Aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“: Voltaire – „Volk und Pöbel“

in #deutsch6 years ago

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute ein weiteres phantastisches Werk vorstellen: „Volk und Pöbel“ von Voltaire.

Kritik:
Voltaire gehört sicher zu den bedeutendsten Philosophen und zählt zu den Aufklärungsvätern. Seine Werke sind in klarster sprachlicher Eleganz formuliert und ein wahres Vergnügen zu lesen.

Voltaire:
Francois Marie Arouet - frz. Schriftsteller und Philosoph 1694, † 1778 – wurde wegen satirischer Schriften verfolgt, festgesetzt und später verbannt. Die Verbannung trieb ihn u. a. von 1750 – 53 in die Hände von König Friedrich II. (Alte Fritz). Volaire vertrat die Vernunftgläubigkeit und eine kirchenfeindliche Toleranz. Seine Schriften trugen u. a. zur frz. Revolution von 1789 bis 1799 bei.


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.


Aufklärung durch Weltliteratur

Voltaire

Volk und Pöbel


Fürchten Sie nicht, daß das niedere Volk je Grotius und Pufendorf liest! es langweilt sich nicht gerne. Aber unterscheiden wir in dem, was Sie Volk heißen, die Berufe, die eine ordentliche Bildung erfordern und diejenigen, die bloß die Muskeln tüchtig in Anspruch nehmen. Diese letztere Klasse ist die zahlreichste. Ihre Erholung und ihr Vergnügen ist, zum Hochamt und ins Wirtshaus zu gehen, weil man da singt, und weil sie selbst singen. Aber die gehobenen Handwerker, die schon ihres Berufs wegen nachdenken, und ihren Geist und Geschmack bilden müssen, sie beginnen in ganz Europa zu lesen. Sie kennen die Schweizer nur als Pförtner der höheren Herren in Paris oder aus Molières Possen. Was würden die Pariser für Augen machen, wenn sie sehen würden, wie in vielen Schweizerstädten und besonders in Genf die Arbeiter in den Fabriken ihre Freizeit mit Lesen verbringen! Nein, mein Herr, es ist nicht alles verloren, wenn man das Volk in den Stand setzt zu merken, daß es einen Geist hat. Aber alles ist verloren, wenn man es wie eine Herde von Stieren behandelt; früher oder später werden sie mit den Hörnern stoßen. Glauben Sie, das Volk der Rosenkriege und des Revolutionskriegs in England, das Volk in der Zeit der Armagnacs und der Liga habe gelesen und studiert? Nein, das ungebildete, wilde, rohe Volk folgte einigen fanatischen Theologiedoktoren, die schrien: Bringt alles um im Namen Gottes! Ich gehe eine Wette ein: heute könnte Cromwell England nicht mehr über den Haufen werfen mit seinen Galimathias; Johann von Leyden J könnte sich nicht mehr zum König von Münster aufwerfen, der Kardinal von Retz keine Barrikaden mehr bauen in Paris. Nein, mein Herr, Ihnen steht es nicht an, die Leute vom Lesen abzuhalten; Sie würden zu viel dabei verlieren.

Mache immer einen Unterschied zwischen den Gebildeten, die denken können, und dem Pöbel, der dazu nicht imstande ist. Wenn die Sitte dich zwingt, dem Gesindel zuliebe eine lächerliche Zeremonie mitzumachen, und wenn dich gescheite Leute dabei betreffen, so gib ihnen mit einer Gebärde, einem Blick ein Zeichen, daß du denkst wie sie, und daß sie nicht lachen sollen. Untergrabe sachte jeden alten Aberglauben und führe keinen neuen ein. Wenn die Magd Bayles in deinen Armen stirbt, sprich nicht mit ihr wie mit Bayle; aber auch nicht mit Bayle wie mit seiner Magd. Wenn die Dummköpfe noch Eicheln wollen, laß sie in Gottes Namen Eicheln essen; aber wehre es nicht, daß man ihnen Brot anbietet.

Wo der Pöbel lacht, stutzt der Philosoph; und wo der Pöbel seine großen, dummen Augen in Bewunderung weit aufreißt, muß der Philosoph lachen.

Wir verstehen uns nicht in Punkto »Volk«. Sie halten es für wert, aufgeklärt zu werden. Ich verstehe unter »Volk« jetzt den Pöbel, der von seiner Hände Arbeit leben muß. Ich zweifle, ob diese Schicht je Zeit und Fähigkeit haben wird, sich zu bilden. Sie würden Hungers sterben, ehe sie Philosophen würden. Es muß wohl ungebildete Bettler geben. Sie wären auch meiner Meinung, wenn Sie wie ich ein Gut zu bewirtschaften, wenn Sie Pflüge hätten. Nicht den Tagelöhner soll man bilden, wohl aber den guten Bürgersmann, den Stadtbewohner. Schon das ist eine große und schwere Sache.

Sie zitieren Herrn Chamberlan, nach dem ich geschrieben haben soll, Gott habe alle Menschen mit der gleichen Portion Intelligenz ausgestattet. Gott bewahre mich vor solchem Unsinn. Ich habe seit meinem zwölften Jahr das Gegenteil gedacht. Ich fühlte, daß ich in Mathematik nie weit kommen werde, daß ich keine Begabung für Musik habe, daß ich europäische Sprachen verhältnismäßig leicht lernte, orientalische dagegen nicht. So hat Gott jedem sein »Bis hierher und nicht weiter« gezeigt.


ENDE


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-philosophische-aufsatze-2437/24


Joe C. Whisper

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