Aus der Reihe „Perlen der Literatur“ - Bertrand Russel - „Architektur und soziale Fragen“ - Essay

in #deutsch6 years ago (edited)

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Perlen der Literatur und nach literarisch, üppiger Kost, gibt es heute ein leicht verdauliches Essay von Bertrand Russel.

Zu den Perlen der Literatur gehört sicher auch Bertrand Russels Buch „Lob des Müßiggangs“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Aus diesem Buch möchte ich euch ein kurzes Essay vorstellen „Architektur und soziale Fragen“.

Meine einzige Kritik: Russel sollte in jedem guten Bücherregal zu finden sein, es ist nicht nur ein Vergnügen ihn zu lesen, seine überlegene Intelligenz, ist erschreckend schön.

Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.


Essay

Bertrand Russel

Architektur und soziale Fragen


Von frühester Zeit an hat die Architektur zwei Ziele verfolgt: einmal den rein nützlichen Zweck, Wärme und Obdach zu bieten, zum anderen den politischen Zweck, der Menschheit eine Idee einzuprägen durch ein großartiges Bauwerk, in dem diese Idee Ausdruck findet. Für die Wohnungen der Armen reichte der erste Zweck hin; aber die Tempel der Götter und die Königspaläste sollten heilige Scheu vor den himmlischen Mächten und ihren Günstlingen auf Erden erwecken. In einigen wenigen Fällen wurden nicht einzelne Herrscher, sondern Gemeinschaften glorifiziert die Akropolis zu Athen und das Kapitol in Rom kündeten von der gebieterischen Majestät dieser stolzen Städte, zur Erbauung ihrer Bewohner und Bundesgenossen. Ästhetische Vorzüge hielt man bei öffentlichen Gebäuden und später bei den Palästen der Plutokraten und Kaiser für wünschenswert; bei den Hütten der Bauern und den baufälligen Wohnungen des städtischen Proletariats galt das jedoch nicht für erforderlich.

Auch in der mittelalterlichen Welt stand, ungeachtet der größeren Vielschichtigkeit ihrer sozialen Struktur, das künstlerische Motiv in der Architektur ähnlich im Hintergrund, ja sogar noch mehr, denn die Burgen der mächtigen Männer waren als militärisch starke Stützpunkte gedacht, und wenn sie einmal schön waren, dann nur durch Zufall. Nicht der Feudalismus, sondern die Kirche und der Handel haben den Bau der schönsten architektonischen Werke des Mittelalters veranlasst. Die Kathedralen offenbarten Kraft und Herrlichkeit Gottes und seiner Bischöfe. Der Wollhandel zwischen England und den Niederlanden, der die englischen Könige und die Herzöge von Burgund zu seinen Vasallen rechnen durfte, kam in den prachtvollen flandrischen Genwandhäusern und Rathäusern und, nicht ganz so großartig, in vielen englischen Marktplätzen zum stolzen Ausdruck. Aber erst Italien, die Wiege der modernen Plutokratie, brachte die kommerzielle Architektur zur Vollendung. Venedig, die dem Meer vermählte Stadt, die Stadt, die Kreuzzüge umzuleiten verstand und die vereinten Fürsten der Christenheit in Angst und Schrecken hielt, schuf mit dem Dogenpalast und den Palästen der fürstlichen Kaufleute einen neuen Typ von Prunkbauten. Ungleich den Landbaronen im Norden bedurften die städtischen Magnaten in Venedig und Genua nicht der Einsamkeit und Verteidigung, lebten vielmehr Seite an Seite und schufen Städte, in denen alles dem nicht allzu wissbegierigen Fremden Sichtbare prächtig und ästhetisch befriedigend schien. In Venedig speziell war es leicht, Schmutz und Hässlichkeit verborgen zu halten: die Elendsviertel lagen versteckt, und wer in den Gondeln saß, bekam sie nie zu sehen. Nie Wieder seither hat die Plutokratie einen so vollen und vollendeten Erfolg erzielt.

Die Kirche baute jedoch im Mittelalter nicht nur Kirchen, sondern auch andere Gebäude, die den Erfordernissen der modernen Zeit mehr entgegenkommen: Abteien, Mönchs und Nonnenklöster und Schulen. Ihnen lag eine begrenzte Form von Kommunismus zugrunde; sie waren für ein friedliches Gemeinschaftsleben bestimmt. In diesen Gebäuden war alles Individuelle spartanisch und einfach, alles Gemeinschaftliche prächtig und gewaltig. Der Mönch in seiner demütigen Bescheidenheit begnügte sich mit einer kargen, kahlen Zelle; der Stolz des Ordens hingegen kam in der Pracht und Weite der Hallen und Kapellen und Refektorien zum Ausdruck. In England sind Klöster und Abteien fast nur noch als Ruinen erhalten - zur Freude der Touristen -, aber die Schulen und Bildungsanstalten, die Colleges wie Oxford und Cambridge stellen noch immer einen Teil des nationalen Lebens dar und hüten und bewahren die Schönheit des mittelalterlichen Gemeinschaftslebens.

Als sich dann die Renaissance nach Norden ausbreitete, machten sich die ungeschliffenen englischen und französischen Barone daran, sich die feinen Sitten der italienischen Reichen anzueignen. Während die Medici ihre Töchter an Könige verheirateten, ahmten Dichter, Maler und Architekten nördlich der Alpen die florentinischen Vorbilder nach, und die Aristokraten ersetzten ihre Burgen durch Landhäuser, die, ungeschützt gegen Überfälle, ein Kennzeichen der neuen Sicherheit eines höfischen und zivilisierten Adels waren. Diese Sicherheit wurde aber durch die Französische Revolution aufgehoben, und seither haben die traditionellen architektonischen Stilarten ihre Lebenskraft eingebüßt. Sie zeigen sich verhalten dort, wo sich noch Macht in der älteren Form findet, wie in Napoleons Anbauten zum Louvre; aber das Überladene und Vulgäre dieser Anbauten beweist seine Unsicherheit. Er scheint vergessen zu wollen, was seine Mutter in ihrem schlechten Französisch zu sagen pflegte: »Pouri/ou que cela dourc«.

Im neunzehnten Jahrhundert gibt es zwei typische architektonische Formen, die speziell der maschinellen Produktion und dem demokratischen Individualismus zuzuschreiben sind: einerseits die Fabrik mit ihren Schornsteinen, andererseits das Reihenhäuschen der Arbeiterfamilie. Während die Fabrik die durch den Industrialismus geschaffene wirtschaftliche Organisation repräsentiert, verkörpern die kleinen Häuschen die gesellschaftliche Abgeschlossenheit, die das Ideal einer individualistischen Bevölkerung ist. Wo man hoher Grund- und Bodenpreise wegen lieber große Häuser errichtet, stellen sie nur eine rein bauliche, keine gesellschaftliche Einheit dar: es sind Büro-, Wohn- oder Hotelblocks, deren Bewohner nicht in Gemeinschaft leben wie die Mönche in einem Kloster; jeder bemüht sich vielmehr, so weit als möglich die Existenz der anderen nicht zu bemerken. Wo immer in England die Bodenpreise erschwinglich sind, behauptet sich das Prinzip des Einfamilienhauses stets von neuem. Wenn man sich London oder einer anderen Großstadt des Nordens mit dem Zug nähert, fährt man an endlosen Straßen mit derartigen kleinen Wohnhäusern vorüber, wo jedes Haus ein Zentrum individuellen Lebens ist, während das Büro, die Fabrik oder das Bergwerk, je nach den örtlichen Bedingungen, das Gemeinschaftsleben repräsentiert. Das Gemeinschaftsleben außerhalb der Familie ist, soweit sich ein solches Ergebnis an der Architektur mit Sicherheit feststellen lässt, ausschließlich wirtschaftlich begründet, und alle nicht wirtschaftlichen gesellschaftlichen Bedürfnisse müssen innerhalb der Familie befriedigt werden oder bleiben unerfüllt. Wollte man einmal die sozialen Ideale eines Zeitalters nach dem ästhetischen Wert seiner Baukunst beurteilen, dann stellen die letzten hundert Jahre den tiefsten Stand dar, den die Menschheit bisher erreicht hat.

Die Fabriken und die kleinen Reihenhäuser dazwischen sind kennzeichnend für einen merkwürdigen inneren Widerspruch im modernen Leben. Während die Produktion mehr und mehr zu einem Vorgang geworden ist, an dem große Gruppen beteiligt sind, hat unsere allgemeine Einstellung zu allen Dingen, die wir für außerhalb der politischen und wirtschaftlichen Sphäre liegend halten, die Tendenz angenommen, immer individualistischer zu werden. Das gilt nicht nur auf dem Gebiet der Kunst und Kultur, wo der Kult der Eigenart zu einer anarchistischen Revolte gegen jedwede Tradition und Konvention geführt hat, vielmehr auch - vielleicht als Reaktion auf das enggedrängte Zusammenleben-im täglichen Dasein der Durchschnittsmänner und noch mehr der Durchschnittsfrauen. In der Fabrik gibt es ein zwangsweise entstandenes Gemeinschaftsleben, aus dem sich die Gewerkschaften entwickelten; aber daheim wünscht jede Familie für sich zu sein. Die Frauen sagen: ››Ich bleibe lieber für mich allein«; und ihre Männer sehen sie in Gedanken lieber gern daheim sitzen und warten, dass der Herr des Hauses zurückkehrt. Aus diesen Gefühlen heraus ertragen und bevorzugen die Frauen sogar das von den anderen Häusern getrennte Häuschen, die kleine Küche für sich allein, die Plage mit der Hausarbeit und die Versorgung der noch nicht schulpflichtigen Kinder ohne Hilfe. Die Arbeit ist schwer, das Leben eintönig und die Frau beinahe die Gefangene ihres eigenen Hauses; und obwohl all das ihre Nerven aufreibt, zieht sie es doch einer Lebensweise in engerer Gemeinschaft vor, weil das Für-Sich-Sein ihre Selbstachtung hebt.

Die Vorliebe für diese Bauweise hängt mit der Lage der Frauen zusammen. Trotz dem Frauenrecht und dem Wahlrecht hat sich die Stellung der Frau, zumindest in der Arbeiterklasse, im Vergleich zu früher nicht sonderlich verändert. Die Frau ist weiterhin abhängig vom Verdienst ihres Mannes und bekommt ungeachtet ihrer schweren Arbeit keinen Lohn. Da sie von Beruf Haushälterin ist, liebt sie es, einen Haushalt zu fuhren. Den Wunsch nach Spielraum für persönliche Initiative, der den meisten Menschen innewohnt, kann sie sich nur im Heim erfüllen. Der Mann seinerseits freut sich, daß seine Frau nur für ihn arbeitet und wirtschaftlich von ihm abhängig ist; darüber hinaus befriedigen seine Frau und sein Haus seinen Besitzinstinkt stärker, als es bei jeder anderen Bauweise möglich wäre. Und wenn auch irgendwann einmal bei einem der Partner der Wunsch nach geselligerem Leben auftaucht, sind sie doch beide, Mann und Frau, auf Grund ihres ehelichen Besitzanspruchs froh, dass der andere so wenig Gelegenheit hat, einem vielleicht gefährlichen Mitglied des anderen Geschlechts zu begegnen. Und so mag ihr Horizont eng begrenzt und das Leben der Frau unnötig arbeitsreich sein, es wünscht sich doch keiner von beiden eine andere Organisation ihres gesellschaftlichen Daseins.

All das wäre anders, wenn es für verheiratete Frauen die Regel und nicht die Ausnahme wäre, sich ihren Lebensunterhalt außerhalb des Hauses zu verdienen. Unter den Berufstätigen gibt es schon genug Frauen, die mit unabhängiger Arbeit Geld verdienen, um, in Großstädten, etwas zu schaffen, was annähernd als wünschenswert für ihre Lebensumstände gelten kann. Was solche Frauen brauchen, ist eine Wohnung mit Bedienung oder eine Gemeinschaftsküche, um sie der Sorge um die Zubereitung der Mahlzeiten zu entheben, und einen Kinderhort, in dem die Kinder während der Bürostunden versorgt werden. Nach konventioneller Auffassung nimmt man an, dass eine verheiratete Frau es beklagt, wenn sie außerhalb des Hauses arbeiten muss; und wenn sie am Abend noch das gleiche schaffen muss, was die Frauen, die sonst nichts anderes zu tun haben, leisten, wird sie wahrscheinlich ernstlich überarbeitet sein. Aber wollte man entsprechende richtige Bauten erstellen, dann wäre den Frauen der größte Teil der Hausarbeit und Kinderpflege abgenommen, zum Vorteil für sie selbst, ihre Männer und Kinder; in diesem Falle wäre es ein klarer Gewinn, wenn die Frauen, statt die traditionellen Pflichten der Hausfrauen und Mütter zu erfüllen, berufstätig wären. Jeder Gatte einer altmodischen Hausfrau wäre sofort davon überzeugt, wenn er nur eine Woche lang versuchen müsste, die Pflichten seiner Frau zu übernehmen.

Das Tagewerk einer Arbeiterfrau ist noch nie modernisiert worden, weil es unbezahlte Arbeit ist; aber in Wirklichkeit ist vieles daran unnötig, und der Rest sollte größtenteils auf verschiedene Spezialisten ,verteilt werden. Aber wenn das geschehen soll, ist als erstes eine Reform der Bauweise erforderlich. Es handelt sich darum, dass die gleichen gemeinschaftlichen Vorteile gewährleistet werden wie in den mittelalterlichen Klöstern, nur ohne Zölibat; das heißt, es muss für die Bedürfnisse der Kinder vorgesorgt werden.

Wir wollen zunächst betrachten, welches die unnötigen Nachteile des gegenwärtigen Systems sind, wo jeder Arbeiterhaushalt in sich abgeschlossen ist, entweder im eigenen Haus oder in den Räumen eines Wohnblocks.

Am schwersten sind die Kinder von den Missständen betroffen. Bevor sie das schulpflichtige Alter erreichen, haben sie viel zu wenig Sonne und frische Luft; für ihre Ernährung sorgt eine Mutter, die arm, ungebildet und rastlos tätig ist und die unmöglich für die Erwachsenen und die Kinder getrennt kochen kann; die Kinder sind der Mutter während des Kochens und Hantierens ständig im Wege, mit dem Erfolg, dass sie ihr auf die Nerven fallen und - vielleicht abwechselnd mit Liebkosungen - hart behandelt werden; die Kinder können niemals ungehindert in freiem Raum und entsprechender Umgebung ihrem natürlichen Tätigkeitsdrang nachgehen, ohne Schaden anzurichten. Das Zusammenwirken dieser Umstände führt leicht dazu, dass sie schwächlich, neurotisch und gehemmt werden.

Auch die Mutter ist ernstlich geschädigt. Sie hat die Pflichten der Kinderpflegerin, Köchin und Dienstmagd zu bewältigen, ohne auch nur für einen dieser Berufe vorgebildet zu sein; es ist fast unvermeidlich, dass sie alle diese Aufgaben schlecht erfüllt; sie ist immer müde und empfindet die Kinder als Belästigung, nicht als Quelle der Freude; ihr Mann hat Muße, wenn seine Arbeit beendet ist, sie aber hat niemals Freizeit; sie muss schließlich fast unweigerlich reizbar, geistig beschränkt und neidisch werden.

Für den Mann ergeben sich geringere Nachteile, weil er weniger daheim ist. Aber wenn er zu Hause ist, werden ihn wahrscheinlich die Streitsucht seiner Frau und die »Ungezogenheit« der Kinder nicht gerade beglücken; und wo er eigentlich die Bauweise tadeln sollte, wird er vermutlich seine Frau schelten, was je nach dem Grad seiner Brutalität zu unerfreulichen Konsequenzen führen mag.

Ich will damit natürlich nicht sagen, es verhielte sich allgemein und immer so, behaupte aber, daß es andernfalls eines ungewöhnlichen Maßes an Selbstbeherrschung, Intelligenz und körperlicher Widerstandskraft auf Seiten der Mutter bedarf. Und unverkennbar wird sich ein System, das außergewöhnliche Charakterstärke und Eigenschaften voraussetzt, auch nur in Ausnahmefällen bewähren. Dass ein solches System schlecht ist, wird nicht widerlegt durch einige seltene Beispiele, in denen seine Nachteile nicht zutage treten.

Um all diese Leiden zu kurieren, braucht man nur ein Gemeinschaftselement in die Bauweise einzuführen. Die kleinen Einzelhäuser und die Mietblocks, in denen jede Wohnung ihre eigene Küche hat, sollten niedergerissen werden. Statt dessen sollten hohe Gebäudeblocks rund um einen zentralen Platz errichtet werden, wobei die Südfront niedrig gehalten bleiben müsste, um die Sonne hereinzulassen. Es sollte eine Gemeinschaftsküche, einen geräumigen Speisesaal und einen weiteren Saal für unterhaltende Veranstaltungen, geselliges Beisammensein und Kinovorstellungen geben. Inmitten der Anlage müsste sich der Kinderhort befinden und so eingerichtet sein, dass die Kinder sich nicht leicht weh tun oder empfindliche Dinge beschädigen können: es dürfte keine Stufen geben, kein offenes Feuer oder heiße, für Kinderhände erreichbare Öfen; Teller, Tassen und Schüsseln sollten aus unzerbrechlichem Material sein, und ganz allgemein sollte so weit wie möglich auf alle Dinge verzichtet werden, die Veranlassung dazu geben könnten, den Kindern sagen zu müssen »Lass das« Bei gutem Wetter würden die Kinder im Freien betreut, sonst, wenn das Wetter nicht allzu schlecht ist, in Räumen, die von einer Seite her der frischen Luft Zutritt gewähren. Die Kinder sollten alle Mahlzeiten im Kinderhort einnehmen, der sie sehr preiswert mit einer bekömmlicheren Kost versorgen könnte als ihre Mütter. Sobald sie entwöhnt sind, sollten sie bis zum Eintritt in die Schule den ganzen Tag, vom Frühstück bis nach ihrer letzten Mahlzeit, im Kinderhort verbringen, wo sie Gelegenheit zum Spielen haben bei jenem Minimum von Aufsicht, das um ihrer Sicherheit willen erforderlich ist.

Die Kinder würden ungeheuren Nutzen davon haben. Sie würden durch frische Luft und Sonne, freien Raum und gute Ernährung gesünder und kräftiger werden; sie würden charakterlich profitieren, wenn sie ungehindert aufwachsen und der Atmosphäre der ständigen gereizten Verbote entronnen sind, in der die meisten Arbeiter ihre ersten Lebensjahre verbringen. Bewegungsfreiheit, die man einem Kleinkind, ohne es zu gefährden, nur in besonders dazu geschaffener Umgebung gewähren kann, könnte es im Kinderhort fast uneingeschränkt geben, mit dem Erfolg, daß sich die Abenteuerlust und körperliche Gewandtheit der Kinder so natürlich entwickeln würde wie bei Jungtieren. Die ständige Behinderung der Bewegungsfreiheit bei kleinen Kindern ist der Ursprung von Unzufriedenheit und Gehemmtheit im späteren Leben, ist aber weitgehend unvermeidlich, solange sie in einer für Erwachsene geschaffenen Umgebung leben; der Kinderhort wäre daher für ihren Charakter und ihre Gesundheit ein Segen.

Für die Frauen würden sich ebenso große Vorteile ergeben. Sobald sie ihre Kinder entwöhnt haben, Würden sie sie tagsüber Frauen anvertrauen, die speziell in Kinderpflege ausgebildet sind. Sie brauchten sich nicht damit aufzuhalten, einzukaufen, zu kochen und abzuwaschen. Sie würden, genau wie die Männer, des Morgens zur Arbeit aus dem Haus gehen und abends heimkehren, und wie für ihre Männer würde es auch für sie Arbeitszeit und Freizeit geben, so dass sie nicht wie bisher ununterbrochen tätig sein müssten. Sie würden ihre Kinder am Morgen und am Abend sehen, lang genug, um sie lieb zu haben, aber nicht so lange, dass die Kinder sie nervös machen. Mütter, die ihre Kinder den ganzen Tag um sich haben, bringen selten noch soviel überschüssige Kraft auf, mit ihnen zu spielen; in der Regel spielen die Väter viel mehr mit den Kindern als die Mütter. Selbst dem liebevollsten Erwachsenen werden die Kinder wohl auf die Nerven gehen, wenn sie ihm keinen Augenblick Ruhe lassen und ständig lärmend Beachtung fordern. Wenn sie aber den Tag über getrennt waren, werden Mütter und Kinder am Abend liebevoller miteinander umgehen, als wenn sie den ganzen Tag lang zusammengesperrt sind. Die körperlich ermüdeten, geistig befriedigten Kinder würden die Zuneigung ihrer Mütter nach der unpersönlichen Pflege durch die Frauen im Kinderhort doppelt genießen. Alles Gute bliebe somit dem Familienleben erhalten, ohne das Quälende und die Liebe Zerstörende.

Auch für die Männer und Frauen wäre es eine Wohltat, wenn sie der Enge ihrer Kammern und dem Schmutz der Elendsviertel entrinnen könnten in die großen Gemeinschaftsanlagen, die architektonisch ebenso schön sein sollten wie College Halls. Schönheit und Raum brauchen nicht länger das Vorrecht der reichen Leute zu bleiben. Und der Erregung und Reizbarkeit, die aus dem Zusammengepfercht sein in engen, dumpfen Vierteln entstehen und ein echtes Familien leben oft gar nicht zulassen, wäre ein Ende gemacht.

Und das alles wäre die Folge einer reformierten Architektur. Vor über hundert Jahren setzte sich Robert Owen allgemeinem Hohn aus mit seinen »genossenschaftlichen Parallelogrammen, mit denen er versuchte, den Lohnempfängern die Vorteile des Gemeinschaftslebens, wie etwa im College, zu erschließen. Obwohl die Idee in jenen Tagen der drückenden Armut noch verfrüht war, ist man heute in vielen Einzelheiten dem Durchführbaren und Wünschenswerten an dieser Idee schon viel nähergekommen. Owen selbst konnte in New Lanard einen Kinderhort nach sehr modernen, aufgeklärten Prinzipien einrichten. Aber die besonderen Umstände in New Lanard verleiteten ihn dazu, seine ››Parallelogramme« für Produktionseinheiten, nicht nur fur Wohnstätten zu halten. Von Anfang an war es die Tendenz des Industrialismus, zu viel Gewicht auf die Produktion und zu wenig auf den Verbrauch und geregelte Lebensbedingungen zu legen. Das ergab sich aus dem betonten Streben nach Profiten, die nur im Zusammenhang mit der Produktion zu sehen sind. Das Ergebnis war die wissenschaftlich durchdachte Fabrik und eine größtmögliche Arbeitsteilung, während das Heim unmodern geblieben ist und die verschiedenen Arbeitsleistungen der überlasteten Hausmutter aufbürdet. Denn naturgemäß ergibt sich aus dem Vorherrschen des Profitmotivs, daß jene menschlichen Tätigkeitsbereiche, von denen kein pekuniärer Profit zu erwarten ist, am wenigsten durchorganisiert und insgesamt am unbefriedigendsten sind.

Man muss jedoch einräumen, daß sich einer Reform der Bauweise, wie ich sie angeregt habe, als mächtigstes Hindernis die psychologische Einstellung der Arbeiter selbst entgegenstellt. Sie mögen noch so sehr klagen und sich streiten, im Grunde lieben die Leute die Abgeschlossenheit ihres »Heims« und finden darin ihre Eitelkeit und ihr Streben nach Besitz bestätigt. Im ehelosen Gemeinschaftsleben etwa der Klöster erhob sich dieses Problem nicht; erst durch Ehe und Familie
entsteht der instinktive Wunsch nach Zurückgezogenheit.

Ich glaube aber nicht, dass die private Kocherei, abgesehen von Kleinigkeiten, die gelegentlich rasch auf dem Gaskocher zubereitet werden, wirklich nötig ist, um diesem Instinkt gerecht zu werden; meiner Meinung nach sollte eine eigene Wohnung mit eigener Einrichtung den Menschen, die daran gewöhnt sind, ausreichen. Aber es ist immer schwierig, vertraute Gewohnheiten aufzugeben und abzuändern. Die Sehnsucht nach Unabhängigkeit wird jedoch vielleicht allmählich mehr und mehr Frauen dazu bringen, ihren Lebensunterhalt außerhalb des Hauses zu verdienen, und daher wird ihnen wiederum ein System, wie wir es gerade erwogen haben, als wünschenswert erscheinen. Gegenwärtig befindet sich unter den Arbeiterfrauen die Frauenrechtsbewegung noch in einem frühen Entwicklungsstadium, wird sich aber wahrscheinlich ausdehnen, sofern es nicht zu einer faschistischen Reaktion kommt. Vielleicht werden die Frauen auf Grund dieses Motivs mit der Zeit die Gemeinschaftsküche und den Kinderhort schätzen lernen. Von den Männern wird der Wunsch, die Dinge zu ändern, jedenfalls nicht ausgehen. Arbeiter, selbst wenn sie Sozialisten oder Kommunisten sind, halten es selten für nötig, dass sich die Lage ihrer Frauen bessert.

Weil wir noch immer schwer unter unheilvoller Arbeitslosigkeit zu leiden haben und weil noch immer fast die ganze Welt die Grundprinzipien der Wirtschaft nicht begreifen will, werden natürlich Einwände erhoben gegen die Berufstätigkeit der verheirateten Frauen, weil dadurch angeblich diejenigen, von denen die verheirateten Frauen jetzt leben, arbeitslos würden. Aus diesem Grunde hängen die Probleme der verheirateten Frau eng zusammen mit dem Problem der Erwerbslosigkeit, das wahrscheinlich unlösbar bleiben wird, es sei denn, dass der Sozialismus sich zu einem sehr beträchtlichen Grade durchsetzt. Aber in jedem Falle könnte es zum Bau der »genossenschaftlichen Parallelogramme«, wie ich sie befürwortet habe, in großem Maßstab nur im Rahmen einer ausgedehnten sozialistischen Bewegung kommen, da das Profitmotiv allein es niemals bewirken könnte. Die Gesundheit und der Charakter der Kinder und die Nerven der Frauen werden daher noch so lange weiter leiden müssen, als sich die Wirtschaft nur nach dem Profitmotiv richtet. Manches kann mit Hilfe dieses Motivs erreicht werden, anderes nicht; zum letzteren gehört die Wohlfahrt der Frauen und Kinder der Arbeiterklasse und - was vielleicht noch utopischer klingt - die Verschönerung der Vorstädte. Aber wenn wir auch die Scheußlichkeit der Vorstädte als gegeben hinnehmen wie Frühjahrestürme oder Novembernebel, so darf man doch nicht übersehen, dass sie - im Gegensatz zu klimatischen Bedingungen - abzuändern und zu bessern ist. Warum sollten sie nicht statt von Privatunternehmern von städtischen Behörden erbaut werden, mit sinnvoll geplanten Straßen und Gebäuden, die wie Colleges angelegt sind - und dann könnten sie doch durchaus eine Augenweide sein. Die Hässlichkeit ist wie das Übermaß an Arbeit und die Armut ein Teil des Preises, den wir dafür zahlen, dass wir Sklaven des privaten Profitmotivs sind.


ENDE


Quelle: http://find.nlc.cn/search/doSearch?query=bertrant%20russel&secQuery=&actualQuery=bertrant%20russel&searchType=2&docType=%E5%85%A8%E9%83%A8&isGroup=isGroup&targetFieldLog=%E5%85%A8%E9%83%A8%E5%AD%97%E6%AE%B5&fromHome=true
Quelle: http://www.nl.go.kr/nl/search/search.jsp?all=on&topF1=title_author&kwd=Bertrand+Russell
Quelle: https://search.rsl.ru/ru/search#q=bertrand%20russel


Joe C. Whisper

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da muss ich mir wirklich mal alle älteren posts von dir durchsehen. vieles davon befindet sich mit sicherheit in meiner bibliothek.
gute arbeit!

Mach das, es lohnt sich! ;)

Gruß
Joe C. Whisper

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