Klassiker der Weltliteratur – Edgar Alan Poe – „Hüte dich vor des Teufels Wetten!“ Eine Geschichte mit einer Moral

in #deutsch6 years ago (edited)

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Klassiker der Weltliteratur“ und nach all der Schaffenskraft, die ich für euch leiste, muss ich mir eine kurze, erholsame Auszeit gönnen, damit ihr euch in dieser Zeit nicht langweilt, bekommt ihr selbstverständlich, ermunternden Lesestoff geboten.

Heute für euch E. A. Poe - „Hüte dich vor des Teufels Wetten!“.

Kritik: ruht – wenn ich ruhe


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.


Klassiker der Weltliteratur

Edgar Allan Poe

Hüte dich vor des Teufels Wetten!

Eine Geschichte mit einer Moral


„Con tal que las costumbres de un autor“, sagt Don Thomas de las Torres in der Vorrede zu seinen „Liebesgedichten“, „sean puras y castas, importo muy poco que no sean igualmente severas sus obras“ – das heißt auf gut deutsch: wenn die persönliche Moral eines Autors gut ist, hat die Moral seiner Bücher nichts weiter zu sagen. Ich bin der Meinung, dass Don Thomas jetzt für diese Behauptung im Fegefeuer brennt; und es wäre sehr gut, wenn er, um der poetischen Gerechtigkeit zu genügen, dort so lange bleiben müsste, bis seine „Liebesgedichte“ nicht mehr gedruckt und aus Mangel an Lesern endgültig ad acta gelegt würden. Jede Erzählung sollte eine Moral haben; oder vielmehr, was viel zweckentsprechender ist: die Kritiker haben entdeckt, dass jede Erdichtung eine solche hat. Philipp Melanchthon schrieb vor einiger Zeit einen Kommentar über die „Batrachomyomachia“ und bewies, dass der Dichter die Absicht gehabt habe, Abscheu vor Empörung zu erwecken. Pierre la Seine geht einen Schritt weiter und behauptet, dass er geradezu vorgehabt, den jungen Leuten Mäßigkeit im Essen und Trinken anzuempfehlen. Jacobus Hugo überzeugte uns davon, dass Homer mit Evenus Calvin, mit Antinous Martin Luther, mit den Lotophagen die Protestanten im allgemeinen, mit den Harpyien die Holländer gemeint habe. Unsere modernen Scholastiker sind ebenso scharfsinnig. Diese Burschen entdeckten einen ganz neuen Sinn in dem bekannten Werk „Die Vorsündflutler“, eine Parabel in der Geschichte „Powhattan“, neue Ausblicke in „Rotkehlchenhahn“ und Transzendentalismus in „Springübermeindaum“. – Kurz, man hat uns gezeigt, dass kein Mensch sich niedersetzen kann und schreiben, ohne tiefe Gedanken auszudrücken. Den Autoren wird auf diese Weise ziemlich viel Arbeit erspart. Ein Novellist zum Beispiel braucht sich nicht im geringsten mehr um die Moral in seinen Erzählungen zu bekümmern. Sie wird ja schon so ganz von selbst darin liegen, und die Kritiker mögen sehen, wie sie sie herausfinden. Wenn die gehörige Zeit verflossen ist, wird eines Tages im „Monat“ oder in der „Woche“ ein Essay erscheinen, in dem alles gesagt ist, was der Autor beabsichtigte und nicht beabsichtigte, sowie was er beabsichtigt haben sollte und noch beabsichtigt haben könnte, so dass am Ende alles klipp und klar ist.

Deshalb ist der Vorwurf, den ein paar Dummköpfe gegen mich erhoben, ich habe nie eine moralische Geschichte oder besser nie eine Geschichte mit einer Moral geschrieben, durchaus unbegründet. Sie waren eben nicht die Kritiker, dazu geeignet, mich zu erklären und meine Moral zu enthüllen – das ist wohl das ganze Geheimnis. Nebenbei gesagt, glaube ich, dass die Vierteljahresschrift „Das Vierteljahr“ sie bald für ihre Dummheit beschämen wird. Mittlerweile übergebe ich ihnen, um ihren Schimpfereien ein Ende zu machen, die folgende traurige Geschichte, eine Geschichte, deren offenkundige Moral niemandem zweifelhaft sein kann, denn selbst der oberflächlichste Leser weiß, dass sie eine enthält, weil es nämlich in dicken Buchstaben unter der Überschrift steht. Man sollte mich für diese Anordnung loben – denn sie ist doch bei weitem zweckmäßiger als die Lafontaines und anderer „moralischer Geschichtenschreiber“, die ihre Moral bis zum letzten Augenblicke aufsparen und sie ihrer Geschichte an den Schwanz binden.

E. A. P.


„Defuncti injuria ne afficiantur“ war eins der Gesetze der zwölf Tafeln, und „De mortuis nil nisi bonum“ ist ein ganz aus gezeichnetes Gebot, selbst wenn der fragliche Tote weiter nichts gewesen wäre als der tote Punkt in einem Schwungrade. Ich habe auch nicht im geringsten die Absicht, meinen toten Freund Toby Dammit herunterzumachen. Er war ein armer Hund, das ist wahr, und starb auch wie ein Hund, gewiss! doch trug er nicht Schuld an seinen Lastern, die vielmehr von einem körperlichen Fehler seiner Mutter herrührten. Sie hatte ihn in seiner Jugend so oft und so tüchtig wie nur eben möglich durchgeprügelt, denn einem wohlgeratenen Menschen bereiten seine Pflichten stets Vergnügen; doch das arme Weib war linkshändig, und ein linkshändig geprügeltes Kind sollte besser ungeprügelt bleiben. Die Welt dreht sich von rechts nach links, und deshalb geht es nicht an, ein Kind von links nach rechts zu prügeln. Wenn sonst jeder Schlag eine üble Neigung austreibt, so muss doch natürlich jeder Puff in umgekehrter Richtung irgendeine Schlechtigkeit hineintreiben. Ich war oft Zeuge, wenn Toby gezüchtigt wurde; und schon aus der Art und Weise, wie er dann hinten und vorne ausschlug, entnahm ich, dass er von Tag zu Tage schlimmer wurde. Endlich sah ich mit Tränen in den Augen, dass an dem Taugenichts Hopfen und Malz verloren sei. Eines Tages wurde er so geprügelt, dass er schwarz im Gesicht ward wie ein kleiner Neger, und als auch dies keinen anderen Erfolg hatte, als ihm zu einem Nervenzufall zu verhelfen, konnte ich mich nicht länger bezwingen, sondern warf mich auf meine Knie, erhob laut meine Stimme und prophezeite ihm ein schreckliches Ende.

Er war unglaublich frühreif – was Laster anging. Als er eben fünf Monate alt war, konnte er schon so wütend wer den, dass er vor Zorn keinen Laut hervorzubringen vermochte; als er sechs Monat e alt war, überraschte ich ihn einmal dabei, wie er ein Spiel Karten benagte, und mit sieben Monaten frönte er der verabscheuenswerten Angewohnheit, die weiblichen Babies zu tätscheln und zu küssen. Mit acht Monaten weigerte er sich mit aller Entschiedenheit, seine Unterschrift unter eine Aufforderung zum Beitritt zu einem Mäßigkeitsvereine zu setzen. So wuchsen also seine Laster Monat für Monat, bis er nach Ablauf seines ersten Lebensjahres nicht allein darauf bestand, einen Schnurrbart zu tragen, sondern auch die üble Gepflogenheit hatte, zu fluchen und zu schwören und seine Ansichten durch Wetten zu bekräftigen.

Diese letzten durchaus unvornehme Angewohnheit bereitete meinem Freunde Toby Dammit denn auch jenes schreckliche Ende, das ich prophezeit hatte. Die böse Neigung war mit ihm gewachsen und groß und stark geworden, so dass er, als er zum Manne geworden, auch nicht einen Satz aussprechen konnte, ohne ihn mit dem Vorschlag zu einer Wette zu spicken. Nicht, dass er jemals wirklich wettete –, o nein! Ich muss meinem Freunde die Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, dass er gerade sooft Eier gelegt wie wirklich gewettet hat. Die Angewohnheit war weiter nichts als eine Formel, der er selbst nicht den mindesten Sinn beilegte. Es waren einfache, wenn nicht ganz und gar unschuldige Füllwörtchen, mit denen er seine Sätze abzurunden pflegte. Wenn er sagte: „Ich verwette das und das“, so dachte kein Mensch daran, ihn beim Worte zu nehmen. Ich jedoch hielt es für meine Pflicht, ihn zur Rede zu stellen; die Angewohnheit war gar zu unmoralisch, und ich sagte es ihm ins Gesicht, ja! ich bat ihn, mir zu glauben, dass sie sogar ziemlich unfein sei. In der Gesellschaft sei sie verpönt – hier sprach ich die reine Wahrheit. Das Gesetz habe sie verboten – ich hatte nicht die geringste Absicht, eine Lüge zu äußern. Ich machte ihm Vorstellungen –vergebens. Ich bat – er lächelte. Ich flehte ihn an – er lachte. Ich predigte – er höhnte. Ich drohte er fluchte. Ich schlug ihn – er rief die Polizei. Ich zog an seiner Nase – er schnaubte sie und rief, er wolle dem Teufel seinen Kopf verwetten, dass ich das nicht zum
zweitenmal riskieren würde.

Armut war ein anderes Laster, das sich durch einen körperlichen Mangel seiner Mutter auf meinen Freund Toby Dammit übertragen hatte. Er war in ganz verabscheuenswertem Grade arm, und dies war ohne Zweifel der Grund, weshalb seine Füllwörtchen-Wetten selten eine pekuniäre Wendung nahmen. Ich muss gestehen, dass ich ihn niemals eine Wette aussprechen hörte, wie: ›Ich verwette einen Taler‹, sagte er meistens: ›Ich wette, um was Sie wollen‹ oder ›Ich wette um alles in der Welt‹ oder ›Ich wette um jeden Kram‹ oder, schon bedeutungsvoller, besagtes: ›Ich verwette dem Teufel meinen Kopf.‹

Diese letzte Formel schien ihm am besten zu gefallen, vielleicht, weil sie das kleinste Risiko enthielt, denn Dammit war ein außerordentlich sparsamer Mensch. Sein Kopf war klein, und hätte ihn irgend jemand beim Worte genommen, so wäre auch sein Verlust nur klein gewesen. Doch dies sind meine eigenen Gedanken, und ich weiß nicht, ob ich sie mit Recht auch ihm zuschreiben darf. Jedenfalls stieg die fragliche Phrase stetig in seiner Gunst, obgleich es doch nichts Unschicklicheres geben kann, als einen Mann, der täglich sein Gehirn verwettet, wie wenn es sich um Banknoten handele, doch in diesem Punkte schien mein Freund in seiner verbrecherischen Gemütsverfassung ganz empfindungslos zu sein. Schließlich sah er von allen anderen Wettformeln gänzlich ab und beschränkte sich so hartnäckig und ausschließlich auf ›Ich verwette dem Teufel meinen Kopf‹, dass mich seine Beharrlichkeit sowohl verwunderte wie entsetzte. Über Dinge, die ich mir nicht erklären kann, bin ich immer entsetzt. Geheimnisse zwingen den Menschen zum Denken und schaden so der Gesundheit. In dem Ausdruck, mit welchem Herr Dammit diese seine Lieblingswette aussprach –, in seinem Tonfalle, in seinen Mienen – lag etwas, was mich zuerst interessierte und dann unruhig machte, etwas, das ich mangels eines modernen Ausdrucks ›übergeschnappt‹ nennen möchte, das
Herr Coleridge ohne Zweifel ›mystisch‹, Herr Kant ›pantheistisch‹, Herr Carlyle ›twistisch‹ und Herr Emerson ›hyper-quizzitistisch‹ genannt haben würde. Von Anfang an konnte ich es nicht ausstehen. Herrn Dammits Seelenheil war höchst gefährdet, und ich beschloss, meine ganze Beredsamkeit daran zu setzen, um ihn zu retten. Ich gelobte mir, ihm das zu sein, was der heilige Patrick der irischen Chronik zufolge für die Kröte war, das heißt, ›ihn zu einer klaren Erkenntnis seiner Lage zu bringen‹. Noch einmal begann ich, ihm Vorstellungen zu machen. Noch einmal fasste ich meine ganze Energie zu einem scharfen Verweise zusammen.

Als ich ausgeredet hatte, benahm sich Herr Dammit ziemlich unverständlich. Ein paar Augenblicke lang blieb er still und sah mir nur forschend ins Gesicht. Dann legte er den Kopf auf eine Seite und zog die Augenbrauen außerordentlich weit in die Höhe. Hierauf breitete er seine Handflächen vor mir aus und zuckte mit den Schultern. Nun zwinkerte er mit dem rechten Auge und wiederholte die Prozedur bald mit dem linken. Dann schloss er plötzlich beide ganz fest. Nicht lange danach riss er sie wieder so weit auf, dass mir um die Folgen bange wurde. Und nun brachte er seinen Daumen in Berührung mit seiner Nase und hielt es für angemessen, mit den übrigen Fingern eine nicht näher zu beschreibende Bewegung zu machen. Hierauf stemmte er die Arme in die Seite und ließ sich zu einer Antwort herab.

Ich erinnere mich jedoch nur der Hauptpunkte seiner Rede: „Er wäre mir sehr verbunden, wenn ich meinen Mund halten wollte; er habe kein Verlangen nach meinen Ratschlägen; meine Reden seien ihm Wurst; er sei alt genug, um seine Worte allein verantworten zu können. Ich hielte ihn wohl immer noch für das Baby Dammit; oder wollte ich vielleicht gar etwas gegen seinen Charakter sagen? Wollte ich ihn beleidigen? Wäre ich denn ganz verrückt? Und kurz – wüsste meine Mutter
überhaupt, dass ich so lange von Hause fort und allein auf der Straße wäre? Er stelle mir diese letzte Frage, weil er auf meine Aufrichtigkeit baue, und werde meine Antwort unbedingt für wahr halten. Er frage mich also nochmals ausdrücklich, ob meine Mutter wüsste, dass ich ausgegangen sei. Meine Verwirrung jedoch verrate mich, und er verwette dem Teufel seinen Kopf, dass sie es nicht wisse.“

Herr Dammit machte nicht die kleinste Pause, um mir Zeit zu einer Erwiderung zu gönnen, sondern drehte sich, sobald er ausgeredet, auf dem Absatze herum und machte sich eiligst fort. Und das war gut. Er hatte meine Gefühle tief verwundet, ja! meinen Zorn hatte er erregt. Und ich wäre gar zu gern auf seine frevelhafte Wette eingegangen und hätte für den Erzfeind Herrn Dammits kleinen Kopf gewonnen – denn meine Mama wusste wohl, dass ich für kurze Zeit ausgegangen war.

Aber, ›Khoda shefa midêhed‹ – der Himmel gibt Linderung, wie die Muselmänner sagen, wenn man sie auf den Fuß getreten hat. Edle Pflichterfüllung hatte mir die Beleidigung eingetragen, und ich trug sie mit Mannesmut. Doch musste ich mir sagen, dass ich nun alles getan hatte, was möglich war, um den Elenden zu retten. So beschloss ich denn, ihn nach seinem Wunsche nicht länger mehr mit meinen Ratschlägen zu belästigen, sondern seinem Gewissen zu überlassen. Aber trotz alledem konnte ich es nicht übers Herz bringen, seine Gesellschaft ganz und gar zu meiden. Ich ging sogar so weit, mich in einige seiner weniger tadelnswerten Neigungen zu fügen, und es konnte vorkommen, dass ich mich dabei überraschte, wie ich seine schlimmen Streiche lobte, mit Tränen in den Augen, wie es die Feinschmecker mit gutem Senf machen, denn so tief betrübte es mich, seine üblen Reden anhören zu müssen.

Eines schönen Tages waren wir Arm in Arm spazieren gegangen und kamen schließlich am Ufer des Flusses an die neue Brücke und beschlossen, hinüberzugehen. Die Brücke war, um bei Unwetter Schutz zu gewähren, überdacht worden, doch hatte sie nur wenige Fenster, so dass es unter ihrem Bogen sehr dunkel war. Als wir hineintraten, fiel mir der Kontrast zwischen der Helligkeit draußen und dem Dunkel drinnen gleich schwer auf die Seele. Dem unglückseligen Dammit ging es jedoch nicht so, denn er rief fidel, er wolle dem Teufel seinen Kopf verwetten, dass mir plötzlich ein unerklärlicher, unruhiger Verdacht aufstieg. Ich fragte mich und frage mich heute noch, ob es nicht möglich war, dass er Beziehungen zu transzendentalen Wesen hatte. Doch ist mir die Diagnose dieses Übels nicht geläufig genug, um hier mit Sicherheit Auskunft geben zu können, und unglücklicherweise ist auch keiner meiner Freunde vom ›Vierteljahr‹ zugegen. Ich erwähne diese Vermutung auch nur, weil mein Freund oft von einer gewissen gespenstermäßigen und unheimlichen Lustigkeit besessen war, die einen wahren Hanswurst aus ihm machen konnte. Nichts bereitete ihm dann größeres Vergnügen, als über alle Gegenstände, die ihm in den Weg kamen, hinüberzuklettern oder zu springen und dabei mit dem ernstesten Gesicht von der Welt alle möglichen verrückten kurzen und langen Worte auszurufen oder vor sich hin zu murmeln. Ich wusste nie recht, ob ich ihn bemitleiden oder durchprügeln sollte. Das nebenbei! Als wir nun an das Ende der besagten Brücke kamen, wurden wir plötzlich durch ein ziemlich hohes Drehkreuz in unserem Wege aufgehalten. Ich ging ruhig hindurch, indem ich es, wie jeder vernünftige Mensch tut, herumdrehte. Doch schien diese Drehung dem verdrehten Herrn Dammit nicht zu zusagen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, über das Drehkreuz zu springen, und behauptete noch dabei, in der Luft einen Bogen beschreiben zu können. Ich glaubte jedoch ganz bestimmt, dass er das nicht tun könne. Denn mein Freund, Herr Carlyle, konnte über alle möglichen Drehkreuze die schönsten Bogen schneiden, dies hier auf der Brücke jedoch wäre auch ihm zu hoch gewesen, und deshalb gl
aubte ich, dass Toby Dammit es auch nicht könne; ich sagte ihm daher mit ein paar Worten, dass er ein Prahlhans sei, der sein Wort nimmer wahr machen würde. Später musste ich es bitter bereuen – denn er antwortete mir unverzüglich, er verwette dem Teufel seinen Kopf, dass er es doch könne.

Ich wollte ihm trotz meines vorhin er wähnten Entschlusses mit einem Vorwurf über seine Gottlosigkeit antworten, als ich dicht neben mir ein Geräusch vernahm, das wie ein leiser Husten oder wie der bekannte Ausruf „hm!hm!“ klang. Ich fuhr ein wenig zusammen und blickte überrascht um mich. Meine Augen blieben plötzlich auf der Gestalt eines kleinen, lahmen, alten Herrn von ehrwürdigem Äußern haften, der in einer Nische in dem Holzwerk der Brücke stand. Man konnte sich tatsächlich nicht leicht etwas Ehrwürdigeres denken, denn er war nicht nur vollständig in Schwarz gekleidet, auch sein Hemd war tadellos sauber, und der Kragen schloss exakt über einer weißen Krawatte. Sein Haar hatte er vorn gescheitelt wie ein Mädchen und die Arme gedankenvoll über den Magen gekreuzt, während er die Augen sinnend nach oben gerichtet hielt.

Als ich näher hinsah, bemerkte ich, dass er über die anderen Kleidungsstücke eine schwarze Seidenschürze trug. Ich fand dies sonderbar, doch ehe ich noch eine Bemerkung machen konnte, sagte er ein zweites Mal: „Hm! hm!“

Ich war auf diese Bemerkung hin nicht sofort zu einer Antwort bereit, denn solch lakonische Meinungsäußerungen sind eigentlich überhaupt nicht zu beantworten. Ich habe z. B. eine Zeitschrift gekannt, die auf den einfachen Zuruf ›Unsinn‹ durchaus nicht eingehen konnte. Deshalb schäme ich mich auch gar nicht, einzugestehen, dass ich mich bei Herrn Dammit nach Hilfe umsah.

„Dammit!“ sagte ich, „was machen Sie denn eigentlich? Hören Sie denn nicht, dass dieser Herr eben ›hm! hm!‹ gesagt hat?“ Ich blickte meinen Freund bei diesen Worten streng an, denn, aufrichtig gesagt, war ich ziemlich perplex, und wenn ein Mann ziemlich perplex ist, muss er die Augenbrauen zusammenziehen und möglichst wild auszusehen versuchen, sonst gerät er leicht in Gefahr, plötzlich Ähnlichkeit mit einem Schafskopf zu haben.

„Dammit!“ sagte ich also, und es klang fast wie ›verdammt', obgleich mir im Augenblick nichts ferner lag, als zu fluchen. „Dammit! Der Herr sagte ›hm! hm!!‹“ Ich habe nicht die Absicht, diese meine Bemerkung für eine tiefsinnige zu erklären, ich hielt sie selbst nicht für tiefsinnig, doch habe ich schon angedeutet, dass die Wirkungen unserer Reden mit der Wichtigkeit, die sie in unseren Augen haben, nicht immer übereinstimmen. Wenn ich Herrn Dammit mit einer Bombe in die Luft gesprengt oder mit einem Exemplar der ›Poets and Poetry of Amerika‹ auf dem Kopfe herumgetrommelt hätte, so würde er doch kaum mehr aus der Fassung geraten sein, als da ich ihn mit den einfachen Worten anredete: „Dammit! Was machen Sie denn eigentlich? Hören Sie denn nicht, dass dieser Herr eben ›hm! hm! ‹ gesagt hat?“

„Wie? Wirklich?“ schnaufte er nach einer Weile, und dabei zeigte sein Gesicht mehr Farben, als ein Raubschiff beim Anblick eines Kauffahrers aufzieht. „Haben Sie bestimmt gehört, dass er das gesagt hat? Na, jedenfalls bin ich jetzt vollkommen ruhig und kann die Sache kühn in Angriff nehmen. Los also!“

Diese Worte schienen den kleinen alten Herrn zu erfreuen – Gott allein weiß, weshalb. Er kam aus der Nische heraus, hüpfte anmutig heran, fasste Dammit bei der Hand, schüttelte sie herzlich und sah ihn mit dem Ausdruck unverfälschtester Güte ins Gesicht.

„Ich bin sicher, Sie werden gewinnen, Herr Dammit“, sagte er mit dem freimütigsten Lächeln, „doch müssen wir der Form halber einen Vertrag aufsetzen.“

„Hm! hm!“ erwiderte mein Freund, legte mit einem tiefen Seufzer seinen Rock ab, band ein Taschentuch um seine Taille und änderte den Ausdruck seines Gesichtes, indem er die Augen zum Himmel aufschlug und seine Mundwinkel herunterhängen ließ. – „Hm! Hm!“ Und „hm! hm!“ sagte er nach einer kurzen Pause nochmals, und nach dieser Pause habe ich kein anderes Wort mehr von ihm gehört als: „hm! hm!“

›Aha‹, dachte ich bei mir, ohne meinen Gedanken Worte zu verleihen, ›es ist ja sehr sonderbar, dass Toby Dammit auch einmal schweigt, wahrscheinlich ist dies die Folge seiner Redseligkeit von vorhin. Die Extreme berühren sich. Es soll mich wundern, ob er die vielen nicht zu beantwortenden Fragen, die ermir an dem Tage stellte, an dem ich ihm meine letzte Rede hielt, auch vergessen hat? Jedenfalls jedoch ist er jetzt von den Beziehungen mit transzendentalen Wesen kuriert.‹

„Hm! hm!“ erwiderte Toby, als habe er meine Gedanken gelesen und sah dabei aus wie ein in Träumerei versunkenes Schaf.

Der alte Herr ergriff ihn jetzt beim Arme und führte ihn tiefer in den Schatten der Brücke hinein, ein paar Schritte von dem Drehkreuz weg. „Lieber Kerl“, sagte er dann, „es ist eine Gewissenssache, dass ich Ihnen diesen Sprung gestatte. Warten Sie hier, bis ich meinen Platz beim Drehkreuz wieder eingenommen habe, damit ich sehe, ob sie gut hinüberkommen und auch den Bogen nicht auslassen. Es ist ja nur der Form halber, wissen Sie. Ich werde kommandieren: Eins, zwei, drei und – los! Bei ›los!‹ springen Sie!“

Nun stellte er sich bei dem Drehkreuz auf, machte einen Augenblick lang, wie in tiefes Nachdenken versunken, Pause, blickte nach oben, lächelte, wie mir schien, leichthin, zog die Bänder seiner Schürze fester, sah Dammit lange an und sagte dann, wie verabredet: „Eins, zwei, drei und – los!“

Genau bei dem Worte „los!“ begann mein armer Freund seinen Anlauf. Das Drehkreuz war ja immerhin kein Kirchturm, und ich hoffte doch wohl, dass er drüber kommen werde. Und wenn er es nicht konnte? – das war hier die Frage – wenn er es nicht konnte? ›Welches Recht‹, fragte ich mich, ›hat dieser alte Herr, einen anderen Herrn zum Springen zu veranlassen? Der kleine, alte Einfaltspinsel! Wer ist er überhaupt? Wenn er mich etwa zum Springen auffordern sollte, ich täte es nicht, da könnte er Gift drauf nehmen, und im übrigen ist es mir egal, was für eine Art dummer Teufel er ist.‹

Die Brücke war also, wie gesagt, in ganz lächerlicher Weise bedeckt und hatte das unangenehmste Echo, das ich in meinem Leben gehört habe, doch fiel es mir erst auf, als es die vier letzten Worte, die gesprochen wurden, widerhallte.

Aber was ich sagte oder was ich dachte oder hörte, nahm nur einen Augenblick in Anspruch. In weniger als fünf Sekunden nach dem ersten Schritt des Anlaufs unternahm mein armer Toby den Sprung. Ich sah ihn hurtig laufen und kräftig vom Boden der Brücke emporspringen, wobei er mit den Beinen, als er sich in die Luft erhob, den tollsten Bogen zu drehen anfing, den ich je gesehen. Ich sah ihn hoch in der Luft gerade über dem Drehkreuz schweben und den Bogen zu Ende drehen und fand es ungewöhnlich sonderbar, dass er von da nicht weiter und auf die andere Seite herunter zu können schien. Doch der ganze Sprung dauerte ja bloß einen Augenblick, und ehe ich noch eine tiefere Bemerkung machen konnte, kam Herr Dammit mit dem Rücken platt auf den Boden zu liegen, und zwar auf derselben Seite des Drehkreuzes, von der aus er in die Höhe gesprungen war. Zu gleicher Zeit sah ich den alten Herrn, so rasch er konnte davonlaufen, nachdem er irgend etwas, das in der Dunkelheit der Brücke über das Drehkreuz weg schwer in seine Schürze gefallen war, fest in dieselbe eingewickelt. Dieses alles setzte mich höchlichst in Erstaunen, doch hatte ich nicht Zeit, länger nachzudenken, denn Herr Dammit lag so sonderbar still da, dass ich schloss, er müsse sich in seinen tiefsten Gefühlen verletzt fühlen und bedürfe meiner Hilfe. Ich eilte zu ihm hin und musste leider konstatieren, dass er eine sozusagen hauptsächliche Verletzung erlitten hatte. Er war nämlich seines Kopfes beraubt worden, den ich selbst nach längerem Suchen in der Dunkelheit nirgends finden konnte. Ich beschloss also, meinen armen Freund nach Hause zu schaffen und einen Homöopathen holen zu lassen. Doch kam mir plötzlich noch ein Gedanke, ich riss ein Fenster in der Brückenwand auf, und wie ein Blitz durchfuhr mich die Erkenntnis der traurigen Wahrheit: Ungefähr fünf Fuß über dem Drehkreuz ragte aus dem letzten Brückenbogen eine flache Eisenstange hervor, die sich horizontal über die ganze Breite der Brücke erstreckte und mit vielen anderen dazu diente, dieselbe zu tragen. Offenbar war der Hals meines unglücklichen Freundes in allzu nahe Berührung mit dem scharfen Rande dieses Stützeisens gekommen.

Er überlebte seinen schrecklichen Verlust nicht lange. Die Homöopathen gaben ihm nicht wenig genug Medizin ein, und außerdem zögerte er noch sehr, das bisschen, was sie ihm gaben, zu nehmen. Es ging ihm immer schlechter und endlich starb er ganz. Ich betaute sein Grab mit meinen Tränen und schickte den Metaphysikern eine sehr mäßige Rechnung für die Begräbniskosten. Die Schufte weigerten sich aber, diese zu bezahlen und ich ließ daraufhin Herrn Dammit wieder ausgraben und verkaufte ihn als Hundefutter.


ENDE


Quelle: https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0806-08.pdf


Joe C. Whisper

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