Aus der Reihe - „Lachende Literaten“ – David Kalisch - „Über Deutschland“ (about Germany)

in #deutsch7 years ago

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Lachende Literaten“ und nach all der Schaffenskraft, die ich für euch leiste, muss ich mir eine kurze, erholsame Auszeit gönnen, damit ihr euch in dieser Zeit nicht langweilt, bekommt ihr selbstverständlich, ermunternden Lesestoff geboten.

Heute für euch - David Kalisch „Über Deutschland“.

Kritik: ruht – wenn ich ruhe


David Kalisch

Über Deutschland


I.
Es gibt kein beneidenswerteres Volk auf Erden als das deutsche; denn es lebt in ewiger Kindheit. Das deutsche Volk braucht zu seiner größten Glückseligkeit nur ein Steckenpferd und einige Nürnberger Spielsachen, und an diesen hat es, Dank dem lieben Gott und den deutschen Regierungen! noch nie Mangel gelitten. Glaube, Liebe und Hoffnung, jene Drillinge, die das Leben verherrlichen und den Tod verklären, sind die geliebten Kinder der blondlockigen Germania.

Es gibt kein Volk, das nicht glaubt; aber es gibt kein Volk, dessen Glaube dem deutschen gleich käme an Festigkeit und Unerschütterlichkeit. Der deutsche Glaube ist ein Universalgenie; man kann ihn zu allen Dingen gebrauchen. Was glaubt der Deutsche nicht? Er glaubt an die Unfehlbarkeit der deutschen Regierungen eben so fest, wie an die Unsterblichkeit der Seele; ja, er glaubt nicht bloß, dass ein König von Gottes Gnaden die Völker beherrsche, sondern auch, wenn die deutschen Regierungen es wollen, dass der liebe Gott von Königs Gnaden die Welt regiere, dass der himmlische Thron nur der Fußschemel der irdischen Throne sei. Der erste Glaubensartikel im politischen Katechismus der Deutschen ist: »Hören, Sehen und Schweigen.«

Die deutschen Regierungen wägen Alles sehr genau. In eine Schale der Wage legen sie ihren Willen und in die andere den blinden Gehorsam, und die Zunge des Volkes muss genau die Mitte halten und darf sich nicht regen. Und der deutsche Glaube hält dieses für die Wage der Gerechtigkeit. Nur an einem zweifelt der Deutsche – an seiner eigenen Kraft, die er noch nie brauchen gelernt. Der Deutsche gleicht einem Stier, der sich willig binden ließ und nun über die eignen Füße stolpert. Jeder Zoll an ihm wird von einem Strick gefesselt. Man macht ihm aber weiß, diese festen Stricke seien leichte, flatternde Rosenbande, und der Deutsche glaubt es und der Glaube macht selig. Wahrlich, es ist kaum begreiflich, wie viel sich der Deutsche aufbinden lässt; keine Lüge ist frech genug, dass sie die deutsche Glaubensfähigkeit nicht für lautere Wahrheit hielte. Der Deutsche nimmt alles auf Treu und Glauben an; daher gehört so wenig Geist dazu, um einen Deutschen zu betrügen. Man lese nur gewisse deutsche Zeitungen und sehe das Gewebe von Lügen, das täglich vor deutschen Augen aufgerollt wird! Das ist durchaus kein feines Gewebe, in welchem die sichtbaren Fäden der Wahrheit mit den feinen unsichtbaren des Luges so kunstreich durchflochten sind, dass sie auch das scharfsichtigste Kennerauge täuschen können nein, es ist ein plumpes Gewebe von lauter groben Lügen, welches jeder Blick gleich erkennen würde, der nur um etwas schärfer als der deutsche. Man hat sogar den gutmütigen leichtgläubigen Deutschen weiß machen wollen, Sibirien sei das Land, »wo im dunkeln Hain die Goldorangen blühn« und wo Jeder von einem gewissen Zauber so sehr gefesselt wird, dass er es nie wieder verlässt, wenn er es einmal betreten. Herr Staatsrat Gretsch, ein Deutscher, hat auch gesagt, dass die Knute durchaus kein Marterwerkzeug, sondern ein schlanker Lilienstengel, welcher im gesegneten Russland wild wachse. In der Hauptstadt Frankreichs aber, wo man die Lilien nicht leiden kann, wollte man freilich dem Messias Gretsch mit seinem Enthusiasmus für russische Glückseligkeit leider kein Gehör schenken. Die bösen Franzosen waren sogar unbegreiflicher Weise eher von der Wahrhaftigkeit des französischen Buchs »la Russie« des Herrn von Custine, als von der deutschen Schrift des Herrn Staatsrats Gretsch überzeugt. Die verblendeten Franzosen!

Viel stärker noch als der deutsche Glaube ist die deutsche Liebe. Man kann gar viele Dinge lieben auf dieser bösen Welt, das Geld, den Ruhm, die Kunst und schöne Frauen; der Deutsche aber liebt außer Sauerkraut und Ordensbänder, seinen angestammten Herrscher. Es ist dies ohne Zweifel die schönste Liebe, weil es die einzige Liebe ist, die keine Eifersucht kennt. Der Deutsche liebt nicht sein Vaterland, sondern den Vater seines Landes, und da Deutschland über dreißig solcher Väter hat, so kann man sich leicht denken, wie viel loyale Liebe in Germanien konsumiert wird. Wenn man in deutschen Zeitungen von dieser loyalen Liebe hört, sollte man meinen, ganz Deutschland sei eine Zucht-, Correktions-, Detentions- und Irrenanstalt zugleich; da liest man von der Liebe, welche die getreuen Untertanen an den Thron ketten, an das Herrscherhaus binden, an das Oberhaupt fesseln, an den Regentenstamm knüpfen. Es ist kaum glaublich, wie überreich die ehrliche deutsche Sprache, die für das französische «perfide« keinen Ausdruck hat, an sklavischen Ausdrücken ist. Sie setzt nicht allein die irdischen Herrscher über den himmlischen, indem sie diesen nur für den Höchsten und jene für die Allerhöchsten hält, so dass der liebe Gott wenigstens einen Stock niedriger wohnt, als der Fürst von Lichtenstein: sondern sie biete auch einen unerschöpflichen Schatz, wo es gilt, das Volk zu erniedrigen. Wer sonst als ein Deutscher kann »in allertiefster Demut ersterben?« Wer sonst als ein Deutscher kann »einer Durchlaucht ganz ergebenst gehorsamster Knecht« sein? Es ist wahr, der Stil ist der Mensch; aber nicht minder wahr ist die Behauptung: die Sprache ist das Volk.

Man tut indessen Unrecht, wenn man jene Ausdrücke der Kriecherei der deutschen Sprache zur Last legt. Der Deutsche ist es, der seine herrliche Sprache zu gemeinen, sklavischen Ausdrücken erniedrigt. Die Sprache ist, wie das Eisen, aus dem man eben so gut schmachvolle Sklavenketten wie blitzende Schwerter der Freiheit schmieden kann.

Feine Nasen werden gewiss einen Demagogen aus mir heraus wittern. Aber ich bin keiner. Ich behaupte im Gegenteil, die Liebe des Volkes zu seinem Fürsten ist gewiss eine edle. Man erlaube aber dieser Liebe ein wahres, freies Wort und erniedrige sie nicht zur gemeinen Magd, die den Unrat der Herrschaft wegfegen und stets die schmutzigsten Dienste versehen muss. Man halte diese Liebe nicht für eine Dirne, mit der jeder freche Beamte Unzucht treiben kann. Man achte diese Liebe, oder fürchte sie; denn nur die wahre Liebe kann sich in bittern, unversöhnlichen Hass verwandeln. Doch was sprech' ich! Der Deutsche ist furchtsam, aber nicht fürchterlich, und die grüne Hoffnung verlässt ihn selbst da nicht, wo ein Nicht-Deutscher schon längst ein Opfer der Verzweiflung geworden wäre. Wie oft war die deutsche Nation guter Hoffnung! Aber sie hat nie ein Glückskind, sondern immer nur einen Wechselbalg zur Welt gebracht.

Die deutsche Hoffnung lichtet nie den Anker; sie lässt sich den Sand der Dünen in die Augen streuen und wagt sich nicht in's Meer, in's große Meer der Weltbegebenheiten. Es ist merkwürdig, welche Zähigkeit die deutsche Nation im Festhalten der Hoffnung kund gibt. Die deutsche Nation gibt eher den Geist, als die Hoffnung auf. Aber es geht leider der deutschen Hoffnung wie der Zypresse; beide sind immer grün, aber auch immer an Gräber gepflanzt. Es ist ein schönes Ding um die Hoffnung, wenn sie Mutter kühner Taten wird, wenn sie unsern Willen spornt und unsere Kraft stählt. Die deutsche Nation aber schläft und lässt sich von dem grünen Zweig der Hoffnung höchstens die Fliegen verscheuchen.

II.
In freien Ländern gehört Mut dazu, sich zu fürchten; in sklavischen aber muss man sich fürchten, Mut zu haben. Denn nur wo Freiheit waltet, ist Mut eine Tugend; wo aber Despotismus herrscht, wird der Lorbeer gewöhnlich nur um die Schläfe der Feigheit gewunden. Nun ist es natürlich, dass sich der Waffenlose, der sich seiner Ohnmacht bewusst ist, vor dem Gewaltigen beugt oder ihn flieht. Wer aber aus Furcht vor dem zweifel vollen Ausgang des Kampfes die Waffen streckt oder in voller Rüstung die Flucht ergreift, den mag mit Recht jeder Ehrenmann brandmarken.

In Deutschland gehört gar kein Mut dazu sich zu fürchten; man fürchtet sich hier aus bloßer Furcht. Es gibt in Deutschland sehr viel Männer von Geist, die wohl einen Kampf gegen das Alte und Schlechte wagen könnten; aber es fehlt ihnen an Mut. Sie lassen das Schwert in der Scheide stecken, aus Angst, dass man sie selbst stecken lasse. Viele gebrauchen zwar ihre Waffen, aber nur zum Exerzieren, nicht zum Kämpfen. Sie lassen ihr Talent in Parademarsch aufmarschieren und sind schon zufrieden, wenn ihnen hohe Herrschaften Beifall zu klatschen und eine Anstellung geben. Manche begnügen sich sogar mit einem kleinen Orden. Man ist in Deutschland mit diesen sehr freigebig, weil man weiß, dass nicht selten der reichste Geist das Gelübde der Armut ablegt, sobald er Mitglied irgend eines Ordens wird.

In der Tat, die deutschen Regierungen sind die größten Geisterbeschwörer! Wenn ihnen ein Geist zu viel rumort, zeigen sie ihm nur ein Kreuz und er flieht, oder verwandelt sich in einen Hund, der Stöcke und Peitschen auf's bereitwilligste apportiert. Wie viel Hunde gibt es in Deutschland, die früher Geister waren und wie viel Geister gibt es noch, die vielleicht eben auf dem Wege sind, Hunde zu werden!

Wer nun an solche Geistergeschichten und Hundekomödien denkt, dem wird es ganz katzenjämmerlich zu Mute. Das Denken ist überhaupt ein Unglück, und es ist noch ein wahres Glück, dass die wenigsten Menschen an diesem Unglück leiden.

Ich gehöre aber leider zu den Unglücklichen. Ich stolpere über meine eigenen Gedanken. Geh' ich vor einer Weide vorbei, wo selbstzufriedenes Rindvieh sorgenlos seine Nahrung findet, so denk' ich: Wie viel Mühe muss sich in Deutschland ein geistreicher Mensch geben, bis er sich gleichen Glückes erfreut! Seh ich ein junges Brautpaar zur Trauung fahren, so denk' ich: ach, es ist doch traurig, dass noch immer die Menschenopfer nicht abgeschafft sind, und seh' ich ein Goldstück, so kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass um dieser Münze willen vielleicht schon manche Unschuld gemordet, mancher ehrliche Name gebrandmarkt worden und dass sie vielleicht einst noch die Ursache verborgenen Elends oder öffentlicher Schmach wird. Zieh' ich ein Paar Glaceehandschuhe an, so betrübt mich der Gedanke, dass wegen dieses Luxusartikels einer armen Ziege das Fell über die Ohren gezogen worden, und werf' ich ein Stück Zucker in den Kaffee, so muss ich wider Willen an den Sklaven denken, der unter grausamen Peitschenhieben das süße Rohr gepflanzt und geschnitten. Ich kann gar keine Gans sehen, ohne von dem Gedanken gepeinigt zu werden, dass dies arme Tier einst die unschuldigste Ursache vieler unendlicher Novellen, Novelletten, Sonetten und Schneider-Rechnungen sein wird. Was denk' ich nicht schon, wenn mir nur der tausendste Teil einer Gans, nämlich ein einziger Federkiel, zu Gesicht kommt! Ein ganzes Magazin von deutschem Jammer schwebt dann vor meiner Phantasie: deutsche Federfuchserei, deutsche Federkriege, deutsches Federvieh, deutsche Vielschreiberei und deutsche Zensur. Wahrlich, das Denken ist ein großes Unglück! Der größte deutsche Philosoph sagt einmal, daß der Mensch von allen fünf Sinnen den des Geruchs am leichtesten entbehren könnte, weil es auf der Welt viel mehr üble Gerüche als Wohlgerüche gibt. Ich glaube, dass der Mensch noch viel leichter das Denken entbehren könnte, da man auf dieser Erde an viel mehr unangenehme als angenehme Dinge zu denken hat. So lange der Mensch nur von dem Baume des Lebens genießt, kann er glücklich im Paradiese weilen; sobald er aber in den sauern Apfel der Erkenntnis beißt, entdeckt er nur seine eigene Blöße und wird von einem flammenden Schwerte hinausgetrieben in die böse Welt, wo er an jeder Rose nur die Dornen und in jeder Wolke nur den verheerenden Blitz wahrnimmt.

Nur die Dummheit kann das Leben erträglich finden; denn an der dicken Rhinozeroshaut der Dummheit prallen die giftigen Pfeile des Missgeschicks wirkungslos ab. Was der Verstand des Verständigen nicht sieht, das übet in Einfalt ein dummes Gemüt. Der größte Denker kämpft vergebens, um eine Dummheit zu besiegen; während die Dummheit sich der hohen Weisheit nur in den Weg zu legen braucht, damit diese darüber stolpere und das Genick breche. Wahrlich, wenn ich nicht ein Mensch wäre, möcht' ich ein Esel sein.

III.
– – In Deutschland gibt es sehr viele Hochschulen. Eine Hochschule ist nichts Anderes, als eine wissenschaftliche Garküche, wo die Weisheit mit Löffeln gefressen wird. Da es aber in Deutschland zu viel gelehrte Köche gibt, so verderben sie meistens den Brei und die Jugend genießt dort nicht, um fett zu werden, sondern um sich den Magen zu verderben. Kein Land hat so viel Gelehrte aufzuweisen, als Deutschland. Von jeher waren es deutsche Zähne, welche die harten Nüsse der Wissenschaft aufgeknackt. Aber Deutschland hat von diesen Nüssen nur die zerbrochenen Schalen bekommen, während andere Völker sich des süßen Kernes erfreuten. Ein deutscher Gelehrter weiß alles. Er weiß, wie viel Steinkohlen jährlich zur Unterhaltung des Fegefeuers gebraucht werden und wie viel Seelen das Paradies bewohnen. Er kennt die Statistik des Himmels und der Hölle und kann sagen, in welcher Tonart die Harmonie der Sphären komponiert ist. Er sieht die Bäume schießen und hört das Gräschen wachsen; was ihn aber am unmittelbarsten berührt, sieht und hört er niemals. Er weiß nie, wie der Puls seines Volkes geht. Das Auge des deutschen Gelehrten leidet an Weitsichtigkeit; es sieht nur das Fernliegende. Die deutsche Gelehrsamkeit hat keine beredte Zunge; sie hat nur fünf nimmermüde Schreibfinger; drum beschäftigt sie auch weniger den Geist des Volkes, als die Pferde in den Papiermühlen. Der deutsche Gelehrte legt sich selten an das Herz der Wissenschaft; er begnügt sich damit, ihr die theoretische Schleppe nachzutragen. Er ist ihr Bedienter, aber nicht ihr Geliebter. Nur mit der Kammerfrau der hohen Wissenschaft, mit Matrone Gelehrsamkeit, steht er in einem genauen Verhältnis, und was diese ihm vorplaudert, ist ihm ein Orakel. Der deutsche Gelehrte hat einen unbesiegbaren Widerwillen gegen Alles, was die Gegenwart fordert und erheischt. Alle Tagesfragen sind ihm zu gemein, um sie einer Antwort würdig zu halten. Es ist wahr, man hat sich sehr gegen Schmutz und Unrath zu wehren, wenn man die Gebrechen der Zeit aufdeckt; aber die deutschen Gelehrten, die doch so viel wissen, sollten bedenken, dass der größte Heros des Altertums, dass Herkules es nicht verschmähte, einen Stall zu reinigen, den unzähliges Rindvieh seit mehr als einem Menschenalter besudelt. Ist aber der Ruhm des Alciden nicht eben durch diese Heldentat noch höher gestiegen? Selbst im Olymp, wo doch gewiss die höchste Reinlichkeit herrscht, hat es kein Ganz- oder Halbgott unter der Würde gehalten, mit ihm zu verkehren und die ewige Jugend hat ihm sogar die Hand zum ewigen Bunde gereicht. –

Weil ich gerade bei der ewigen Jugend bin, will ich auch von der deutschen sprechen. Die deutsche Jugend hat von jeher immer so lange im engen dumpfen Schulzimmer gesessen, bis sie in die Schule des Lebens eingetreten. In dieser Schule des Lebens konnte die arme deutsche Jugend sehr wenig lernen, weil sie so sehr viel zu vergessen hatte. Es ist kaum glaublich, wie viel man in deutschen Schulen lernen muss! Biblische Geschichte, Naturgeschichte, Weltgeschichte und sonstige Geschichten. Die unangenehmste Geschichte ist aber unstreitig die Weltgeschichte, weil diese noch immer in der Arbeit ist und von Tage zu Tag zunimmt. Die biblische Geschichte fängt zwar mit der Schöpfung an; aber sie hört doch wenigstens auf und die Naturgeschichte beschäftigt sich zwar mit vielen Bestien; aber es kommen doch keine neue hinzu. Die Weltgeschichte aber nimmt gar kein Ende und kaum ist man mit einem alten Herrscher fertig, kommt wieder ein funkelnagelneuer und die Geschichte geht wieder von vorn an. Was wird erst die unglückliche Jugend nach zweitausend Jahren von der Weltgeschichte zu leiden haben!

Außer diesen Geschichten ist noch die Grammatik eine Höllenpein für die Jugend. Die Grammatik ist die Knochenlehre der Sprache und die arme Jugend muss so viel Knochen hinunterschlucken, dass sie schier daran erworgt. Wie im Leben sind auch in der Grammatik die Regeln nicht so schwer; allein die verfluchten Ausnahmen sind es, die uns so häufig in Verlegenheit bringen.

Aber trotz dem, dass es in Deutschland so viel Schulen, so viele Lehrer und Lehren der deutschen Sprache gibt, findet man selten einen Deutschen, der seine Muttersprache richtig spricht; denn da in Deutschland nur Gedankenfreiheit, aber keine Redefreiheit erlaubt ist: d. h., da man in Deutschland wohl mit freisinnigen Ideen schwanger gehn kann, aber kein freies lebendiges Wort gebären darf: so wird eigentlich die deutsche Jugend nur mit den Regeln der Sprache geplagt, nicht um einst fehlerlos sprechen, sondern um einst grammatikalisch schweigen zu können.

Früher konnte man sich in Deutschland wenigstens in gebundener Rede frei äußern, man brauchte die Wahrheit nur in Verse zu bringen, um ihr öffentliche Sicherheit zu verschaffen. Jetzt wird aber die arme Wahrheit gleich als Vagabundin eingesperrt, sie mag sich im poetischen oder prosaischen Gewande öffentlich zeigen.

Es ist überhaupt ein schlimmes Ding um die Wahrheit; wo man sie beständig sehen sollte, sieht man sie gar nicht und da sie von den Mächtigen und Gewaltigen verstoßen wird, so ist sie höchstens nur da zu finden, wo Armut und Edelsinn tragische Rollen spielen. Während die nackte Wahrheit gefesselt und gezüchtigt wird, sitzt die geschminkte Lüge auf reichen Polstern und empfängt die Huldigungen derjenigen, welche ihr allen Reichtum und Glanz verdanken.

Ein deutsches Sprichwort sagt, dass man mit der Wahrheit am besten fortkomme. Das ist sehr wahr; denn man sehe nur, wie Diejenigen von Land zu Land gejagt werden, welche nur einmal den Mut hatten, der Wahrheit eine Bahn zu brechen.

Viele Regierungen behaupten auch, die Wahrheit sei im Fortschritt begriffen; das ist auch wirklich der Fall; ja, damit die Wahrheit zum Fortschritt sogar gezwungen werde, wird sie von humanen Gensdarmen gehetzt, bis sie da angelangt ist, wo Deutschland aufhört und die Freiheit anfängt.

Um aber wieder auf den bewussten Hammel, nämlich auf die deutsche Jugend, zurückzukommen, so wird seit der neuesten Zeit viel für deren körperliche Entwickelung getan. Überall erheben sich große Turnanstalten. Ganz Deutschland verwandelt sich in ein gymnastisirendes Sparta und kann man wohl zweifeln, dass Deutschland durch dieses Turnwesen zum Gipfel höchster Glückseligkeit gelangen wird? Das junge Deutschland lernt durch das Turnen alles, was ein Volk beglücken kann. Es lernt, wie man in kurzer Zeit einen hohen Standpunkt erreichen und wie man, selbst ohne Geist, zu den höchsten Stellen gelangen kann. Und sollten sich von der deutschen Jugend einige der Diplomatie widmen, so ist es doch gewiss von großem Vorteil, wenn sie sich jetzt schon gewöhnen, geschickte Purzelbäume zu schlagen, oder wie die gewandteste Katze zu klettern. Dass die deutsche Schuljugend es durch das Turnen weiter bringt, als ihre Lehrer, ist klar; denn diese können durchaus keine großen Sprünge machen. Ein deutscher Schullehrer hat gerade so viel Besoldung als eine Hungerkur erfordert. Ein deutscher Schullehrer würde einen ganz trefflichen Kriegshelden abgeben, da sein Leben ein beständiger Kampf ist. Während des Unterrichts schlägt er die Jugend durch und wenn der Unterricht zu Ende, muss er sich selbst durchschlagen. Die deutschen Regierungen denken in Bezug auf die deutschen Schullehrer wahrscheinlich immer an den lateinischen Spruch: »natura paucis contenta«. Zu deutsch heißt dies: Die ganze Natur ist auf Pauken gespannt.


ENDE


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/schlagschatten-7108/22


Joe C. Whisper

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