Der Maueröffner: Wie ein DDR-Oberstleutnant auf eigene Faust den Kalten Krieg beendete

in #deutsch5 years ago

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Drei Jahrzehnte lang glaubte Harald Jäger an den Sieg des Sozialismus. In der Nacht des 9. November vor 30 Jahren aber wurde der Stasi-Oberstleutnant zum Totengräber seiner DDR. Gegen seine Befehle öffnete er die Mauer in Berlin.

Als ihre Welt zusammenbricht, sitzen sie gerade beim Abendessen in der Wirtschaftsbaracke, die Männer von der Passkontrolleinheit Bornholmer Straße. Es ist der Abend des 9. November 1989, und obwohl am GÜST genannten Grenzübergang "erhöhte Einsatzbereitschaft" befohlen wurde, herrscht entspannte Stimmung. Das Wetter ist schlecht, es gibt kaum Tagestouristen, die aus Berlin, Hauptstadt der DDR, zurückwollen in die "selbständige politische Einheit Berlin (West)", wie es im DDR-Duktus heißt. Leere auf den 16 Monitoren, vor denen die beiden Fahndungsoffiziere sitzen. Leere auf den Autospuren.

mauer 2.JPGOberstleutnant Harald Jäger, an diesem Abend Chef der Passkontrolleure, die in Wirklichkeit dem Ministerium für Staatssicherheit unterstehen, hängt beim Essen seinen Gedanken nach. Es sind schwere Tage für die DDR, an die der 46-Jährige immer noch glaubt. Staatschef Erich Honecker ist zurückgetreten. Auf den Straßen marschiert die Opposition. In Massen fliehen die Leute aus dem Teil Deutschlands, der eigentlich, davon war Harald Jäger ein Leben lang überzeugt, Vorposten einer besseren Zukunft sein sollte.

Jäger kaut ein Brötchen, als ihm ein Satz ins Ohr beißt, der eben aus dem Kantinen-Fernseher geflattert ist: "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR erfolgen", haspelt SED-Politbüromitglied Günter Schabowski gerade in die Kamera. Und in Jägers Aufhorchen hinein ergänzt der Mann, der eine "Wende" organisieren will, stolpernd: "Das tritt nach meiner Kenntnis . . ., ist das sofort . . . unverzüglich."

Harald Jäger, Sohn eines Schmiedemeisters und seit 28 Jahren Grenzschützer, ist der einzige im Raum, der die Tragweite der Worte auf Anhieb erkennt. "Der Schabowski spinnt", flucht Jäger, "der hat gerade verkündet, dass die Grenzen offen sind."

Sind sie natürlich nicht. Draußen vor der Tür sieht Harald Jäger das seit Jahren gewohnte Bild. Der Schlagbaum ist dicht. Betonblöcke verstellen Flüchtlingen den Weg. Ein zwei Meter hoher Zaun sperrt Fußgängern den Zugang. Und sollte etwas sein, weiß Jäger, liegen in der Dienstunterkunft vier Kalaschnikow-Maschinenpistolen.
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Doch heute Nacht, das ahnt Harald Jäger seit Schabowskis überraschender Ankündigung, werden alle Waffen, Alarmpläne und Absperrungen nichts nützen. "Mir war klar, die ganze Führung ist kopflos", erinnert er sich, "und wir hatten keine Weisungen." Was heißt "sofort"? Sollen sie alle einfach rauslassen? Die meisten DDR-Bürger haben doch aber nicht einmal einen Pass. Und die Passkontrolleure keine Stempel, mit denen sie Visa erteilen könnten.

Jäger ruft seinen Vorgesetzen an. Stasi-Oberst Rudi Ziegenhorn telefoniert mit Erich Mielkes Stellvertreter Neiber. Und teilt anschließend mit, dass Schabowskis Gestammel einfach Quatsch sei.

Aber einer wie Jäger, der schon im Sommer 1961 als 18-jähriger Grenzpolizist Posten stand, als die DDR ihre Bürger einmauerte, ahnt, dass die Zentrale irrt. Schon sammeln sich die ersten Neugierigen auf dem Platz vor der GÜST, die in der Bornholmer Straße eine Brücke ist. Noch stehen die Menschen nur da, eine Handvoll, eher ängstlich als renitent. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass es mit jeder Minute mehr werden und dass sie näher heranrücken an die Grenze, die zu verteidigen Jäger knapp drei Jahrzehnte zuvor aus innerer Überzeugung geschworen hat.

Er war überzeugt, das Richtige zu tun. Der Vater des gebürtigen Bautzeners kam aus der Gefangenschaft und wurde Grenzsoldat. Der Faschismus dürfe nie wiederkommen, sagt er seinem Sohn. Der wird deshalb als "Kommunistenbengel" gehänselt - und beschließt, das als Ehrentitel zu nehmen. Harald Jäger lernt Ofensetzer und er lernt ein Mädchen kennen. Dessen Vater, ein hohes Tier in der Partei, bringt ihn beim Ministerium für Staatssicherheit unter. Hier wird Jäger zwar nicht wie in seinen Kinderträumen als Kundschafter gebraucht. Aber getarnt mit einer Grenztruppen-Uniform macht der Sachse Stasi-Karriere: Er wird Offizier, wird zum Studium geschickt, er ist für Höheres vorgesehen.

Nur tief drinnen im glücklich verheirateten Vater dreier Kinder nagen leise Zweifel. Kann es Recht sein, dass Staatsfeinde keine Rechte haben, fragt sich der studierte Jurist dann. Und warum hat DDR-Chef Honecker plötzlich den Abbau der Selbstschußanlagen an der Grenze angekündigt, obwohl es immer hieß, die gebe es gar nicht?

Harald Jäger diskutiert sein Bauchgrimmen nur in der Familie. Er ist kein Widerständler, kein Revoluzzer, sondern ein Rädchen, das zuverlässig funktioniert.

Bis jetzt, wo er mit dem Rücken zur Mauer steht. Keine Partei ist da, die eine Direktive gibt, kein Genosse, der die Verantwortung übernimmt. Vor sich hat Harald Jäger eine Menge, die "Tor auf" ruft. Seine Offiziere schauen ihn hilfesuchend an. Um 23 Uhr ist die Bornholmer schwarz vor Menschen. Sie stauen sich am Schlagbaum, drücken gegen den Zaun. Von Ziegenhorn kommt die Anweisung, die "schlimmsten Radaubrüder" rüberzulassen. Und nie mehr zurück.

Harald Jäger ist zum ersten Mal allein mit seinem Gewissen und dem Befehl, den er bis hierher als Lebensinhalt begriffen hat: Die Grenze zu sichern. Um jeden Preis. Um jeden Preis? Soll er schießen lassen? Und dann? Einen Kampf kämpfen, der längst verloren ist?

Harald Jäger schüttelt den Kopf. Kurz nach 23 Uhr lässt er Stempel und Visa-Unterlagen vom Posten sichern, ein deutscher Offizier, korrekt noch in der Kapitulation. "Wir stellen die Kontrollen ein", befiehlt der Oberstleutnant dann und er ist sicher, dafür vor dem Militärgericht zu landen. Sekunden später geht der Schlagbaum hoch. Es spielt keine Musik, es knallt kein Feuerwerk. Die Mauer ist gefallen, und Harald Jäger hat sie eingestürzt, auf eigene Faust und gegen seine Befehle. Staunend sieht der Held mit dem Stasi-Dienstausweis jetzt tanzende, lachende Menschen an sich vorüberziehen.

ANTIFASCHISTISCHER SCHUTZWALL

Im Juni 1961 prägte Walter Ulbricht den Namen für das Bauwerk, das noch gar nicht stand: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", versicherte der DDR-Staatschef. Zwei Monate später begannen unter dem Schutz von zehntausenden Soldaten und Volkspolizisten die Bauarbeiten für den "Antifaschistischen Schutzwall".

Westliche Nachrichtendienste hatten die unter höchster Geheimhaltung ablaufenden Vorbereitungen zwar enttarnt, hielten aber einen wirklichen Mauerbau für unmöglich. Während Ostberlin zur Tat schritt und nach außen behauptete, "an der Westberliner Grenze der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers den Weg zu verlegen", erfuhren ausgesuchte Parteisekretäre bei einer Konferenz im ZK der SED schon am Vorabend die Wahrheit: Der ständig steigende Flüchtlingsstrom mache es erforderlich, die Abriegelung des Ostsektors durchzuführen.

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