Aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“: Voltaire – „Brief Voltaires an Rousseau“

in #deutsch6 years ago

Brief Voltaires an Rousseau.png


Werte Steemis,

aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute ein weiteres phantastisches Werk vorstellen: „Brief Voltaires an Rousseau“ von Voltaire.

Kritik:
Voltaire gehört sicher zu den bedeutendsten Philosophen und zählt zu den Aufklärungsvätern. Seine Werke sind in klarster sprachlicher Eleganz formuliert und ein wahres Vergnügen zu lesen.

Voltaire:
Francois Marie Arouet - frz. Schriftsteller und Philosoph 1694, † 1778 – wurde wegen satirischer Schriften verfolgt, festgesetzt und später verbannt. Die Verbannung trieb ihn u. a. von 1750 – 53 in die Hände von König Friedrich II. (Alte Fritz). Volaire vertrat die Vernunftgläubigkeit und eine kirchenfeindliche Toleranz. Seine Schriften trugen u. a. zur frz. Revolution von 1789 bis 1799 bei.


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.


Aufklärung durch Weltliteratur

Voltaire

Brief Voltaires an Rousseau


  1. August 1755

Mein Herr, ich habe Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten; ich danke Ihnen dafür. Sie werden den Menschen gefallen, denen Sie die Leviten lesen, aber Sie werden sie nicht bekehren. Man kann nicht greller die Abscheulichkeiten der menschlichen Gesellschaft beleuchten, von der wir in unserer Schwachheit und Einfalt uns so viel Trost versprechen. Noch niemand hat soviel Geist leuchten lassen wie Sie in dem Bestreben, uns wieder zu Bestien zu machen, und man bekommt ordentlich Lust, auf allen Vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest. Da es indessen mehr als sechzig Jahre her ist, daß ich diese Gewohnheit abgelegt habe, so fühle ich zu meinem Schmerz, daß es mir unmöglich ist, sie wieder aufzunehmen, und ich überlasse diese natürliche Gangart den Leuten, die ihrer würdiger sind als Sie und ich. Auch kann ich mich nicht zu den Wilden nach Kanada einschiffen; erstens, weil meine Krankheiten, unter denen ich zusammenbreche, mich hier bei meinem Arzt, dem größten Europas, zurückhalten – die Missouri-Indianer würden mir diesen ärztlichen Beistand nicht wohl leisten können; zweitens wütet der Krieg ja in jener Gegend, und wir haben mit unserem Kulturvorbild die Wilden fast schon so böse gemacht wie wir selbst es sind. So muß ich mich darauf beschränken als friedlicher Wilder in der Einsamkeit zu leben, die ich mir erkoren habe in der Nähe Ihrer Vaterstadt, in der Sie auch sein sollten.

Ich gebe Ihnen zu, daß Künste und Wissenschaften manchmal viel Unheil gestiftet haben. Aus Tassos Leben machten seine Feinde eine Kette von Leiden. Galileis Feinde ließen den Siebzigjährigen im Kerker schmachten, weil er erkannt hatte, daß die Erde sich bewege; und – schmählich genug – sie zwangen ihn zum Widerruf. Sobald Ihre Freunde das enzyklopädische Wörterbuch begonnen hatten, wurden sie von ihren Nebenbuhlern als Deisten, Atheisten, ja sogar als Jansenisten behandelt. Wenn ich mich unter die einreihen darf, die für ihre Arbeiten nur Verfolgung zum Lohne erhalten haben, so könnte ich Ihnen zeigen, wie man darauf erpicht war, mich zugrunde zu richten von dem Tag an, da ich die Tragödie Oedipus herausgab. Aber was hätte ich aus allen den Quälereien zu schließen? Daß ich mich nicht beklagen darf, daß Pope, Descartes, Bayle, Camões und hundert andere ebenso viel, ja noch mehr Unrecht zu leiden hatten, daß fast allen Liebhabern der schönen Wissenschaften dieses Los blüht.

Aber gestehen Sie, mein Herr, das sind geringe Übel, die die Gesellschaft kaum bemerkt. Was macht es der Menschheit aus, wenn einige Hornissen den Honig einiger Bienen plündern. Die Literaten machen großes Wesen aus diesen kleinen Zänkereien: die übrigen Leute nehmen keine Notiz davon oder lachen darüber.

Von allen Bitternissen des menschlichen Lebens braucht man diese am wenigsten tragisch zu nehmen. Sie sind rein nichts anderen Übeln gegenüber. Gestehen Sie, daß weder Cicero noch Varus, noch Lukrez, noch Virgil, noch Horaz den geringsten Anteil an den Ächtungen hatten, Marius war ein ungebildeter Mensch, der barbarische Sulla, der wüste Schwelger Antonius, der dumme Lepidus lasen wenig im Plato und im Sophokles; und was den feigen Tyrannen Oktavius Zwiebelkopf betrifft, den man so niederträchtig Augustus nennt, so war er ein abscheulicher Mörder nur zu der Zeit, da er keinen Umgang mit Schriftstellern und Künstlern hatte. Petrarka und Boccacio sind nicht schuld an den italienischen Wirren; die Tändeleien Marots haben keinen Teil an der Pariser Bluthochzeit; Corneilles Cid hat den Bürgerkrieg der Fronde nicht angefacht. Die großen Verbrechen sind fast immer nur von berühmten Nichtskennern verübt worden. Was aus dieser Welt ein Jammertal gemacht hat und machen wird, ist die unersättliche Gier und der unzähmbare Hochmut, von Thamos-Kouli-kan an, der nicht lesen konnte, bis zum letzten Zollschreiber, der nichts kann als mit seiner Feder rechnen. Die schönen Wissenschaften sind die Nahrung, die Arznei und der Trost der Seelen. Auch Ihnen, mein Herr, leisten sie ihre Dienste, sogar noch in Ihrer Polemik gegen sie. Sie sind wie Achilles, der auf den Ruhm schilt, oder wie der Pater Malebranche, dessen glänzende Phantasie gegen die Phantasie geschrieben hat.

Wenn jemand etwas sagen dürfte gegen die schönen Wissenschaften, so wäre ich es, der ich um ihretwillen so viel verfolgt worden bin. Aber man soll sie lieben, dem Mißbrauch zum Trotz, der mit ihnen getrieben wird, wie man die Gesellschaft lieben soll, deren Annehmlichkeiten einem von so vielen boshaften Menschen verbittert werden; wie man sein Vaterland lieben soll und wenn man noch so viel Unrecht darin leiden muß; wie man dem höchsten Wesen seine Liebe und seinen Dienst weihen soll, wenngleich der Gottesdienst vom Aberglauben und vom Fanatismus so oft befleckt wird.

Von Herrn Chappuis höre ich, daß es mit Ihrer Gesundheit nicht zum Besten steht. Sie sollten kommen, um sich in der heimischen Luft zu stärken; Sie sollten mit mir die Freiheit genießen, die Milch unserer Kühe trinken und das Gras unserer Wiesen abweiden.

Mit philosophischem Gruß in Hochachtung und Liebe Ihr

Voltaire.


ENDE


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-philosophische-aufsatze-2437/21


Joe C. Whisper

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