Aus der Reihe „Perlen der Literatur“ - Bertrand Russel - „Die abendländische Zivilisation“ - Essay

in #deutsch6 years ago (edited)

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Perlen der Literatur und nach literarisch, üppiger Kost, gibt es heute ein leicht verdauliches Essay von Bertrand Russel.

Zu den Perlen der Literatur gehört sicher auch Bertrand Russels Buch „Lob des Müßiggangs“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Aus diesem Buch möchte ich euch ein kurzes Essay vorstellen „Die abendländische Zivilisation“.

Meine einzige Kritik: Russel sollte in jedem guten Bücherregal zu finden sein, es ist nicht nur ein Vergnügen ihn zu lesen, seine überlegene Intelligenz, ist erschreckend schön.

Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.


Essay

Bertrand Russel

Die abendländische Zivilisation


Die eigene Zivilisation in der richtigen Perspektive zu sehen, ist keineswegs einfach. Es gibt aber drei Wege, die unverkennbar zu diesem Ziel führen, nämlich Reisen, Studium der Geschichte und der Anthropologie; und was ich zu sagen haben werde, stützt sich auf diese drei gemeinsam; doch ist keiner der drei Faktoren allein bei dem Bemühen um Objektivität eine so große Hilfe, wie es den Anschein hat. Der Reisende sieht nur, was ihn interessiert; Marco Polo beispielsweise bemerkte niemals die winzigen Füße der chinesischen Frauen. Der Historiker ordnet die Ereignisse entsprechend dem Modell seiner vorgefassten Meinungen: so wurde etwa der Verfall Roms abwechselnd dem Imperialismus, dem Christentum, der Malaria, der Ehescheidung und der Fremdeinwanderung zugeschrieben - den beiden letzten Fakten mit Vorliebe in Amerika jeweils durch Geistliche und Politiker. Der Anthropologe greift Tatsachen heraus und deutet sie, beides gemäß den herrschenden Vorurteilen seiner Zeit. Was wissen denn wir, die wir zu Hause sitzen, wirklich von dem sogenannten Wilden? Der Anhänger Rousseaus sagt, er sei edel, der Imperialist bezeichnet ihn als grausam; kirchlich gesinnte Anthropologen erklären ihn als einen tugendhaften Familienvater, während diejenigen, die sich für eine Reform der Scheidungsgesetze einsetzen, behaupten, er lebe in freier Liebe; Sir James Fraser sagt, er brächte beständig seinen Gott um, während andere erklären, er sei unentwegt mit kultischen Zeremonien beschäftigt. Kurzum, der Wilde ist ein gefälliger Bursche, der alles und genau das tut, was nach den Theorien der Anthropologen gerade erforderlich ist. Ungeachtet dieser Nachteile sind Reisen, Geschichtsbetrachtung und Anthropologie die besten Mittel, und wir sollten den höchstmöglichen Nutzen daraus ziehen.

Zunächst einmal, was ist Zivilisation? Sie scheint mir in erster und wesentlichster Linie charakterisiert durch die Vorsorge. Das ist es, was in der Hauptsache die Menschen von den Tieren und die Erwachsenen von den Kindern unterscheidet. Da es aber in der Vorsorge Gradunterschiede gibt, können wir mehr oder minder zivilisierte Völker und Epochen an dem Ausmaß der Vorsorge erkennen, die sie betreiben. Und Vorsorge ist ziemlich präzise messbar. Ich will damit nicht sagen, dass die Durchschnittsvorsorge einer Gemeinschaft umgekehrt proportional dem Zinsfuß sei, obwohl das eine Ansicht ist, die sich vertreten ließe. Wohl aber können wir sagen, dass sich der Grad der in jeder Handlung einbegriffenen Vorsorge an drei Faktoren ermessen lässt: gegenwärtigen Leiden, zukünftigen Freuden und der Länge des dazwischenliegenden Zeitraums. Das heißt, man gewinnt die Größe ››Vorsorge«, indem man die gegenwärtigen Leiden durch die zukünftigen Freuden dividiert und das Ergebnis mit dem Zwischenraum zwischen beiden multipliziert. Es besteht aber ein Unterschied zwischen individueller und kollektiver Vorsorge. In einer aristokratischen oder plutokratischen Gemeinschaft kann der eine die gegenwärtigen Leiden erdulden, indes ein anderer die künftigen Freuden genießt. Das erleichtert die kollektive Vorsorge. In diesem Sinne beweisen alle charakteristischen Leistungen des Industrialismus einen hohen Grad von kollektiver Vorsorge: wer Eisenbahnen, Häfen oder Schiffe baut, tut damit etwas, dessen Nutzen für die Allgemeinheit erst Jahre später geerntet werden kann.

Allerdings betreibt in der neuzeitlichen Welt niemand soviel Vorsorge wie die alten Ägypter mit dem Einbalsamieren ihrer Toten, denn das geschah im Hinblick auf ihre Auferstehung nach einigen zehntausend Jahren. Damit komme ich zu einem weiteren, für die Zivilisation wesentlichen Element, nämlich zum Wissen. Auf Aberglauben gegründete Vorsorge kann nicht als wahrhaft zivilisiert gelten, obwohl sie zu einer geistigen Einstellung führen kann, die für die Entwicklung einer echten Zivilisation wichtig ist. So hat es beispielsweise die puritanische Gepflogenheit, alle Freuden dem zukünftigen Leben im Jenseits vorzubehalten, unzweifelhaft erleichtert, das für den Industrialismus erforderliche Kapital anzusammeln. Daher könnten wir Zivilisation etwa so definieren: Eine auf der Verbindung von Wissen und Vorsorge beruhende Lebensweise.

Die Zivilisation in diesem Sinne begann mit dem Ackerbau und dem Zähmen der Wiederkäuer zu Haustieren. Es ist noch gar nicht so lange her, dass eine scharfe Trennung bestand zwischen den ackerbautreibenden und den Hirtenvölkern. Wir lesen in der Genesis (I. Mose 46, 31-34), wie sich die Israeliten im Lande Gosen statt in Ägypten niederlassen mussten, nur weil die Ägypter die Hirtenvölker ablehnten »Hierauf sagte Joseph zu seinen Brüdern und zu den anderen Angehörigen seines Vaters: ›Ich will jetzt hinfahren und dem Pharao Bericht erstatten und ihm melden: Meine Brüder sowie die Angehörigen meines Vaters, die bisher im Lande Kanaan gewohnt haben, sind zu mir gekommen. Diese Leute sind Hirten von Kleinvieh - sie sind von jeher Viehzüchter gewesen -, und sie haben ihr Kleinvieh, ihre Rinder und ihren gesamten Besitz mitgebracht.< Wenn euch dann der Pharao rufen lässt und euch fragt: ›Was ist euer Gewerbe?< so antwortet: ›Deine Knechte sind von Jugend auf bis jetzt Viehzüchter gewesen, wir wie auch schon unsere Väter<, damit ihr im Lande Gosen wohnen dürft, denn alle Hirten von Kleinvieh sind den Ägyptern ein Gräuel.« In den Reisebeschreibungen von M. Huc finden wir die gleiche Einstellung der Chinesen gegenüber den mongolischen Hirten. Im großen und ganzen hat der ackerbautreibende Typ stets die höhere Zivilisation vertreten und hat auch mehr mit Religion zu tun gehabt. Aber die Herden der Patriarchen hatten einen beträchtlichen Einfluss auf die jüdische Religion und von dort ausgehend auch auf das Christentum. Die Geschichte von Kain und Abel sollte propagandistisch beweisen, dass die Hirten tugendhafter sind als die Ackerbauer. Dessen ungeachtet beruhte die Zivilisation bis zur modernen Neuzeit hauptsächlich auf dem Ackerbau.

Bisher haben wir noch nicht untersucht, was die abendländische Zivilisation von der anderer Gebiete, wie etwa Indien, China, Japan und Mexiko, unterscheidet. Tatsächlich bestand vor dem Aufschwung der Naturwissenschaft ein weit geringerer Unterschied, als er sich seither entwickelt hat. Naturwissenschaft und Industrialismus sind heutzutage die charakteristischen Merkmale der westlichen Zivilisation; ich möchte aber zuvor untersuchen, wie es sich mit unserer Zivilisation vor der industriellen Revolution verhielt.

Wenn wir auf die Ursprünge der westlichen Zivilisation zurückgreifen, finden wir, dass alles, was sie von Ägypten und Babylonien übernommen hat, in den Grundzügen für alle Zivilisationen charakteristisch ist und nicht speziell kennzeichnend für das Abendland. Der eigentlich westliche Charakter beginnt mit den Griechen, die das deduktive Denken und die Geometrie erfanden. Ihre weiteren Verdienste waren entweder nicht eigentümlich oder sie gingen im dunklen Zeitalter verloren. Sie mögen in Literatur und Kunst Hervorragendes geleistet haben, doch unterschieden sie sich darin nicht grundsätzlich von verschiedenen anderen antiken Völkern. In den experimentierenden Naturwissenschaften brachten sie einige wenige Männer hervor, vor allem Archimedes, der moderne Methoden vorwegnahm; es gelang aber diesen Männern nicht, eine Schule oder Tradition zu schaffen. Der einzige hervorragende und entscheidende Beitrag der Griechen zur Zivilisation bestand im deduktiven Denken und der reinen Mathematik.

Die Griechen waren aber politisch unfähig, und ihr zivilisatorischer Beitrag wäre wahrscheinlich ohne die Regierungsbegabung der Römer verlorengegangen. Die Römer entdeckten, wie man ein großes Reich mit Hilfe eines Beamtentums und eines Rechtssystems zu regieren hat. In früheren Reichen hatte alles von der Stärke des Monarchen abgehangen, aber im Römischen Reich konnte der Kaiser von den Prätorianer-Garden ermordet und das Reich gleichsam zur öffentlichen Versteigerung angeboten werden, ohne daß der Regierungsapparat wesentlich erschüttert wurde – tatsächlich kaum mehr als heute bei den Wahlen. Die Römer haben offenbar die Tugend der Treue gegenüber dem unpersönlichen Staat erfunden, im Gegensatz zur Treue gegenüber der Person des Regenten. Die Griechen sprachen zwar von Patriotismus, ihre Politiker aber waren korrupt, und fast alle ließen sich zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Karriere von Persien bestechen. Der römische Begriff der Treue gegenüber dem Staat hat als wesentliches Element dazu beigetragen, im Abendland eine stabile Regierung zu schaffen.

Noch eines war erforderlich, um die abendländische Zivilisation in jener Form zu vollenden, wie sie vor Beginn der Neuzeit bestand, und das war das besondere Verhältnis zwischen Regierung und Religion, wie es durch das Christentum entstand. Das Christentum war ursprünglich völlig unpolitisch, da es im Römischen Reich aufblühte zum Trost für diejenigen, die die völkische und persönliche Freiheit verloren hatten; und vom Judentum übernahm es die Einstellung, die die Herrscher der Welt moralisch verurteilte. In der Zeit vor Konstantin entwickelte das Christentum eine Organisation, der die Christen mehr Hingabe und Treue schuldeten als selbst dem Staat. Als Rom verfiel, bewahrte und erhielt die Kirche in einzigartiger Synthese, was sich von der Zivilisation der Juden, der Griechen und der Römer als das Lebenskräftigste erwiesen hatte. Aus dem moralischen Eifer der Juden entwickelten sich die christlichen ethischen Gebote; aus der Vorliebe der Griechen für das deduktive Denken wurde die Theologie; nach dem Vorbild des römischen Imperialismus und seiner Jurisprudenz entstand das zentralisierte Kirchenregime und das kanonische Recht.

Obwohl diese Elemente einer hohen Zivilisation sich in gewissem Sinne das ganze Mittelalter hindurch erhielten, blieben sie doch lange Zeit mehr oder minder latent. Und die abendländische Zivilisation war tatsächlich zu jener Zeit nicht die beste aller bestehenden: sowohl die mohammedanische wie auch die chinesische waren ihr überlegen. Warum das Abendland dann plötzlich einen so rapide aufwärts strebenden Kurs einschlug, ist meiner Ansicht nach zu einem sehr großen Teil ein noch ungelöstes Rätsel. Man pflegt heutzutage zwar für alles und jedes wirtschaftliche Ursachen zu finden, aber nur darauf gegründete Erklärungen neigen zu unsachgemäßer Vereinfachung der Dinge. Mit wirtschaftlichen Ursachen allein lässt sich beispielsweise nicht der Verfall Spaniens erklären, den man eher der Intoleranz und Stupidität zuschreiben sollte. Auch der Aufschwung der Naturwissenschaften ist nicht wirtschaftlich zu begründen. Der allgemeinen Regel nach verfallen Zivilisationen einmal, es sei denn, sie fanden eine Verbindung mit einer fremden, ihnen überlegenen Zivilisation. Es hat nur einige sehr seltene Perioden in der Geschichte der Menschheit und einige wenige Gebiete gegeben, in denen sich ein spontaner Fortschritt zeigte. In Ägypten und Babylonien muss es allerdings einen spontanen Fortschritt gegeben haben, nachdem Schriftkunst und Ackerbau entwickelt worden waren; auch in Griechenland gab es etwa zweihundert Jahre lang einen spontanen Fortschritt, wie in Westeuropa seit der Renaissance. Ich glaube aber nicht, dass sich die allgemeinen sozialen Bedingungen in diesen Perioden und Gebieten irgendwie von denen in den verschiedenen anderen Gebieten und Perioden unterschieden haben, in denen es zu keinem Fortschritt kam. Ich kann daraus nur schließen, dass wir die großen Zeiten des Fortschritts einer kleinen Zahl von überragend fähigen Einzelpersönlichkeiten verdanken. Verschiedene soziale und politische Vorbedingungen waren natürlich notwendig, um sie zur Wirkung gelangen zu lassen, sie waren aber nicht allein ausreichend, denn derartige Bedingungen haben häufig bestanden, jedoch ohne die entsprechenden Persönlichkeiten, und dann gab es keinen Fortschritt. Wenn Kepler, Galilei und Newton im Kindesalter gestorben wären, würde sich die Welt, in der wir leben, weit weniger von der des sechzehnten Jahrhunderts unterscheiden, als es heute der Fall ist. Die Moral von der Geschieht' ist, daß wir mit dem Fortschritt nicht rechnen können: wenn einmal der Bedarf an hervorragenden Einzelpersönlichkeiten nicht gedeckt sein sollte, würden wir zweifellos in den Zustand einer byzantinischen Stagnation verfallen.

Etwas sehr Bedeutungsvolles verdanken wir dem Mittelalter, und das ist das System der parlamentarischen Regierung. Diese Institution ist deshalb so wichtig, weil sie es zum ersten Mal ermöglichen sollte, dass die Regierung eines großen Reiches den Regierten als von ihnen selbst gewählt erschien. Wo diesem System Erfolg beschieden ist, bewirkt es ein sehr hohes Maß an politischer Stabilität. Es hat sich jedoch in jüngster Zeit gezeigt, dass die parlamentarische Regierungsform kein auf alle Teile der Erde anwendbares Universalmittel ist. Tatsächlich scheint ihr Erfolg hauptsächlich auf die englisch sprechenden Nationen und die Franzosen beschränkt zu sein. Dennoch ist die durch dieses oder jenes Mittel bewirkte politische Kohäsion zum Kennzeichen der abendländischen Zivilisation im Gegensatz zur Zivilisation anderer Gebiete geworden. Das ist vor allem dem Patriotismus zuzuschreiben, der, wenn er auch im jüdischen Partikularismus und der römischen Treue dem Staat gegenüber wurzelt, eine sehr moderne Entwicklung ist, die mit dem englischen Widerstand gegen die Armada begann und ihren ersten dichterischen Ausdruck bei Shakespeare fand. Die vornehmlich auf dem Patriotismus beruhende politische Kohäsion hat im Westen seit Beendigung der Religionskriege ständig zugenommen und nimmt noch immer rasch zu. In dieser Hinsicht hat sich Japan als außerordentlich gelehriger Schüler erwiesen. Im alten Japan gab es ungestüme und aufrührerische Feudalbarone, ähnlich denen, die während des Krieges der weißen und der roten Rose England unsicher machten. Aber mit Hilfe der Feuerwaffen und des Schießpulvers, die die Schiffe mitbrachten, mit denen die christlichen Missionare nach Japan kamen, stellten die Shoguns den inneren Frieden her; und seit 1868 ist es der japanischen Regierung dank der Schulbildung und der Schinto-Religion gelungen, eine in sich so gleichförmige, entschlossene und geeinte Nation zu schaffen wie nur irgend im Westen.

Das höhere Maß an gesellschaftlicher Kohäsion in der modernen Welt ist sehr weitgehend auf die Veränderungen in der Kunst der Kriegführung zurückzuführen, die seit der Erfindung des Schießpulvers durchweg die Tendenz hatten, die Macht der Regierungen zu erweitern. Dieser Vorgang ist wahrscheinlich noch keineswegs abgeschlossen, ist aber infolge eines neuen Faktors erschwert: da die bewaffnete Macht in zunehmendem Maße mit Rücksicht auf ihre Versorgung mit Kriegsmaterial von den Industriearbeitern abhängig wird, sind auch die Regierungen immer stärker darauf angewiesen, sich die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung zu sichern. Das gehört in das Gebiet der Propagandatechnik, wobei anzunehmen ist, dass die Regierungen hier in naher Zukunft sehr rasche Fortschritte machen werden.

Während der letzten vierhundert Jahre hat sich in Europa der geschichtliche Vorgang eines gleichzeitigen Aufstiegs und Verfalls vollzogen: der Verfall der alten, von der katholischen Kirche verkörperten Synthese und der Aufstieg einer neuen, noch sehr unvollkommenen Synthese, die sich bisher auf den Patriotismus und die Naturwissenschaften stützt. Es ist nicht zu erwarten, daß eine wissenschaftlich untermauerte Zivilisation bei der Verpflanzung in andere Gebiete, die nicht unsere Vorgeschichte haben, dort die gleichen Züge tragen wird wie bei uns. Eine Naturwissenschaft mit dem Hintergrund des Christentums und der Demokratie wird völlig andere Ergebnisse erzielen als eine auf dem Ahnenkult und der absoluten Monarchie aufbauende Naturwissenschaft. Wir verdanken dem Christentum eine gewisse Achtung vor dem Individuum, aber diesem Gefühl steht die Naturwissenschaft völlig neutral gegenüber. Die Wissenschaft an sich bietet uns keinerlei ethische Ideen, und es ist noch zweifelhaft, welche ethischen Auffassungen einmal diejenigen ersetzen werden, die wir der Tradition verdanken. Die Tradition wandelt sich nur langsam, und unsere ethischen Vorstellungen sind in der Hauptsache noch die gleichen, wie sie dem vorindustriellen Regime angemessen waren; es ist jedoch nicht anzunehmen, daß es dabei bleiben wird. Allmählich werden die Menschen Gedankengänge entwickeln, die mit ihren äußeren Gewohnheiten in Einklang stehen, und Ideale aufstellen, die mit ihrer industriellen Technik übereinstimmen. Die Lebensweise verändert sich heute mit so stark beschleunigter Geschwindigkeit wie nie zuvor: die Welt hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren mehr gewandelt als in den vorangegangenen vier Jahrtausenden. Wenn Peter der Große ein Gespräch mit Hammurabi hätte führen können, dann hätten sie einander wohl ziemlich gut verstanden; aber keiner von beiden hätte einen modernen Finanz- oder Industriemagnaten begreifen können. Es ist eine seltsame Tatsache, dass die neuen Gedanken der modernen Zeit fast ausnahmslos technisch oder naturwissenschaftlich waren. Die Naturwissenschaft hat aber erst vor kurzem begonnen, die Entwicklung neuer sittlicher Ideen zu fördern, als sie die Nächstenliebe von den Ketten abergläubischer moralischer Überzeugungen befreite. Wo immer ein überkommenes Gesetz es fordert, den Menschen Leiden aufzuerlegen (wie beispielsweise mit dem Verbot der Geburtenkontrolle), wird eine gütigere Ethik für unmoralisch gehalten; infolgedessen gelten alle, deren besseres Wissen auf ihre ethischen Vorstellungen einzuwirken vermag, bei den Aposteln der Unwissenheit als verworfen. Es ist jedoch sehr zweifelhaft, ob eine Zivilisation, die sich so stark auf die Naturwissenschaften stützt wie die unsere, auf lange Sicht mit Erfolg jenes Wissen unterbinden kann, das das Wohl und Glück der Menschen in hohem Maße fördern könnte.

Tatsache ist, dass unsere traditionellen sittlichen Ideen entweder rein individualistisch sind - wie etwa die Idee der Heiligkeit der Person -, oder Gruppen von kleinerem Umfang angepasst sind, als sie heute in der modernen Welt Bedeutung haben. Eine der bemerkenswertesten Auswirkungen der modernen Technik auf das gesellschaftliche Leben war, dass die Leistungen der Menschen in höherem Maße in große Gruppen eingeordnet sind, so dass die Handlung eines einzelnen große Wirkung ausübt auf irgendeine ganz entlegene Gemeinschaft, mit der eine Gruppe, der der einzelne angehört, im Verhältnis der Zusammenarbeit oder des Konflikts steht. Kleine Gruppen, wie etwa die Familie, verlieren immer mehr an Bedeutung, und es gibt nur noch eine große Gruppe, nämlich die Nation oder den Staat, der das traditionelle Moralgefühl etwas Rechnung trägt. Daraus ergibt sich, daß die tatsächliche Religion unseres Zeitalters, soweit sie nicht rein traditionell ist, im Patriotismus besteht. Der Durchschnittsmensch ist bereit, sein Leben dem Patriotismus zu opfern, und empfindet diese moralische Verpflichtung als so zwingend, dass ihm jede Auflehnung dagegen unmöglich erscheint.

Es ist recht wahrscheinlich, dass die Entwicklung zur individuellen Freiheit hin, die den ganzen Zeitraum von der Renaissance bis zum Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnete, durch die auf dem Industrialismus beruhende wachsende Organisation zum Stillstand gebracht wird. Der Zwang und Druck, den die Gesellschaft auf den einzelnen ausübt, könnte, in einer neuen Form, ebenso stark werden wie in barbarischen Gemeinschaften, und die Völker werden sich vielleicht immer mehr der kollektiven statt der individuellen Leistungen rühmen. Das ist bereits in den Vereinigten Staaten der Fall: die Menschen sind stolz auf ihre Wolkenkratzer, Bahnhöfe und Brücken, weit mehr als auf Dichter, Künstler oder Wissenschaftler. Es ist die gleiche Einstellung, wie wir sie durchweg in der Philosophie der sowjetischen Regierung finden. Allerdings besteht auch in beiden Ländern noch der Wunsch nach individuellen Helden: in Russland genießt Lenin diese Auszeichnung, in Amerika genießen sie die Sportler, Boxer und Filmstars. Aber in beiden Fällen sind die Helden entweder tot oder unbedeutend, und die ernstzunehmende Arbeit der Gegenwart ist somit nicht gebunden an die Namen hervorragender einzelner.

Es ist sehr interessant, darüber nachzudenken, ob durch kollektives Bemühen eher etwas sehr Wertvolles hervorgebracht werden kann als durch individuelle Leistungen, und ob eine solche Zivilisation von höchster Qualität sein kann. Ich glaube nicht, dass sich die Frage kurzerhand beantworten lässt. Es ist durchaus möglich, dass auf künstlerischem und geistigem Gebiet einmal in Gemeinschaftsarbeit bessere Ergebnisse erzielt werden, als in der Vergangenheit durch einzelne erzielt wurden. In der Naturwissenschaft besteht bereits die Tendenz, irgendeine Arbeit in Verbindung mit einem Laboratorium statt mit einer Einzelperson zu sehen, und es täte der Naturwissenschaft wahrscheinlich gut, wenn diese Tendenz sich noch stärker abzeichnete, da sie die Zusammenarbeit fördern könnte. Wenn aber eine wichtige Arbeit welcher Art auch immer im Kollektiv zu leisten ist, so wird das zwangsläufig eine gewisse Einschränkung des einzelnen mit sich bringen: er wird nicht mehr so selbstbewusst sein können, wie es geniale Männer bisher in der Regel waren. Die christliche Ethik befasst sich mit diesem Problem, aber in einem ganz anderen Sinne, als gewöhnlich angenommen wird. Man glaubt im allgemeinen, das Christentum sei anti individualistisch, weil es so dringend die Selbstlosigkeit und Nächstenliebe fordert. Das ist jedoch ein psychologischer Irrtum. Das Christentum appelliert an die Seele des einzelnen und betont die persönliche Erlösung. Was jemand für seinen Nächsten tut, muss er tun, weil so zu handeln das Rechte für ihn ist, nicht weil er sich instinktiv als Teil einer größeren Gruppe fühlt. Das Christentum ist seinem Ursprung nach und noch immer im Kern nicht politisch oder auch nur die Familienbindung fördernd und hat dementsprechend die Tendenz, den einzelnen stärker in sich selbst abzuschließen, als er es von Natur ist. In der Vergangenheit wirkte die Familie abschwächend auf diesen Individualismus, aber die Familie verfällt und hat nicht mehr den Einruß auf die Instinkte der Menschen, den sie früher zu haben pflegte. Was der Familie verlorenging, hat die Nation gewonnen, denn die Nation appelliert an die biologischen Instinkte, die sonst in der industriellen Welt wenig Raum finden. Vom Gesichtspunkt der Stabilität aus gesehen, ist aber die Nation eine zu eng begrenzte Einheit. Es wäre wünschenswert, dass sich die biologischen Instinkte der ganzen menschlichen Rasse annähmen, doch scheint dies psychologisch nicht eher möglich zu sein, bevor nicht die Menschheit als Ganzes von schwerer äußerer Gefahr bedroht wird, wie etwa einer neuen Seuche oder allgemeiner Hungersnot. Da das unwahrscheinlich ist, sehe ich noch nicht, mit Hilfe welcher psychologischen Triebkraft es zu einer Weltregierung kommen könnte, es sei denn, irgendeine Nation oder eine Gruppe von Nationen erobere die ganze Erde. Das allerdings scheint ganz auf der Linie der natürlichen Entwicklung zu liegen und wird vielleicht während der nächsten hundert oder zweihundert Jahre geschehen. In der abendländischen Zivilisation, wie sie heute ist, haben Naturwissenschaft und industrielle Technik weit mehr Bedeutung als alle traditionellen Faktoren zusammen. Und man darf nicht annehmen, dass sich dieses Neue schon in seiner Auswirkung auf das menschliche Leben auch nur annähernd voll entfaltet habe: die Dinge verändern sich heute rascher als in vergangenen Zeiten, aber nicht so rasch wie der technische und naturwissenschaftliche Fortschritt. Das letzte Ereignis in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, das man an Bedeutung dem Aufschwung des Industrialismus gleichsetzen kann, ist die Erfindung des Ackerbaus, und der Ackerbau brauchte viele tausend Jahre, um sich über die ganze Erde auszubreiten, und brachte eine neue Denk- und Lebensweise mit sich. Die Lebensform, die sich aus dem Ackerbau ergibt, hat selbst heute noch nicht völlig die Aristokratieen der Welt besiegt, die mit charakteristischem Konservatismus weitgehend im Zeitalter und auf der Entwicklungsstufe der Jäger stehengeblieben sind, wie es unsere Jagdgesetze offenbar machen. Dementsprechend ist zu erwarten, dass die auf dem Ackerbau beruhende Einstellung sich noch viele Zeitalter lang in rückständigen Ländern und bei rückständigen Teilen der Erdbevölkerung erhalten wird. Diese Auffassung ist jedoch nicht unbedingt kennzeichnend für die abendländische Zivilisation oder den Spross, den sie im Osten hervorzubringen beginnt. In Amerika findet man sogar Landwirtschaft verbunden mit einer halb industriellen Mentalität, weil Amerika keine einheimische, gewachsene Bauernschaft hat. In Russland und China hat die Regierung eine industrielle Einstellung, hat dabei aber mit einer ungeheuer großen, aus unwissenden Bauern bestehenden Bevölkerung zu kämpfen. In diesem Zusammenhang muss man sich aber der wichtigen Tatsache erinnern, dass eine Bevölkerung, die nicht lesen und schreiben kann, durch Einwirkung der Regierung schneller umzuwandeln ist als eine Bevölkerung, wie wir sie in Westeuropa und Amerika finden. Mit Hilfe von etwas Allgemeinbildung und richtiger Propaganda kann der Staat die heranwachsende Generation dazu bringen, die Alten in einem Maße zu verachten, dass es den modernsten amerikanischen Halbwüchsigen in Erstaunen versetzen würde; und auf diese Weise lässt sich innerhalb einer Generation ein absoluter Wandel der geistigen Einstellung bewirken. In Russland ist dieser Prozess in vollem Gange, in China beginnt er. Es ist daher wohl zu erwarten, dass in diesen beiden Ländern eine unverfälschte industrielle Mentalität entsteht, ungetrübt von den traditionellen Elementen, die sich in dem sich langsamer entwickelnden Westen erhalten haben.

Die abendländische Zivilisation hat sich so rasch entwickelt und entwickelt sich noch immer mit solcher Geschwindigkeit, dass viele, deren Herz an der Vergangenheit hängt, gleichsam in einer fremden Welt zu leben meinen. Aber die Gegenwart bringt nur klarer die Elemente zutage, die von jeher seit der römischen Zeit irgendwie vorhanden waren und in denen sich Europa stets von Indien und China unterschieden hat. Energie, Unduldsamkeit und abstraktes Denken kennzeichneten die besten Zeiten in Europa im Gegensatz zu den besten Zeiten im Osten. In der Literatur und Kunst mögen die Griechen überragend gewesen sein, aber ihr Vorrang vor China ist nur eine Frage des Gradunterschiedes. Von der Energie und Intelligenz habe ich bereits genug gesprochen; aber über die Intoleranz ist noch etwas zu sagen, da es für Europa ein weit beständigeres Charakteristikum ist, als viele Leute sich vergegenwärtigen.

Die Griechen waren allerdings dieser Untugend weniger verfallen als ihre Nachfolger. Und doch brachten sie Sokrates um; und Plato setzte sich ungeachtet seiner Bewunderung für Sokrates dafür ein, dass der Staat eine Religion zu lehren habe, die er selbst für falsch hielt, und dass diejenigen zu verfolgen seien, die an diesem Glauben zweifelten. Konfuzianer, Taoisten und Buddhisten hätten eine derartige Hitler-Doktrin nicht gutgeheißen. Platos gentlemanlike Vornehmheit war nicht typisch europäisch; Europa war kriegerisch und tüchtig, weniger höfisch fein gebildet. Die die abendländische Zivilisation kennzeichnende Not ist daher eher zu sehen in Plutarchs Bericht über die Verteidigung von Syrakus mit Hilfe mechanischer Erfindungen des Archimedes.

Eine Quelle der unduldsamen Verfolgung, nämlich die demokratische Missgunst, war allerdings auch bei den Griechen stark entwickelt. Aristides wurde verbannt, weil er mit seinem Ruf eines gerecht denkenden Mannes unbequem war. Heraklit von Ephesus, der kein Demokrat war, rief aus: »Die Epheser, alle erwachsenen Männer, täten gut daran, sich aufzuhängen und die Stadt bartlosen Knaben zu überlassen; denn sie haben Hermodor ausgestoßen, den Besten unter ihnen, mit den Worten: ›Wir Wollen niemand haben, der unter uns der Beste ist; und wenn es einen solchen gibt, dann soll er anderswohin und unter andere Menschen gehen!<« Viele der unangenehmen Merkmale unserer Zeit gab es schon bei den Griechen. Sie hatten den Faschismus, den Nationalismus, Militarismus und Kommunismus, Chefs und korrupte Politiker; sie kannten pöbelhafte Streitsucht und gewisse Religionsverfolgungen. Sie hatten gute Einzelpersönlichkeiten, aber die gibt es bei uns auch; und wie heute hatte ein beachtlicher Prozentsatz der besten Persönlichkeiten Verbannung, Kerkerhaft oder Tod zu erleiden. In einem Punkt allerdings war die griechische Zivilisation der unseren greifbar überlegen, nämlich in der Unfähigkeit der Polizei, die es weit mehr anständigen Menschen ermöglichte, zu entkommen.

Der Übertritt Konstantins zum Christentum war der erste Anlass, bei dem jene Verfolgungstriebe, in denen sich Europa vor Asien auszeichnete, zum ersten Mal voll zum Ausdruck kamen. Zwar hatten wir in den letzten vergangenen hundertfünfzig Jahren eine kurze Pause des Liberalismus, aber schon fallen die weißen Raben wieder zurück in die theologische Bigotterie, die die Christen einst von den Juden übernahmen. Die Juden erfanden als erste den Begriff von der Alleingültigkeit einer Religion, wollten jedoch nicht die ganze Welt zu dieser Religion bekehren und verfolgten daher nur andere Juden. Die Christen behielten den jüdischen Glauben an eine besondere Offenbarung bei und erweiterten ihn durch das römische Streben nach Weltherrschaft und die griechische Vorliebe für metaphysische Spitzfindigkeiten. Aus dieser Verbindung entstand die Religion der grausamsten Verfolgungstendenz, die die Welt je gekannt hat. In Japan und China wurde der Buddhismus friedlich anerkannt und durfte ungehindert neben dem Schinto- und Konfuzianismus bestehen; in der mohammedanischen Welt blieben Christen und Juden unbelästigt, solange sie ihren Tribut bezahlten; aber in der ganzen Christenheit war es üblich, selbst das geringste Abweichen von der orthodoxen Lehre mit dem Tode zu bestrafen. Ich bin durchaus einer Meinung mit den Leuten, die die Intoleranz des Faschismus und Kommunismus verabscheuen, solange sie darin nicht eine Abkehr von der europäischen Tradition sehen. Wer von uns in einer Atmosphäre Verfolgungswütiger orthodoxer Regierungsgewalt zu ersticken droht, wäre aber in dieser Beziehung in den meisten vergangenen europäischen Zeitaltern wenig besser gefahren als im modernen Russland oder Deutschland. Wenn wir uns durch Zaubermacht in die Vergangenheit zurückversetzen lassen könnten, Würden wir da wohl Sparta sympathischer und besser finden als jene modernen Länder? Wer von uns hätte wohl gern in Gemeinschaften leben mögen, die, wie im Europa des sechzehnten Jahrhunderts, Menschen zum Tode verurteilten, die nicht an Zauberei glauben wollten? Hätten wir es wohl zu Anfang in Neu-England ausgehalten oder bewundert, wie Pizarro mit den Inkas verfuhr? Wären wir in Deutschland während der Renaissance unseres Lebens froh geworden, wo innerhalb von hundert Jahren hunderttausend Hexen verbrannt wurden? Hätte uns Amerika im achtzehnten Jahrhundert gefallen, als führende Geistliche in Boston die Erdbeben in Massachusetts auf das gottlose Unterfangen zurückführten, Blitzableiter an den Häusern anzubringen? Und hätten wir im neunzehnten Jahrhundert mit Papst Pius IX. Sympathisiert, als er nichts mit der »Gesellschaft zum Schutze der Tiere vor Grausamkeit« zu tun haben wollte, Weil es ketzerisch sei zu glauben, der Mensch habe irgendwelche Verpflichtungen dem niederen Tier gegenüber? Ich fürchte, Europa ist ungeachtet all seiner Intelligenz immer recht fürchterlich gewesen, mit Ausnahme der kurzen Periode von 1848 bis 1914. Und jetzt kehren die Europäer unglücklicherweise wieder zu ihrem Urbild zurück.


ENDE


Quelle: http://find.nlc.cn/search/doSearch?query=bertrant%20russel&secQuery=&actualQuery=bertrant%20russel&searchType=2&docType=%E5%85%A8%E9%83%A8&isGroup=isGroup&targetFieldLog=%E5%85%A8%E9%83%A8%E5%AD%97%E6%AE%B5&fromHome=true
Quelle: http://www.nl.go.kr/nl/search/search.jsp?all=on&topF1=title_author&kwd=Bertrand+Russell
Quelle: https://search.rsl.ru/ru/search#q=bertrand%20russel


Joe C. Whisper

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