst etwa sei bis Mitte der 80er Jahre beständig gestiegen, ehe sie um 1988 stark zurückging, also noch vor dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges. Der nächste Anstieg folgte dann Ende der 90er Jahre, wiederum scheinen Pop-Autoren hier sensible Antennen gehabt zu haben, denn einen Grund für die Angst lieferte erst der 11. September 2001.

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