Aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“: Voltaire – „Über den Selbstmord“

in #deutsch6 years ago

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute ein weiteres phantastisches Werk vorstellen: „Über den Selbstmord“ von Voltaire.

Kritik:
Voltaire gehört sicher zu den bedeutendsten Philosophen und zählt zu den Aufklärungsvätern. Seine Werke sind in klarster sprachlicher Eleganz formuliert und ein wahres Vergnügen zu lesen.

Voltaire:
Francois Marie Arouet - frz. Schriftsteller und Philosoph 1694, † 1778 – wurde wegen satirischer Schriften verfolgt, festgesetzt und später verbannt. Die Verbannung trieb ihn u. a. von 1750 – 53 in die Hände von König Friedrich II. (Alte Fritz). Volaire vertrat die Vernunftgläubigkeit und eine kirchenfeindliche Toleranz. Seine Schriften trugen u. a. zur frz. Revolution von 1789 bis 1799 bei.


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.


Aufklärung durch Weltliteratur

Voltaire

Über den Selbstmord


Vor einigen Jahren besuchte mich in Paris ein Engländer, namens Bacon Morris, ein alter Offizier und ein sehr gescheiter Mann. Er litt an einer schmerzhaften, vermeintlich unheilbaren Krankheit. Nach einigen Besuchen kam er einmal zu mir mit einem Beutel und zwei Papieren. »Eins dieser Papiere«, sagte er, »ist mein Testament; das andere ist meine Grabschrift, und dieser Beutel mit Geld soll die Kosten meines Begräbnisses bestreiten. Ich habe mir vorgenommen, noch vierzehn Tage lang auszuprobieren, was Arzneien und Diät vermögen, um mir das Leben weniger unerträglich zu machen; hilft das nichts, so bin ich entschlossen, mich umzubringen. Begraben können Sie mich, wo Sie wollen. Meine Grabschrift ist kurz.« Er zeigte sie mir; es waren die zwei Worte des Petronius, Valete curae; lebt wohl, ihr Sorgen! Glücklicherweise für ihn und für mich, der ich ihn gern hatte, wurde er wieder gesund und brachte sich nicht um. Sicher hätte er es getan, wie er gesagt hatte.

Ich will nicht untersuchen, ob der selige Herr Creech recht daran tat, auf den Rand seines Lukrez-Exemplars zu schreiben: »Nota bene; wenn ich mit meinem Buch über Lukrez fertig bin, muß ich mich umbringen«, und ob er wohl tat, diesen Entschluß auszuführen. Ich will auch die Beweggründe meines alten Studienleiters, des Jesuiten Pater Bienassès, nicht zergliedern, der uns eines Abends Lebewohl sagte und am andern Morgen, nachdem er seine Messe gelesen und einige Briefe versiegelt hatte, sich aus dem dritten Stockwerk herunterstürzte. Jeder hat seine Gründe für sein Verhalten.

Was ich mit einiger Sicherheit zu behaupten wage, ist, daß niemals zu befürchten steht, daß die Sucht sich umzubringen eine epidemische Krankheit wird; da die Natur hiergegen gut vorgesorgt hat: Hoffnung und Furcht sind ihre mächtigen Springfedern, mit denen sie fast immer mit Erfolg die Hand desjenigen hemmt, der auf dem Sprung ist, sein Leben anzutasten.

Man sagt uns, es habe Länder gegeben, in denen eine besondere Ratskörperschaft eingerichtet gewesen sei, die Bürgern, die triftige Gründe hatten, gestattete, sich umzubringen. Ich behaupte entweder, daß daran nichts ist, oder daß diese Behörde wenig zu tun hatte.

Warum haben Cato, Brutus, Cassius, Antonius, Othon und so viele andere so entschlossen Hand an sich gelegt, während unsere großen Parteiführer sich hängen ließen oder bis in ihr elendes Alter erbärmlich im Kerker schmachteten? Einige Schöngeister sagen, diese Alten haben eben nicht den echten Mut gehabt; Catos Selbstmord sei die Tat eines Feiglings gewesen; er hätte viel mehr Seelengröße gezeigt, wenn er vor Cäsar zu Kreuz gekrochen wäre. Das paßt gut für Oden oder sonstige rhetorische Floskeln. Sicher gehört Mut dazu, sich mit ruhiger Seele einen blutigen Tod anzutun; es braucht einige Stärke, um den mächtigsten Naturtrieb zu überwinden; Schwäche ist nicht in einem solchen Tun, eher wilde Kraft. Von einem Kranken im Wahnsinn darf man nicht sagen, er habe keine Kraft, vielmehr, er habe die Kraft eines Rasenden.

Erst wenn die Hoffnung uns verläßt, wenn eine unerträgliche Schwermut uns ergreift, erst dann läßt sich der Trieb überwinden, der uns die Ketten des Lebens lieb macht. Erst dann hat man den Mut, ein schlecht gebautes Haus zu verlassen, das man nicht mehr ausbessern zu können hoffen darf. Alljährlich gibt es unter hunderttausend Menschen zwei bis drei, die sich verabschieden. Aber das geschieht nur in Anfällen großer Schwermut. Etwas häufiger kommt es in dem Land vor, in dem ich wohne. Vor einigen Monaten haben sich zwei Genfer, die ich kenne, in den Rhonestrom gestürzt. Der eine hatte 50.000 Taler Renten, der andere war bekannt wegen seines Witzes. Ich komme noch nicht in Versuchung, ihr Beispiel nachzuahmen; erstens, weil meine heillosen Augenentzündungen nur im Winter kommen; zweitens, weil ich mich immer in der Hoffnung zu Bette lege, mich andern Morgens, wenn ich aufwache, über das Menschengeschlecht lustig zu machen. Wenn mir einmal diese Fähigkeit abgeht, wird es ein Zeichen für mich sein, daß ich mich davon mache. Mir kommt es nicht zu als Cato zu sterben, da ich nicht gelebt habe wie er. Ich tadle allerdings niemand und finde ganz richtig, daß man sein Haus verläßt, wenn es einem nicht mehr gefällt. Nur sollte man immer wenigstens acht Tage damit zuwarten, da man nie weiß, ob man in diesen Dingen in acht Tagen noch so denkt.


ENDE


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-philosophische-aufsatze-2437/44


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