Klassiker der Weltliteratur – Edgar Alan Poe – „König Pest“

in #deutsch6 years ago

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Klassiker der Weltliteratur“ und nach all der Schaffenskraft, die ich für euch leiste, muss ich mir eine kurze, erholsame Auszeit gönnen, damit ihr euch in dieser Zeit nicht langweilt, bekommt ihr selbstverständlich, erstklassigen Lesestoff geboten.

Heute für euch E. A. Poe - „König Pest“.

Kritik: ruht – wenn ich ruhe


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.


Klassiker der Weltliteratur

Edgar Allan Poe

König Pest


Eine Geschichte, die eine Allegorie enthält

Die Götter erlauben – ja! sie befehlen sogar den Königen, Dinge zu tun, die
sie bei Schurken verabscheuen.
Buckhurst.
Perrex et Porrex

In einer Oktobernacht gegen zwölf Uhr – es war unter der ritterlichen Regierung König Eduards des Drittes – bemerkten zwei Seeleute, die der Mannschaft eines kleinen, augenblicklich in der Themse vor Anker liegenden Handelsschiffen angehörten, mit einigem Erstaunen, dass sie sich in einer Kneipe befanden, die im Kirchspiel Sankt Andreas lag und als Schild das Porträt einer „fidelen Teerjacke“ trug.

Der Raum war schlecht gebaut, rauchgeschwärzt und sehr niedrig; also in keiner Beziehung besser als die üblichen Matrosengasthäuser. In den Augen der Trinker, die in den Ecken herumsaßen, Kerlen aus aller Herren Ländern, war er jedoch für seinen Zweck bestens geeignet.

Die beiden Matrosen bildeten wohl die auffallendste Gruppe.

Der, wie es schien, ältere von ihnen – er wurde von seinem Gefährten mit dem, wie man gleich sehen wird, sehr charakteristischen Beinamen: „Stelze“ angeredet – war auch der weitaus größere. Seine sechs und einen halben Fuß mochte er wohl gut messen, und seine krumme Haltung schien nur die unausbleibliche Folge solcher Riesenhaftigkeit zu sein.

Doch wurde dies Übermaß an Länge durch manche Kümmerlichkeiten an seiner Gestalt wieder ausgeglichen. Er war ganz außerordentlich mager, so dass seine Kameraden wohl behaupteten, er könne, wenn er betrunken sei, sehr gut die Mastbaumlampe, und wenn nüchtern, den Luvbaum ersetzen; aber solche und ähnliche Späße pflegten nicht den geringsten Eindruck auf die Lachmuskeln unseres Seemanns zu machen.

Sein Gesicht musste auffallen: Er hatte hervorstehende Backenknochen, eine große Habichtnase, ein zurücktretendes Kinn, zusammengedrückten Unterkiefer und riesig große, hervortretende wasserblaue Augen. Der Ausdruck dieser Züge war, obwohl sie eine Art verbohrter Gleichgültigkeit zur Schau trugen, ein ernster und feierlicher.

Der jüngere Seemann schien so ungefähr das vollendete Gegenstück seines Gefährten. Seine Größe betrug höchstens vier Fuß. Der untersetzte, schwerfällige Körper wurde von ein Paar krummen, stämmigen Beinen getragen, während die ungewöhnlich kurzen und dicken Arme mit ihren mächtigen Fäusten zu beiden Seiten auf und ab baumelten wie die Flossen einer Seeschildkröte. Aus seinem Kopfe zwinkerten kleine, tief liegende Augen von unbestimmter Farbe hervor. Die Nase lag in der Fleischmasse, die sein rundes, volles, purpurrotes Gesicht um hing, förmlich begraben, und seine dicke Oberlippe ruhte auf der noch dickeren Unterlippe mit einem Ausdruck gemächlichster Selbstzufriedenheit, der noch durch die Angewohnheit ihres Eigentümers, sie von Zeit zu Zeit wohlgefällig zu belecken, erhöht wurde. Er betrachtete seinen langen Gefährten offenbar mit einem aus Erstaunen und Spott gemischten Gefühle und blickte oft zu ihm auf – so ungefähr, wie die rote untergehende Sonne zu den Felsklippen des Ben Nevis aufsehen mag.

Viele und vielartige Wanderungen hatte das würdige Paar während der früheren Nachtstunden bereits durch die verschiedenen Kneipen der Nachbarschaft unternommen. Doch auch die größte Summe reicht nicht ewig, und mit leeren Taschen hatten sich unsere Freunde schließlich in das eben beschriebene Wirtshaus wagen müssen.

In dem Augenblicke, da unsere Geschichte beginnt, saßen Stelze und sein Kamerad Hugo Luckenfenster, so hieß der kleine Dicke, jeder mit aufgestützten Ellbogen, an dem großen Eichentische in der Mitte des Zimmers und lehnten den Kopf in die Hand., Über eine riesige, „unbezahlbare“ Flasche hinweg beäugelten sie die unheilverkündenden Worte „Keine Kreide“, die zu ihrem beträchtlichen Unwillen und Erstaunen auf die Tür geschrieben waren; und zwar mittels desselben Minerals, dessen Anwesenheit sie verleugnen sollten! Nicht, dass man unseren Seefahrern die Fähigkeit, Schriftzüge zu entziffern, hätte zur Last legen können! Diese Wissenschaft galt damals für ebenso kabbalistisch wie die Kunst, sie zu schreiben – doch waren da, um die Wahrheit zu sagen, gewisse Windungen in der Bildung der Buchstaben und im Ganzen ein unbestimmtes, unbeschreibliches Seitwärtssteuern, das den beiden Seefahrern Sturm und schlechtes Wetter zu verkünden schien und sie, um mit den allegorischen Worten Stelzes zu reden, plötzlich bestimmte, „das Schiff zu bewachen, die Segel einzuziehen und vor dem Winde zu laufen“.

Nachdem sie also den Rest Ale noch seiner Bestimmung übergeben hatten, knöpften sie ihre kurzen Wamse fest zu und machten einen Vorstoß ins Freie. Und obwohl Luckenfenster zweimal in den Kamin trat, den er für die Tür hielt, wurde ihre Flucht doch endlich glücklich bewerkstelligt, und eine halbe Stunde nach Mitternacht liefen unsere Helden, als ginge es um ihr Leben, eine dunkle, enge Straße in der Richtung nach St. Andrews Treppe hinab, hart verfolgt von der Wirtin und etlichen Gästen der „fidelen Teerjacke“.

In der Zeit nun, in der diese ereignisreiche Geschichte spielt, und manches Jahr vorher und nachher, erklang in England und besonders in der Hauptstadt der entsetzliche Schrei: „Die Pest!“ Die Stadt war zum großen Teil entvölkert, und in den schrecklichen Vierteln in der Nähe der Themse, in deren schwarzen, engen, schmutzigen Straßen die Seuche aufgekommen, schlichen nur noch Angst, Entsetzen und Aberglauben durch die verödeten Straßen.

Auf Befehl des Königs waren diese Viertel von der übrigen Stadt vollständig abgeschlossen worden, und jedem, der es wagen sollte, in ihre grauenvolle Einsamkeit zu dringen, die Todesstrafe angedroht. Doch konnten weder die gesetzlichen Bestimmungen des Königs, noch die riesigen Holzverschläge am Eingang der Straßen, noch die Furcht vor dem grausigen, widerwärtigen Tode, der jeden Eindringling so ziemlich mit Sicherheit ereilen musste, verhindern, dass die leeren, menschenverlassenen Wohnungen nächtlicherweise beraubt, und alles Eisen, Kupfer- oder Bleiwerk, kurz, Gegenstände, mit denen noch Handel getrieben werden konnte, fortgeschleppt wurden.

Wenn dann im Winter die Verschläge wieder geöffnet wurden, stellte sich gewöhnlich heraus, dass die Schlösser, Riegel und geheime Keller nur schlecht die reichen Wein- und Likörvorräte bewahrt hatten, welche die gerade in diesen Vierteln ansässigen zahlreichen Händler lieber einer so ungenügenden Sicherheit überließen, als sie in der Eile unter Mühen und Gefahren in die entfernteren Stadtteile zu schaffen.

Aber nur sehr wenige in dem schreckgefassten Volke schrieben diese nächtlichen Räubereien Menschenhänden zu. Man glaubte, dass Pestgeister, Seuchenkobolde, Fieberdämone diese Übeltaten verrichteten, und täglich entstanden neue schauerliche Geschichten, so dass schließlich die verlassenen Häuser wie von einem Leichtuch eingehüllt waren, und die Räuber selbst, geängstigt durch die abergläubischen Schauergeschichten, die ihre eigenen Raubzüge geschaffen, die verrufenen Orte flohen; so dass nur Finsternis und schweigender Tod an dieser Stätte des Pesthauchs waren.

Durch einen jener Holzverschläge, die anzeigten, dass das hinter ihnen liegende Gebiet unter dem Krankheitsbanne sei, sahen sich nun plötzlich Stelze und der würdige Hugo Luckenfenster, die gerade eine schmale Straße heruntergerannt kamen, in ihrem Laufe aufgehalten. Es war unmöglich, umzukehren, und jeder Zeitverlust bedeutete höchste Gefahr, denn die Verfolger waren ihnen auf den Fersen. Für zwei so geübte Matrosen wie sie war es eine Kleinigkeit, den grob gearbeiteten Bretterzaun zu erklettern, und nach dem reichlichen Genuss der Spirituosen, durch die Anstrengung des Laufens doppelt stark berauscht, sprangen sie entschlossen auf die andere Seite, rannten mit Schreien und Heulen weiter und verloren sich bald in den verborgenen, verpesteten Schlupfwinkeln.

Wären sie nicht so sinnlos betrunken gewesen – ihre grässliche Umgebung hätte ihre schwankenden Schritte sicher aufgehalten, das Entsetzen würde sie den Wohnungen der Menschen wieder zugetrieben haben. Die Luft war kalt und nebelig. Die Pflastersteine lagen in wilder Unordnung umher, Gras und Unkraut überwucherten sie, so dass man oft bis über die Knöchel in dasselbe einsank. Zerfallene Häuser versperrten die Straßen, giftige, stinkende Dünste wogten über das Ganze, und in dem gespenstischen Lichte, das selbst um Mitternacht eine dunstige, verpestete Atmosphäre ausstrahlte, hätte man in den Straßen und Gässchen oder in den fensterlosen Wohnräumen den verwesenden Leichnam manch eines Räubers erblicken können, den die Hand der Pest gefasst hatte, als er gerade sein nächtliches Werk vollbringen wollte.

Doch dergleichen Gefühle, Bilder und Hindernisse waren machtlos, die Schritte zweier Menschen aufzuhalten, die, von Natur aus tapfer, in dieser Nacht zum Überlaufen voll von Mut und Ale, ohne Zögern und so geradenwegs, wie es ihr Zustand nur immer erlaubte, dem Tode selbst in den Rachen gelaufen wären.

Weiter und immer weiter lief der grimmige Stelze, und sein Geschrei, das wie das Kriegsgeheul der Indianer durch die Nacht gellte, weckte das Echo der schauerlichen Öde. Und ihm auf dem Fußefolgte der dicke Luckenfenster, der sich am Rockzipfel seines behänderen Gefährten festhielt und dessen stärksten Leistungen in der Vokalmusik noch durch die machtvollsten Kontrabasstöne übertraf.

Sie hatten jetzt den eigentlichen Herd der Pest erreicht. Ihr Weg wurde mit jedem Schritt oder vielmehr mit jedem Stolpern widerwärtiger, die Straßen enger, verfallener. Die dumpfe Schwere, mit der große Steine und Balken von Zeit zu Zeit von den einstürzenden Dächern auf die Straße fielen, ließ auf die außerordentliche Höhe der umstehenden Häuser schließen, und wenn die Flüchtlinge Hand anlegen mussten, um sich einen Weg über Schutthaufen hinweg zu verschaffen, so geschah es nicht selten, dass ihre Finger ein Skelett berührten oder in verwesendes Fleisch fassten.

Plötzlich taumelten die Matrosen gegen die Türe eines riesigen Gebäudes von unheimlichem Aussehen. Stelze stieß einen ganz besonders gellenden Schrei aus, auf den von innen her durch eine lange Reihe ununterbrochener, wilder Rufe, die wie höllisches Lachen klangen, geantwortet wurde. Ohne über diese Laute zu erschrecken, die an solchem Orte und in solchem Augenblicke jeden nicht so sinnlos Berauschten mit Entsetzen erfüllt haben würden, warf sich das würdige Paar der Länge nach gegen die Tür, stieß sie auf und stolperte mit einem Schwall von Flüchen mitten in das Haus hinein.

Der Raum, in dem sie sich nunmehr befanden, war der Laden eines Sargfabrikanten und Leichenbegängnis-Unternehmers; aber durch eine offene Falltür in einer Ecke des Fußbodens, nahe am Eingang, blickte man auf eine lange Reihe von Weinfässern, die – wie der Ton einiger Weinflaschen bewies, die gerade an ihnen zerschellten – mit dem gehörigen Inhalte auf das beste gefüllt waren. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch und darauf eine riesige, anscheinend mit Punsch gefüllte Bowle. Verschiedene Flaschen Weinund Liköre sowie zahlreiche Krüge, Kruken und Flakons von jeder Gestalt und Größe standen auf dem Tisch umher.

Um den Tisch, und zwar auf Särgen, saß eine Gesellschaft von sechs Personen, die ich zunächst beschreiben muss.

Der Eingangstür gegenüber und ein wenig höher als die übrigen, thronte ein Mann, welcher der Präsident der Tafelrunde zu sein schien. Er war groß und dürre, und Stelze erkannte verblüfft, dass man ihn, was Magerkeit anging, doch noch übertreffen könne. Das Gesicht dieses Mannes war so gelb wie Safran, doch keine Partie desselben war einer besonderen Beschreibung würdig – mit Ausnahme der Stirn, die so ungewöhnlich, so scheußlich hoch schien, dass sie wie ein Helm oder eine Krone aus Fleisch wirkte, die dem natürlichen Kopfe noch aufgesetzt war. Der grinsende Mund war zu einem Ausdruck gespenstischer Liebenswürdigkeit zusammengekniffen, und über seinen Augen, wie über denen der ganzen Tischgesellschaft, lag der gläserne Glanz der Betrunkenheit. Dieser Gentleman war von Kopf bis zu Fuß in einen reich gestickten Mantel aus schwarzem Seidensammet gehüllt, der, auf der Schulter geschlossen, nach Art der spanischen Mäntel seine ganze Gestalt lose umschloss. Sein Kopf war reichlich mit den empor gesträubten Federn geschmückt, wie sie die Pferde der Leichenwagen zu tragen pflegen; und mit einer gezierten Munterkeit bewegte er sie hin und her. In seiner rechten Hand hielt er einen großen, menschlichen Schenkelknochen, mit dem er anscheinend gerade ein Mitglied der Tafelrunde berührt hatte, um den Vortrag eines Liedes zu befehlen.

Dem Präsidenten gegenüber, den Rücken zur Tür gewandt, saß eine Dame, deren außergewöhnliches Aussehen dem seinen an Sonderbarkeit nicht das geringste nachgab. Obwohl sie gerade so groß war wie die erstbeschriebene Person, hatte sie sich doch durchaus nicht über Magerkeit zu beklagen. Sie befand sich offenbar im letzten Stadium der Wassersucht, und ihr Umfang kam dem der riesigen Tragbahre gleich, die neben ihr in einer Ecke des Zimmers aufgerichtet stand. Ihr Gesicht war außerordentlich rund, rot und voll, und dieselbe Merkwürdigkeit, das heißt eigentlich die Abwesenheit jeder Merkwürdigkeit, die ich schon bei der Beschreibung des Präsidenten erwähnte, zeichnete auch ihre Züge aus – bis auf einen einzigen, der besondere Schilderung verdient –; der scharfsinnige Luckenfenster sah bald, dass sich diese Eigentümlichkeit bei jeder der sechs Personen wiederholte: eine Gesichtspartie fiel immer besonders auf. Bei der in Frage stehenden Dame war es der Mund. Er reichte vom rechten Ohre bis zum linken und bildete einen fürchterlichen Schlund, in den ihre kurzen Ohrringe jeden Augenblick hinabbaumelten. Doch machte sie die größten Anstrengungen, ihn soviel wie möglich geschlossen zu halten und würdig auszusehen. Ihr Kleid bestand aus einem frisch gestärkten und gebügelten Leichentuche, das unter dem Kinn mit einem plissierten Batistkragen abschloss.

Zu ihrer Rechten saß ein junges Dämchen, das sie zu bemuttern schien. Dies zarte, kleine Geschöpf zeigte mit ihren zitternden, mageren Fingern, den farblosen Lippen, den leichten hektischen Flecken in dem sonst bleigrauen Gesichte alle Symptome der galoppierenden Schwindsucht. Doch hatte ihr ganzes Wesen etwas äußerst Distinguiertes; sie trug ihr großes, schönes Leichtuch aus feinstem Leinengewebe mit Grazie und bewegte sich frei und ungezwungen; ihr Haar hing in Locken auf ihre Schultern herab, und ein weiches Lächeln umspielte ihren Mund; aber ihre außerordentlich lange, dünne, krumme, bewegliche, finnige Nase hing weit über ihre Unterlippe hinab, und trotz der feinen Art, mit der sie dieselbe von Zeit zu Zeit mit der Zunge nach rechts oder links schob, gab dieser Rüssel ihrem Gesicht einen etwas mehr als zweideutigen Ausdruck.

An der anderen Seite, zur Linken der wassersüchtigen Dame, saß ein alter, kleiner, aufgeschwollener, asthmatischer, gichtischer Herr. Seine Wangen ruhten wie zwei Portweinschläuche auf seinen Schultern, die Arme hielt er gekreuzt, sein rechtes, von Bandagen umwickeltes Bein ließ er auf dem Tische ruhen und schien sich ganz besonderer Beachtung wert zu halten. Doch so sehr ihn auch jeder Zoll seiner persönlichen Erscheinung mit Stolz erfüllte, liebte er noch besonders, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf seinen prunkvoll gefärbten Überrock zu lenken. Derselbe musste ihn allerdings auch viel Geld gekostet haben und stand ihm außerordentlich gut; er war aus einer jener kunstvoll gestickten Schabracken gefertigt, mit denen man in England, und auch wohl anderswo, die großen Wappenschilder an den Wohnungen der Aristokratie in Abwesenheit der Herrschaften bedeckt.

Neben ihm, zur Rechten des Präsidenten also, saß ein Herr in langen weißen Strümpfen und baumwollenen Unterhosen. Seine ganze Gestalt wurde von einem komisch wirkenden Schauder geschüttelt, den Luckenfenster Tatterich zu nennen beliebte. Seine frisch rasierten Kinnladen waren durch eine Musselinbinde fest zusammengebunden, und seine auf dieselbe Art und Weise an den Handgelenken befestigten Arme hinderten ihn, den Getränken auf dem Tische allzu reichlich zuzusprechen – eine Vorsicht, die, wie Stelze bei sich dachte, nach seinem verdummten Säufergesicht zu schließen, gar nicht unnötig war. Ein Paar enorm große Ohren standen von seinem Kopfe ab in das Zimmer hinein und wurden von einem Krampf durchzuckt, sooft man nur eine Flasche entkorkte.

Ihm gegenüber als sechste und letzte Person saß ein sonderbar steif aussehendes Wesen männlichen Geschlechtes, das offenbar gelähmt war und sich in seiner unbequemen Kleidung sehr ungemütlich fühlen musste. Dieser Herr war nämlich vollständig in einen schönen, neuen Mahagonisarg gekleidet, dessen Deckel wie ein Helm auf seinem Haupte saß. In die beiden Seiten des Sarges waren Armlöcher gebohrt, um der Eleganz wie um der Bequemlichkeit willen; dennoch verhinderte dies „Gewand“ seinen Träger, geradeso aufrecht zu sitzen wie seine Tischnachbarn. Sein Sarg lehnte in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gegen eine Totenbahre, so dass der so originell bekleidete Herr seine großen Augen mit ihren schauderhaften weißen Pupillen, wie voll Erstaunen über ihre eigene enorme Größe, rollend zur Zimmerdecke gerichtet hielt.

Vor jedem der Tafelgenossen lag eine halbe Hirnschale, die als Trinkbecher diente. Über ihren Köpfen hing ein Skelett, das mittels eines um sein Bein geschlungenen Seiles an einem Ringe im Plafond befestigt war. Das andere Bein streckte sich in einem rechten Winkel vom Körper ab, und das ganze klappernde Skelett drehte sich bei jedem leichten Windstoß, der durch die bröckeligen Mauern in den Raum fuhr, lustig im Kreise herum. Der Schädel des scheußlichen Dinges enthielt eine Menge brennender Kohlen, die ein schwankendes, doch lebhaftes Licht auf die ganze Szene warfen. Särge, Bahren und sonstige Verkaufswaren eines Leichenbegängnis-Unternehmers waren an den Wänden und vor den Fenstern so hoch aufgestapelt, dass kein Lichtstrahl auf die Straße drang.

Beim Anblick dieser sonderbaren Versammlung und der noch sonderbareren Kleidung bewahrten unsere Seeleute nicht die wünschenswerte Haltung. Stelzes Unterkinn sank noch tiefer herab als gewöhnlich, und er selbst gegen die ihm zunächst stehende Mauer, während sich hinwiederum seine Augen, so weit es nur möglich war, aufrissen. Luckenfenster jedoch krümmte sich dermaßen, dass seine Nase nicht über das Niveau des Tisches herausragte, schlug sich mit beiden Händen auf die Knie und brach in ein unmäßiges Lachen oder vielmehr in ein langes, lautes, widerhallendes Gebrüll aus.

Ohne über dies unglaublich grobe Betragen nur im geringsten beleidigt zu sein, lächelte der lange Präsident die Eindringlinge mit anmutiger Liebenswürdigkeit an, nickte ihnen mit seinem federgeschmückten Haupte würdevoll zu, stand auf, fasste sie am Arme und führte jeden zu einem Sitze, den zwei andere Mitglieder der Tafelrunde schon in Bereitschaft gestellt hatten. Stelze leistete bei all dem nicht den geringsten Widerstand, sondern setzte sich da nieder, wohin man ihn führte, während Luckenfenster, der Galante,seinen Sargständer vom Kopfende des Tisches an die Seite der kleinen, schwindsüchtigen Dame in dem indischen Leichentuche rückte, in höchster Heiterkeit an ihrer Seite niederplumpste, sich einen Schädel Rotwein eingoss und ihn „auf nähere Bekanntschaft“ leerte.

Diese Anmaßung schien jedoch den steifen Gentleman im Sarge zu ärgern und wäre wohl kaum ohne betrübliche Folgen geblieben, wenn nicht der Präsident mit seinem Zepter auf den Tisch geklopft und die Aufmerksamkeit der Anwesenden durch folgende Rede abgelenkt hätte: „Es ist unsere Pflicht bei dem glücklichen Zufalle –“

„Halt!“ fiel ihm Stelze mit ernsthafter Miene ins Wort. „Halten Sie ein wenig, und sagen Sie uns beim Teufel zuerst mal, wer Sie eigentlich sind, und was Sie hier wollen, und warum Sie unserem ehrlichen Kameraden, dem Leichenbestatter Wilhelm Schaufel, seinen Wintervorrat von dem leckeren Weinchen da austrinken?“

Bei diesem unverzeihlichen Beweise schlechter Erziehung sprang die seltsame Gesellschaft auf und stieß wieder jene wilden Schreie aus, die die beiden Seeleute schon vorher hatten vernehmen müssen. Der Präsident erlangte zuerst seine Ruhe wieder, wandte sich schließlich mit großer Würde Stelze zu und begann von neuem: „Mit größter Bereitwilligkeit werden wir jede berechtigte Neugier Unserer erlauchten, wenn auch ungebetenen Gäste befriedigen. So werde Ihnen denn kund, dass ich der Beherrscher dieser Gebiete bin und hier allein und unbeschränkt regiere unter dem Namen König Pest der Erste.

„Dieser Raum, den Sie sehr profan und zu Unrecht den Laden Wilhelm Schaufels, eines Leichenbestatters, genannt haben – eines Mannes, den Wir nicht kennen, und dessen plebejischer Name vor dieser Nacht Unsere königlichen Ohren noch nicht beleidigt hat – dieser Raum, sage ich, ist das Torzimmer Unseres Palastes, zu Ratsversammlungen in Unserm Königreich und andern hohen und erhabenen Zwecken bestimmt.“

„Die edle Frau Uns gegenüber ist die Königin Pest, Unsere Allerdurchlauchtigste Gemahlin. Die übrigen erlauchten Personen, die Sie erblicken, gehören alle zu Unserer Familie und tragen die Zeichen ihrer königlichen Herkunft in ihren Namen: Seine Königliche Hoheit der Erzherzog Pestilenz, Seine Hoheit der Herzog Pest-Beulchen, Seine Hoheit der Herzog Tem-Pesta, Ihre Königliche Hoheit die Erzherzogin Ana-Pest.“

„Was Ihre Frage betreffs der Angelegenheit, über die wir hier Rates pflegen, angeht, gestatten wir Uns zu bemerken, dass sie nur Uns und Unsere königlichen Interessen berührt und für niemand anderen als nur für Uns selbst von Wichtigkeit ist. Aber in Anerkennung jener Rechte, welche Sie als Gäste und Fremde beanspruchen zu dürfen glauben, erklären Wir Ihnen, dass Wir in dieser Nacht wohl vorbereitet durch ausgedehnte Nachforschungen und sorgfältige Untersuchungen, hier versammelt sind, um den unbestimmbaren Geist, die unerklärlichen Eigenschaften und das Wesen jener unschätzbaren Gaumenlabungen, der Weine, Ales und Liköre dieser prächtigen Metropole zu untersuchen, zu analysieren und gründlich zu bestimmen; um durch dieses Tun nicht allein Unsere eigenen Absichten zu verfolgen, sondern vor allem das wahre Wohlergehen jenes Herrschers zu fördern, der, nicht von dieser Welt, über Uns alle herrscht, dessen Reich ohne Grenzen ist, und dessen Name Tod heißt!“

„Dessen Name Hans Wurst ist!“ schrie Luckenfenster, schenkte der Dame an seiner Seite einen Schädel voll Liqueren ein und versah auch den seinen aufs beste.

„Profaner Schuft“, sagte der Präsident und wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem würdigen Stelze zu – „profaner, erbärmlicher Lump! Wir haben gesagt, dass Wir in Anerkennung jener Rechte, die Wir selbst in Deiner schmutzigen Person nicht zu verletzen gewillt sind,geruht haben, auf Deine groben, sehr unzeitigen Fragen zu antworten. Nichtsdestoweniger halten Wir es angesichts des profanen Eindringens in Unsere Ratsversammlung für Unsere Pflicht, Dich und Deinen Gefährten jeden zu einer Gallone Bier zu verurteilen, die Ihr kniend und auf einen Zug auf das Wohl Unseres Königreiches trinken werdet. Dann soll es Euch freistehen, Euren Weg wieder aufzunehmen oder zu bleiben, oder, jeder nach seinem persönlichen Geschmack, an den Privilegien unseres Tisches teilzunehmen.“

„Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit“, erwiderte Stelze, dem die großartige Haltung und Würde des Königs Pest I. offenbar Respekt eingeflößt hatte – erhob sich und stütze sich während des Redens auf den Tisch – „es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, auch nur den vierten Teil von dem Quantum Likör, das Euere Majestät eben zu erwähnen beliebten, in meinem Kielraum aufzuschichten. Abgesehen von den verschiedenen Waren, die wir am Vormittage als Ballast eingenommen –, und der diversen Ales und Likörs, die wir im Laufe des Abends in verschiedenen Häfen eingeschifft, gar nicht zu gedenken –, habe ich jetzt eben in der ›fidelen Teerjacke‹ eine volle, wohl bezahlte Schiffsladung eingenommen. Ich erlaube mir deshalb, an Euere Majestät die Bitte zu richten, den Willen für die Tat zu nehmen, denn ich kann weder, noch will ich einen weiteren Tropfen Alkohol mehr schlucken – am allerwenigsten einen Tropfen von dem niederträchtigen Kielwasser, das auf den Namen Bier getauft ist.“

„Stop! Stop!“ unterbrach ihn Luckenfenster, nicht mehr erstaunt über die Länge der Rede als über die Weigerung – „Stop! Stop! Du Süßwassermatrose! Und kein Geschwätz mehr, Stelze! Mein Lagerraum ist noch aufnahmefähig, obgleich ich ja gestehen muss, dass du ein wenig schwer geladen zu haben scheinst; aber eher würde ich noch für deine Ladung Platz in meinem Packraum schaffen, als warten, bis ein Sturm heraufzieht, wenn ...“

„Ein solches Vorgehen“, unterbrach ihn der Präsident, „verträgt sich in keiner Weise mit den Satzungen des Urteils oder vielmehr mit der Verurteilung, welche eine uneinschränkbare, unwiderrufliche ist. Die Bedingungen, die Wir auferlegt haben, müssen buchstäblich und ohne die geringste Verzögerung erfüllt werden. Im Falle einer Weigerung befehlen Wir, dass man Euch an dem Halse und den Fersen zusammenbindet und als Rebellen in jenem Oxhoft Wein ertränkt!“

„Das nenne ich einen Urteilsspruch!“ „Das ist ein Urteil!“ „Das ist ein gerechtes und billiges Urteil!“ „Ein glorreiches Dekret!“ „Eine höchst verdiente, einspruchslose Verurteilung!“ rief die Familie Pest in lautem Durcheinander aus. Der König zerknitterte seine Stirn in zahllose kleine Fältchen, der gichtische alte Herr schnaufte wie ein Blasebalg, die junge Dame im indischen Leichtuche ließ ihre Nase nach rechts und links spielen, der Gentleman in den baumwollenen Unterhosen bekam den Krampf in die Ohren, die Dameim gestärkten Totenhemd schnappte mit ihrem riesigen Rachen wie ein sterbender Fisch, und der im Sarge sah noch steifer aus und rollte die Augen wilder als je.

„Hihihi!“ kicherte Luckenfenster, ohne auf die allgemeine Erregung zu achten. „Hihihihihihihihihi Ich sagte ja, dass die zwei oder drei Gallonen für eine solides Schiff wie mich eine Kleinigkeit sind, wenn es nicht überladen ist – aber wenn ich auf die Gesundheit des Teufels trinken und mich vor Seiner niederträchtigen Majestät, die, so sicher wie ich ein Sünder bin, niemand anderes ist als ein dummer August, auf meine Knie werfen soll, so ist das eine Sache, die vollständig über meinen
Verstand geht.“

Man hatte ihn jedoch nicht ruhig ausreden lassen. Bei dem Namen dummer August sprang die ganze Gesellschaft von ihren Sitzen auf.

„Verrat!“ brüllte Seine Majestät König Pest der Erste.
„Verrat!“ sagte der kleine Gichtische.
„Verrat!“ kreischte die Erzherzoging Ana-Pest.
„Verrat!“ murmelte der Gentleman mit dem aufgebundenen Kinn.
„Verrat!“ grunzte der Mann im Sarge.
„Verrat! Verrat!“ schrie Ihre Majestät mit dem Rachen – ergriff den unglückseligen Luckenfenster, der soeben angefangen hatte, einen Schädel voll Likör auszutrinken, an dem hinteren Teile seiner Beinkleider, hob ihn hoch in die Höhe und ließ ihn ohne Zeremonie in das riesige, offene Fass mit ihrem geliebten Ale fallen. Er tauchte ein paar Mal auf und unter wie ein Apfel in kochendem Punsch und verschwand zuletzt in einem Wirbel von Schaum, den seine Versuche, sich zu retten, in der von Natur aus leicht moussierenden Flüssigkeit reichlich hervorgebracht hatten. Der lange Seemann sah jedoch keineswegs tatenlos der Niederlage seines Genossen zu. Er ergriff den König Pest, stieß ihn die offene Falltür hinab, schloss dieselbe mit einem fürchterlichen Fluche und lief in die Mitte des Zimmers zurück, dann riss er das Skelett herunter, das über dem Tische baumelte, und bediente sich seiner mit soviel Energie und gutem Willen, dass es ihm gelang, noch ehe die letzte Kohle verloschen war, dem kleinen gichtischen Herrn das Gehirn einzuschlagen. Dann stürzte er sich mit aller Kraft auf das riesige, mit Oktober-Ale und Luckenfenster gefüllte Fass, stieß es um und ließ es ins Zimmer hinrollen. Eine Sündflut so wilden, so wütenden Gebräues schoss heraus, dass das Zimmer von einem Ende zum anderen überschwemmt wurde. Der Tisch stürzte um, mit allem, was darauf stand, die Sargständer fielen auf die Seite, die Punschbowle flog in den Kamin, und die beiden Damen bekamen hysterische Anfälle. Ganze Stöße von Begräbnisgegenständen sausten umher, Krüge, Kruken, Korbflaschen vermengten sich zu gräulichem Durcheinander, schwere Ballons verursachten grässliche Zusammenstöße mit kleinen Likörflakons. Der Mann mit dem Tatterich ertrank auf der Stelle, der kleine Lahme schwamm in seinem Sarge umher – der siegreiche Stelze ergriff die dicke Dame im gestärkten Totenhemd um die Taille, stürzte mit ihr auf die Straße hinaus und steuerte geradenwegs auf den Hafen zu, gefolgt von dem ebenfalls mit bestem Winde segelnden Hugo Luckenfenster, der, nachdem er sich drei- oder viermal tüchtig ausgeniest hatte, mit der Erzherzogin Ana-Pest hinter ihm her schnaufte.


ENDE


Quelle: https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0806-08.pdf


Joe C. Whisper

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