Perlen der Literatur – „Was ist Seele?“ von Bertrand Russel – Essay

in #deutsch6 years ago

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Werte Steemis,

eure Schonzeit ist vorüber!

Zu den Perlen der Literatur gehört sicher auch Bertrand Russels Buch „Lob des Müßiggangs“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Aus diesem Buch möchte ich euch heute ein kurzes Essay vorstellen „Was ist Seele?“.

Die beklemmende Klarheit dieses Essays ist für manchen Leser nicht geeignet, ich rate depressiven und tief religiösen Menschen von diesem Text ab.


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.

Meine einzige Kritik: Russel sollte in jedem guten Bücherregal zu finden sein, es ist nicht nur ein Vergnügen ihn zu lesen, seine überlegene Intelligenz, ist erschreckend schön.


Essay

Bertrand Russel

Was ist Seele?


Zu den schmerzlichsten Begleitumständen der jüngsten Fortschritte der Wissenschaft gehört die Tatsache, dass wir danach jeweils weniger wissen, als wir zu wissen glaubten. In meiner Jugend wussten oder glaubten wir alle zu wissen, dass der Mensch aus einer Seele und einem Körper bestehe, der Körper in Zeit und Raum, die Seele jedoch nur in der Zeit. Ob die Seele nach dem Tode fortlebt, war eine Angelegenheit, in der die Ansichten auseinandergehen mochten; aber dass es überhaupt eine Seele gibt, das galt als unzweifelhaft. Was den Körper betrifft, so hielt der Durchschnittsmensch seine Existenz natürlich für gegeben, und das tat auch der Wissenschaftler; der Philosoph aber vermochte ihn nach dieser oder jener Methode hinwegzuanalysieren, wobei er in der Regel auf Gedanken im Geist des Menschen, der den Körper besaß, zurückführte und auf irgendeine dritte Person, die ihn zufällig wahrnahm. Der Philosoph wurde jedoch nicht ernst genommen, und die Wissenschaft blieb tröstlich materialistisch, selbst in den Händen ganz orthodoxer Naturwissenschaftler. Heutzutage ist die schöne alte Klarheit und Unbefangenheit dahin: Physiker versichern uns, dass es so etwas wie Materie, und Psychologen beteuern, dass es so etwas wie Geist nicht gebe. Ein beispielloses Ereignis. Wer hätte je einen Schuster sagen hören, es gebe eigentlich keine Schuhe, oder von einem Schneider die Behauptung vernommen, dass alle Menschen in Wirklichkeit nackt herumlaufen? Was aber auch nicht befremdlicher gewesen wäre als das, was die Physiker und gewisse Psychologen getan haben. Um bei den letzteren anzufangen: einige versuchen alles, was nach geistiger Wirksamkeit aussieht, auf eine körperliche Wirksamkeit zurückzuführen, ein Verfahren, das seine verschiedenen Schwierigkeiten hat. Ich glaube, noch lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Schwierigkeiten zu überwinden sind oder nicht. Wohl aber können wir sagen und mit der Physik selbst begründen, dass das, was wir bisher unseren Körper nannten, in Wirklichkeit eine kunstvolle wissenschaftliche Konstruktion ist, dem keine andere sinnliche wahrnehmbare Realität entspricht. Der moderne angebliche Materialist befindet sich daher in einer merkwürdigen Lage, denn er mag wohl mit gewissem Erfolg die Wirksamkeit des Geistes auf die des Körpers zurückführen, kann aber nicht zugleich die Tatsache hinwegerklären, dass der Körper nur ein vom Geist erfundener zweckdienlicher Begriff ist. Und so drehen wir uns fort um fort im Kreise: Geist ist eine Auswirkung des Körpers, und Körper ist eine Erfindung des Geistes. Das kann offenbar nicht ganz stimmen, so dass wir nach etwas suchen müssen, das weder Geist noch Körper ist und in dem beides seinen Ursprung haben kann.

Beginnen wir beim Körper. Der Durchschnittsmensch hält die Existenz materieller Objekte für gewiss, weil sie mit den Sinnen wahrnehmbar sind. Was immer man auch bezweifeln mag: etwas woran man sich eine Beule stoßen kann, muss doch bestimmt Wirklichkeit sein. Das ist die Metaphysik des Durchschnittsmenschen. Schön und gut – aber jetzt kommt der Physiker und beweist, dass man niemals gegen irgend etwas anrennt: selbst wer sich den Kopf an einer Mauer stößt, berührt sie nicht wirklich. Wenn man einen Gegenstand zu berühren glaubt, sind da nur gewisse Elektronen und Protonen, Bestandteile des eigenen Körpers, die von bestimmten Elektronen und Protonen in dem Gegenstande, den man zu berühren glaubt, angezogen und abgestoßen werden; aber eine tatsächliche Berührung findet nicht statt. Die durch die anderen Elektronen und Protonen erregten Elektronen und Protonen unseres Körpers sind gestört und leiten die Störung über die Nerven zum Gehirn; die im Gehirn erzielte Wirkung ist notwendig, um uns das Gefühl der Berührung zu geben, und dies Gefühl kann durch geeignete Experimente täuschend ähnlich erzielt werden. Die Elektronen und Protonen selbst sind jedoch nur ein erster roher Näherungswert, ein Mittel, entweder der Wellenketten oder die statistischen Wahrscheinlichkeiten mehrerer verschiedenartiger Ereignisse zusammenfassen. Damit ist aber die Materie zu geisthaft geworden, um sich noch zum Knüppel zu eignen, mit dem man den Geist totschlagen könnte. Bewegte Materie, die bislang so unzweifelhaft schien, erweist sich als ein für die Erfordernisse der Physik ganz unzugänglicher Begriff.

Nichtdestoweniger bietet uns die moderne Naturwissenschaft auch keinen wie immer gearteten Hinweis auf die Existenz der Seele oder des Geistes als Wesenheit; tatsächlich werden für den Zweifel am Geist äußerst ähnliche Gründe angeführt wie für den Zweifel an Materie. Geist und Materie gleichen etwa dem Löwen und dem Einhorn in ihrem Kampf um die Macht; dieser Kampf endet nicht mit dem Sieg des einen oder anderen, vielmehr mit der Entdeckung, dass beide nur Erfindungen der Heraldik sind. Die Welt besteht aus Ereignissen, nicht aus Dingen, die für lange Zeit fortbestehen und deren Eigenschaften sich wandeln. Ereignisse kann man nach ihren Kausalbeziehungen zu Gruppen zusammenfassen. Bei Kausalbeziehungen der einen Art kann die sich daraus ergebene Gruppe von Ereignissen ein physikalisches Objekt genannt werden, und bei Kausalbeziehungen einer anderen Art kann man sich die daraus ergebene Gruppe Geist nennen. Was immer sich im Kopf eines Menschen ereignet, wird zu Gruppen der beiden Arten gehören; betrachtet man es als zur Gruppe der einen Art gehörig, dann ist es ein Bestandteil seines Gehirns, und betrachtet man es als der Gruppe der anderen Art zugehörig, dann ist es ein Bestandteil seines Geistes.

Somit sind sowohl Geist und Materie nur zweckdienliche Methode, um Ereignisse zu ordnen. Daher ist die Annahme völlig unbegründet, dass ein Stück Geist oder ein Stück Materie unsterblich sei. Man nimmt an, dass die Sonne pro Minute Millionen Tonnen an Materie einbüße. Das wesentliche Kennzeichen des Geistes ist das Gedächtnis, und es liegt kein wie auch immer gearteter Grund vor, anzunehmen dass das einer bestimmten Person zugehörige Gedächtnis den Tod dieser Person überlebt. Es spricht vielmehr alles dafür, das Gegenteil zu glauben, denn das Gedächtnis ist zweifellos an einer bestimmten Gehirnstruktur gebunden, und da die Struktur mit dem Tode verfällt, ist mit gutem Grund anzunehmen, dass damit auch das Gedächtnis aufhört. Obwohl man den metaphysischen Materialismus nicht für richtig halten kann, ist doch für unser Gefühl die Welt haargenau die gleiche, wie wenn die Materialisten recht hätten. Meiner Meinung nach sind stets zwei wesentliche Anliegen die Triebkraft für die Gegner des Materialismus gewesen: zum ersten wünschten sie zu beweisen, dass der Geist unsterblich sei, und zum zweiten, dass die Welt letzten Endes von einer geistigen und nicht von einer physikalischen Kraft bewegt werde. Und auf beiden Gebieten muss ich den Materialisten recht geben. Unser Wunsch uns Wille ist zweifellos von beträchtlichem Einfluss auf die Erdoberfläche; der überwiegende Teil des Festlandes auf diesem Planeten sieht heute ganz anders aus, als er aussehen würde, wenn die Menschen ihn nicht nutzbar gemacht hätten, um Nahrung und Wohlstand daraus zu ziehen. Doch unsere Macht ist sehr streng begrenzt. Wir können gegenwärtig in keiner Weise auf die Sonne oder den Mond oder auch nur auf das Innere der Erde einwirken. Und wir haben nicht den leisesten Anlass, anzunehmen, dass das, was in den Regionen geschieht, in die unsere Kraft nicht hineinreicht, auf irgendwelche geistigen Ursachen zurückzuführen sei. Dass heißt, auf einen kurzen und einfachen Nenner gebracht: die Annahme ist unbegründet, dass – abgesehen von der Erdoberfläche irgend etwas geschieht, weil jemand wünscht, dass es geschehen möge. Und da unsere Macht über die Erdoberfläche ausschließlich auf der Energieversorgung beruht, die die Erde von der Sonne bezieht, sind wir zwangsläufig abhängig von der Sonne und können schwerlich auch nur einen unserer Wünsche verwirklichen, wenn die Sonne erkaltet. Es wäre natürlich voreilig, mit Sicherheit behaupten zu wollen, was die Wissenschaft in Zukunft noch erreichen und leisten wird. Vielleicht lernen wir das Leben des Menschen so stark zu verlängern, wie es heute noch unmöglich scheint. Wenn aber etwas wahres an der modernen Physik ist, und ganz besonders am zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dann dürfen wir uns nicht der Hoffnung hingeben, dass das Menschengeschlecht in Ewigkeit fortbestehen wird. Manche Leute mögen diese Folgerung als düster empfinden, wenn wir jedoch aufrichtig gegen uns selbst sind, müssen wir einräumen, dass Ereignisse, die sich in Millionen Jahren zutragen werden, hienieden und im Augenblick nicht gerade von erschütterndem Interesse für uns sind. Und wenn die Naturwissenschaft auch unsere Ansprüche im Kosmos stark herabsetzt, so sorgt sie doch zugleich für eine ungeheure Auswirkung unseres Komforts auf Erden. Aus diesem Grund hat man ja, ungeachtet des Abscheus von seiten der Theologen, die Naturwissenschaft alles in allem ertragen und geduldet.

ENDE


Quelle: http://find.nlc.cn/search/doSearch?query=bertrant%20russel&secQuery=&actualQuery=bertrant%20russel&searchType=2&docType=%E5%85%A8%E9%83%A8&isGroup=isGroup&targetFieldLog=%E5%85%A8%E9%83%A8%E5%AD%97%E6%AE%B5&fromHome=true
Quelle: http://www.nl.go.kr/nl/search/search.jsp?all=on&topF1=title_author&kwd=Bertrand+Russell
Quelle: https://search.rsl.ru/ru/search#q=bertrand%20russel


Joe C. Whisper

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