Aus der Reihe „Perlen der Literatur“ – „Über den Zynismus der Jugend“ - Essay - von Bertrand Russel
Werte Steemis,
aus der Reihe „Perlen der Literatur und nach literarisch, üppiger Kost, gibt es heute ein leicht verdauliches Essay von Bertrand Russel.
Zu den Perlen der Literatur gehört sicher auch Bertrand Russels Buch „Lob des Müßiggangs“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Aus diesem Buch möchte ich euch ein kurzes Essay vorstellen „Über den Zynismus der Jugend“.
Meine einzige Kritik: Russel sollte in jedem guten Bücherregal zu finden sein, es ist nicht nur ein Vergnügen ihn zu lesen, seine überlegene Intelligenz, ist erschreckend schön.
Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.
Bertrand Russel
Über den Zynismus der Jugend
Über den Zynismus der Jugend
Wer immer sich die abendländischen Universitäten näher ansieht, wird bestürzt feststellen, dass heutzutage die intelligenten jungen Menschen in weit höherem Maße zynisch sind, als das früher der Fall war. Das trifft nicht zu für Russland, Indien, China oder Japan; ich glaube auch nicht, dass es sich in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und Polen, geschweige denn durchweg in Deutschland so verhält; in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten ist es aber bestimmt ein hervorstechendes, charakteristisches Merkmal der intelligenten Jugend. Um verstehen zu können, warum die Jugend im Westen zynisch ist, müssen wir erkennen, warum sie es im Osten nicht ist.
In Russland sind die jungen Menschen nicht zynisch, weil sie alles in allem die kommunistische Philosophie zu ihrer eigenen machen, und ihr großes Land birgt reiche Naturschätze, die nur darauf warten, mit Hilfe der Intelligenz erschlossen und ausgebeutet zu werden. Die jungen Leute haben daher eine Laufbahn vor sich, für die sich nach ihrer Ansicht der Einsatz lohnt. Man braucht sich nicht mit Lebensphilosophien den Kopf zu zerbrechen, wenn man beim Aufbau eines Utopia eine Ölleitung legt, eine Bahnlinie baut oder Bauern lehrt, wie man auf dem Land Ford-Traktoren gleichzeitig auf einer sechs Kilometer breiten Strecke anzusetzen hat. Infolgedessen ist die russische Jugend von Lebenskraft und glühender Überzeugung erfüllt.
In Indien beruht alles bei den ernsthaft bemühten jungen Menschen auf der Überzeugung, dass England grundsätzlich schlecht sei: von dieser Voraussetzung läßt sich, wie von der Existenz bei Descartes, eine ganze Philosophie ableiten. Aus der Tatsache, dass England christlich ist, folgt, dass -je nach-dem - der Hinduismus oder Mohammedanismus die einzig wahre Religion ist. Daraus, dass England kapitalistisch und industriell ist, ergibt sich - je nach dem Temperament des betreffenden Logikers - entweder, dass man überhaupt nur mit dem Spinnrad arbeiten sollte oder dass Schutzzölle erhoben werden sollten, um im eigenen Lande einen Industrialismus und Kapitalismus zu entwickeln und auf diesem einzig möglichen Wege die Briten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können. Weil die Briten Indien mit Gewalt halten, ist natürlich nur die geistige, moralische Macht bewunderungswürdig. dass nationalistische Bestrebungen in Indien verfolgt werden, genügt gerade, um sie heroisch, nicht aber, um sie nutzlos erscheinen zu lassen. Auf diese Weise bewahren die Anglo-Inder die intelligente indische Jugend vor dem Gifthauch des Zynismus.
Auch in China hat der Hass auf England eine Rolle gespielt, wenn auch eine weit geringere als in Indien, weil die Engländer das Land niemals erobert haben. Die chinesische Jugend verbindet Patriotismus mit echter Begeisterung für alles Abendländische, wie es vor fünfzig Jahren in Japan üblich war. Sie möchten das chinesische Volk aufgeklärt und gebildet, frei und glücklich sehen, und ihre Arbeit ist auf dieses Ergebnis ausgerichtet. Ihre Ideale sind im großen und ganzen die des neunzehnten Jahrhunderts, die man in China noch nicht als veraltet anzusehen begonnen hat. Zynismus gab es in China im Zusammenhang mit der Beamtenschaft des kaiserlichen Regimes, er hielt sich auch unter den einander widerstreitenden Militaristen, die das Land seit 1911 zerrüttet haben; aber in der Mentalität der modernen Intellektuellen nimmt er keinen Raum ein.
In Japan ähneln die Auffassungen der jungen Intellektuellen etwa denen, die auf dem europäischen Kontinent zwischen 1815 und 1848 vorherrschten. Die Parolen des Liberalismus sind noch stark wirksam: parlamentarische Regierung, Freiheit des Untertans, Gedankenfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung. Der Kampf dieser Auffassungen gegen den traditionellen Feudalismus und die Autokratie hält die jungen Menschen hinreichend in Bewegung und Begeisterung.
Dem sophistisch infizierten westlichen jugendlichen erscheint dieser ganze Eifer läppisch und unreif. Er ist fest davon überzeugt, alles durchschaut zu haben, wenn er nur alles unvoreingenommen studiert hat; damit glaubt er auch zugleich zu wissen, dass »nichts Achtungswertes sich mehr darbietet unter dem spähenden Mond«*. Natürlich lassen sich reichlich viel Gründe für diese Ansicht in den Lehren der Alten finden. Ich glaube allerdings nicht, dass diese Gründe der Sache an die Wurzel gehen, denn unter anderen Umständen pflegen die jungen den Lehren der Alten entgegenzuwirken und sich ein eigenes Evangelium zu schaffen. Wenn die abendländische Jugend heute mit Zynismus reagiert, muss das seine besondere Ursache haben. Denn die Jugendlichen sind nicht nur unfähig zu glauben, was man ihnen erzählt, sie scheinen auch unfähig zu sein, irgend etwas anderes zu glauben. Das ist ein so eigentümlicher Zustand, dass er nähere Untersuchung verlangt.
(Shakespeare, »Antonius und Cleopatra, 4. Akt, 13. Szene. (Anmerk. d. Übers.))
Wir wollen uns einige der alten Ideale nacheinander vornehmen und nachforschen, warum sie nicht mehr die alte Loyalität, Begeisterung und Hingabe erwecken. Aus der Reihe solcher Ideale können wir etwa anführen: Religion, Vaterland, Fortschritt, Schönheit, Wahrheit. Was ist nun daran nach Ansicht der jungen Menschen nicht in Ordnung ?
Religion. - Die Schwierigkeiten sind hier teils intellektuell, teils sozial begründet. Aus intellektuellen Gründen sind heute nur noch wenige tüchtige und vortreffliche Menschen so intensiv religiös gläubig, wie es etwa dem heiligen Thomas von Aquino möglich war. Der Gott der meisten modernen Menschen ist etwas Unklares und in Gefahr, zu einer ››Lebenskraft« zu degenerieren oder zu einer »dauernden Kraft, nicht wir selbst, die das Rechte setzt«. Selbst Gläubige beschäftigen sich viel mehr mit den Auswirkungen der Religion in dieser Welt als mit jener anderen Welt, an die sie angeblich glauben; dass diese Welt zur Ehre Gottes geschaffen wurde, dessen sind sie nicht annähernd so sicher, wie dass Gott eine nützliche Hypothese ist, um das Diesseits zu vervollkommnen. Sie ordnen Gott den Erfordernissen des irdischen Lebens unter und erwecken damit Misstrauen gegenüber der Aufrichtigkeit ihres Glaubens. Sie scheinen anzunehmen, dass Gott wie der Sabbat für den Menschen geschaffen wurde. Aber es sprechen auch soziologische Gründe dafür, die Kirche nicht mehr als Basis eines modernen Idealismus anzuerkennen. Infolge ihrer Besitztümer und Stiftungen haben sich die Kirchen mit der Verteidigung des Eigentums beschäftigen müssen. Außerdem vertreten sie auch eine unerbittliche Ethik, die viele Freuden verdammt, welche den jungen Menschen harmlos erscheinen, und manche Pein und Qual auferlegt, die dem Skeptiker unnötig grausam erscheint. Ich habe ernsthaft bemühte junge Menschen gekannt, die sich voll und aufrichtig die Lehre Christi zu eigen gemacht hatten; sie befanden sich in Opposition zum offiziellen Christentum, Verstoßene, der Verfolgung ausgesetzt, gerade so, als wären sie militante Atheisten gewesen.
Vaterland. - Der Patriotismus war vielfach und an vielen Orten eine leidenschaftliche Überzeugung, der die besten Köpfe voll und ganz zustimmen konnten. So verhielt es sich in England zur Zeit Shakespeares, in Deutschland zur Zeit Fichtes, in Italien zur Zeit Mazzinis. So verhält es sich noch heute in Polen, China und der Äußeren Mongolei. Bei den westlichen Nationen ist er noch ständig ungeheuer stark: er beherrscht die Politik, die öffentlichen Ausgaben, die Rüstung und so fort. Aber die intelligente Jugend ist unfähig, ihn als angemessenes Ideal anzuerkennen; sie spürt, dass Patriotismus gut und schön für unterdrückte Völker ist, dass aber der zuvor heroische Nationalismus tyrannisch wird, sobald eine unterdrückte Nation ihre Freiheit errungen hat. Die Polen, denen die Sympathie der Idealisten gehörte, seit Maria Theresia »weinte, aber nahm«, haben ihre Freiheit zu organisierter Unterdrückung in der Ukraine benützt. Die Iren, denen die Briten achthundert Jahre lang die Zivilisation aufgezwungen hatten, bedienten sich ihrer Freiheit, um Gesetze gegen die Veröffentlichung vieler guter Bücher zu erlassen. Das Schauspiel der Ukrainer mordenden Polen und der Literatur mordenden Iren lässt den Nationalismus als ein selbst für kleine Staaten ungeeignetes Ideal erscheinen. Für den Nationalismus eines mächtigen Staates aber trifft das Argument in noch höherem Maße zu. Der Vertrag von Versailles wirkte nicht sehr ermutigend auf diejenigen, die das Glück gehabt hatten, bei der Verteidigung der Ideale, die ihre Herrscher verrieten, mit dem Leben davonzukommen. Diejenigen, die während des Krieges behaupteten, den Militarismus zu bekämpfen, wurden nach Kriegsende jeweils zu führenden Militaristen in ihrem Heimatland. Solche Tatsachen haben allen intelligenten jungen Menschen gezeigt, dass der Patriotismus der schlimmste Fluch unseres Zeitalters ist und der Zivilisation ein Ende bereiten wird, wenn es nicht gelingt, ihn abzuschwächen.
Fortschritt. - Das ist ein Ideal des neunzehnten Jahrhunderts, dem für die sophistisch infizierte Jugend von heute zu viel Babbitt-Atmosphäre anhaftet. Ein messbarer Fortschritt steckt unumgänglich in unwichtigen Dingen wie etwa der Produktionsziffer der Automobile oder der Anzahl der konsumierten Erdnüsse. Die wahrhaft wichtigen Dinge aber sind nicht messbar und eignen sich daher nicht für die Methoden des Spekulanten. Außerdem haben viele moderne Erfindungen die Tendenz, die Leute verrückt zu machen. Ich könnte das Radio, den Tonfilm und das Giftgas anführen. Shakespeare maß die Bedeutung eines Zeitalters am Stil seiner Dichtungen (siehe Sonett XXXII), aber diese Art der Bewertung ist heute unmodern geworden.
Schönheit. - Irgend etwas mutet altmodisch an bei dem Wort ››Schönheit«, obwohl das schwer zu erklären und zu begründen ist. Aber ein moderner Maler wäre entrüstet, wollte man ihn beschuldigen, die Schönheit zu suchen. Die meisten Künstler scheinen heute von einer gewissen Wut gegen die Welt erfüllt zu sein, so dass sie offenbar eher bestrebt sind, bewusste Qual als ungetrübte Befriedigung zu bereiten. Überdies stellen viele Arten der Schönheit die Anforderung, dass ein Mensch sich selbst ernster nimmt, als es einem intelligenten Modernen möglich ist. Der hervorragende Bürger eines kleinen Stadtstaats wie Athen oder Florenz konnte sich unschwer als wichtige Persönlichkeit fühlen. Die Erde war der Mittelpunkt des Universums, der Mensch die Krone der Schöpfung, seine eigene Stadt wies die vortrefflichsten Menschen auf, und er wiederum gehörte zu den Bedeutendsten unter diesen Vortrefflichen. Unter solchen Umständen konnten Aischylos oder Dante die eigenen Freuden und Leiden ernst nehmen. Der Dichter konnte wohl das Gefühl haben, dass es auf die Gefühle des einzelnen ankommt und dass tragische Begebenheiten es verdienen, in unsterblichen Versen verherrlicht zu werden. Der moderne Mensch aber ist sich, wenn er mit Unglück geschlagen wird, seiner selbst nur als Einheit in einem statistischen Ganzen bewusst; er sieht Vergangenheit und Zukunft nur wie eine trostlose Kette von alltäglichen Enttäuschungen und Niederlagen vor sich. Der Mensch selbst wirkt wie ein recht lächerlich einher stolzierendes Tier, das in dem kurzen Zeitraum eines in die Stille der Unendlichkeit eingeschalteten Zwischenspiels herumschreit und unnütz geschäftig ist. ›› . . . der natürliche Mensch ist nichts mehr als solch ein armes, nacktes zweizinkiges Tier«, sagt König Lear, und der Gedanke treibt ihn zum Wahnsinn, weil er ungewöhnlich ist. Dem modernen Menschen aber ist dieser Gedanke vertraut, und er treibt ihn nur in die Mittelmäßigkeit.
Wahrheit. - In alter Zeit war die Wahrheit etwas Absolutes, Ewiges und dem Menschen Übergeordnetes. Ich selbst war früher auch einmal dieser Überzeugung und vergeudete meine Jugend mit der hingebungsvollen Suche nach der Wahrheit. Aber ein ganzes Heer von Feinden hat sich zur Vernichtung der Wahrheit erhoben: Pragmatismus, Behaviourismus, Psychologismus und Relativitätsphysik. Galilei und die Inquisition waren uneins in der Frage, ob die Erde sich um die Sonne oder die Sonne sich um die Erde drehe. Einig aber waren sich beide darin, dass zwischen diesen beiden Auffassungen ein gewaltiger Unterschied bestünde. Doch der Punkt, in dem sie übereinstimmten, war gerade derjenige, in dem sie beide irrten: der Unterschied ist nur ein Unterschied der Worte. In alter Zeit war es möglich, die Wahrheit anzubeten; ja, die Lauterkeit dieser Anbetung wurde sogar durch den Brauch der Menschenopfer bewiesen. Aber eine rein menschliche und relative Wahrheit anzubeten ist schwierig. Nach Eddington ist das Gesetz der Schwerkraft nur ein bequemes Übereinkommen für Messzwecke. Es ist nicht wahrer als andere Auffassungen auch, so wenig wie das Metersystem wahrer ist als das des Fußes und der Elle.
Natur und ihr Gesetz in tiefem Dunkel lag.
Gott sprach: »Last Newton sein«,
Und das Messen ward erleichtert.
Diesem Spruch mangelt doch wohl Erhabenheit. Wenn Spinoza etwas glaubte, fühlte er sich dabei in der Gnade der geistigen Gottesliebe. Der moderne Mensch glaubt weder – mit Marx - von wirtschaftlichen Motiven beherrscht zu sein, noch - mit Freud - dass es sexuelle Motive seien, die seinem Glauben an die Exponential-Theorie oder die Verbreitung der Fauna im Roten Meer zugrunde liegen. In keinem dieser Fälle vermag er Spinozas Ekstase zu teilen.
Bisher haben wir den modernen Zynismus rationalistisch als etwas auf intellektuellen Ursachen Beruhendes betrachtet. Moderne Psychologen erzählen uns aber unermüdlich, dass der Glaube selten durch rationale Motive bestimmt ist, und dasselbe gilt für den Unglauben, obgleich Skeptiker diese Tatsache oft übersehen. Ein weitverbreiteter Skeptizismus hat aber höchstwahrscheinlich eher soziologische als intellektuelle Ursachen. Die Hauptursache ist stets Komfort und Macht. Menschen, die Macht in Händen haben, sind nicht zynisch, weil sie imstande sind, die Verwirklichung ihrer Ideale zu erzwingen. Die Opfer der Unterdrückung sind nicht zynisch, weil sie hasserfüllt sind, und der Hass zieht, wie jedes leidenschaftliche Gefühl, eine Kette von glaubensstarken Überzeugungen nach sich. Vor der Zeit der allgemeinen Bildung, der Demokratie und der Massenproduktion hatten die Intellektuellen allenthalben auf die Entwicklung der Dinge einen beträchtlichen Einfluss, der auch nicht abnahm, selbst wenn man ihnen die Köpfe abschlug. Der moderne Intellektuelle befindet sich in ganz anderer Situation. Es ist keineswegs schwierig für ihn, sich einen fetten Posten und ein gutes Einkommen zu verschaffen, vorausgesetzt, dass er bereit ist, als Werbechef oder Hofnarr seine Dienste einem stupiden reichen Mann zu verkaufen. Die Massenproduktion und allgemeine Schulbildung haben bewirkt, dass die Stupidität heute fester und breiter verwurzelt ist als jemals seit Beginn der Zivilisation. Als die zaristische Regierung Lenins Bruder umbrachte, wurde Lenin dadurch nicht zum Zyniker, weil der Hass ihn sein Leben lang zu einer Aktivität anspornte, die ihm schließlich Erfolg brachte. Aber in den gediegeneren westlichen Ländern ist selten eine so zwingende Ursache zu hassen oder eine derartige Gelegenheit zu augenfälliger Rache gegeben. Aufgetragen und bezahlt wird heute den Intellektuellen ihre Arbeit von den Regierungen oder reichen Leuten, deren Vorhaben den betreffenden Intellektuellen wahrscheinlich absurd, wenn nicht gar verderblich erscheint. Aber ein gewisses Maß von Zynismus ermöglicht es ihnen, ihr Gewissen der Situation anzupassen. Es gibt allerdings einige Berufe, in denen von den gegenwärtig herrschenden Kräften wahrhaft bewundernswerte Leistungen verlangt werden, in erster Linie auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und in zweiter Linie auf dem Gebiet der öffentlichen Bauten in Amerika. Wenn aber jemand, wie es nur allzu oft der Fall ist, eine reine gelehrte Hochschulbildung genossen hat, dann steht er mit zweiundzwanzig Jahren trotz seiner beachtlichen Fähigkeiten da, ohne sie auch nur auf irgendeine, ihm wesentlich erscheinende Weise praktisch anwenden zu können. Wissenschaftler sind selbst im Westen nicht zynisch, weil sie mit voller Anerkennung durch die Allgemeinheit beste Geistesarbeit leisten dürfen; aber damit nehmen sie auch eine ungewöhnlich glückliche Ausnahmestellung unter den modernen Intellektuellen ein.
Wenn diese Diagnose stimmt, dann ist der moderne Zynismus nicht nur durch Strafpredigten zu heilen oder dadurch, dass man den Jugendlichen bessere Ideale vor Augen fuhrt als diejenigen, die ihre Seelenhirten und Schulmeister für sie aus der Mottenkiste des überlebten Aberglaubens hervorzerren. Heilung kann nur erfolgen, wenn die Intellektuellen eine berufliche Laufbahn einschlagen können, die ihren schöpferischen Impulsen entspricht. Ich kenne kein besseres Rezept als das altbekannte, von Disraeli empfohlene: ››Erzieht eure Erzieher« Aber es müsste eine wirklichkeitsnähere Erziehung sein als diejenige, die heutzutage sowohl Proletariern wie Plutokraten vermittelt wird, und diese Erziehung wird auch echten kulturellen Werten etwas Rechnung tragen müssen und nicht nur dem utilitaristischen Wunsch, so viele Güter zu produzieren, dass kein Mensch mehr Zeit hat, sie zu genießen. Niemand darf als Arzt praktizieren, ehe er etwas vom menschlichen Körper versteht, aber ein Finanzmann darf ungehindert seine Tätigkeit ausüben ohne die geringste Kenntnis ihrer mannigfaltigen Auswirkungen, abgesehen allein von der Auswirkung auf sein Bankkonto. Wie schön müsste es in einer Welt sein, wo niemand an der Börse handeln dürfte, der nicht ein Examen in Volkswirtschaft und griechischer Dichtung abgelegt hat, und in der die Politiker gezwungen wären, über angemessene Kenntnisse der Geschichte und modernen Literatur zu verfügen. Man stelle sich einen Finanzmagnaten angesichts der Frage vor: ››Wenn Sie einen Großaufkauf in Weizen vornehmen wollen, wie würde sich das auf die deutsche Dichtung auswirken ?« In der modernen Welt ist die Ursächlichkeit viel umfassender und viel weiter verzweigt als je zuvor infolge der Zunahme an großen Organisationen; diejenigen aber, die diese Organisationen beherrschen, sind unwissende Menschen, die nicht einmal ein Hundertstel der Folgen ihrer Handlungen kennen. Rabelais veröffentlichte sein Buch anonym aus Furcht, seine Stellung an der Universität zu verlieren. Ein moderner Rabelais würde das Buch gar nicht erst schreiben, weil er wüsste, dass die vervollkommneten Methoden der Publizität den Schleier seiner Anonymität nicht respektieren würden. Die Männer, die die Welt beherrschen, sind immer stupid, aber in der Vergangenheit nie so mächtig gewesen wie heute. Daher ist es wichtiger denn je, Mittel und Wege zu finden und dafür zu sorgen, dass sie in Zukunft intelligent sind. Ob dies Problem unlösbar ist? Ich glaube nicht, aber ich bin bestimmt der letzte, der behaupten würde, dass es leicht zu lösen wäre.
Quelle: http://find.nlc.cn/search/doSearch?query=bertrant%20russel&secQuery=&actualQuery=bertrant%20russel&searchType=2&docType=%E5%85%A8%E9%83%A8&isGroup=isGroup&targetFieldLog=%E5%85%A8%E9%83%A8%E5%AD%97%E6%AE%B5&fromHome=true
Quelle: http://www.nl.go.kr/nl/search/search.jsp?all=on&topF1=title_author&kwd=Bertrand+Russell
Quelle: https://search.rsl.ru/ru/search#q=bertrand%20russel
Joe C. Whisper