Aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“: Étienne de La Boëtie – „Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen“ Part I.

in #deutsch4 years ago (edited)

Étienne de La Boëtie.png

Werte Steemis,

aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute ein weiteres phantastisches Werk vorstellen: Étienne de La Boëtie – „Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen“

Da dieser wunderbare Text von Zeit zu Zeit verschwindet, möchte ich ihn in der Steemit-Blockchain sichern und euch nach Möglichkeit bitten, ihn in allen Sprachen zu übersetzen! :)

Kritik:

Ein wahres Meisterwerk der Weltliteratur.

Über Étienne de La Boëtie:

Étienne de La Boëtie stand im Beruf eines „Hohen“ Richters seiner Zeit, er war Gelegenheitsautor und schuf vor rund 400 Jahren, diese bis in die heutige Zeit unerreichte Kampfschrift, ein Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit des Absolutismus, der Ausbeutung der Menschheit und der materialistisch eingestellten katholischen Kirche, die die Inquisition und den Ablasshandel einführte. Diese Kampfschrift diente in den folgenden Jahrhunderten immer wieder den Revolutionären im Kampf gegen die Unterdrücker und Ausbeuter, besonders aber den französischen Revolutionären 1789 bis 1799.


Zitat von Niccolò Machiavelli:

Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.


Aufklärung durch Weltliteratur

Étienne de La Boëtie

Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen


Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen

Étienne de La Boëtie

Dieser Text unterliegt der Gemeinfreiheit

Übersetzung aus dem französischen von Gustav Landauer.


Feigheit

»Mehren Herren untertan sein, dieses find' ich schlimm gar sehr, Nur ein einziger sei Herrscher, einer König und nicht mehr«, so sagt Ulysses bei Homer vor versammeltem Volke. Hätte er nur gesagt: »Mehreren Herren untertan sein, dieses find' ich schlimm gar sehr«, so wäre das eine überaus treffliche Rede gewesen; aber anstatt daß er, wenn er mit Vernunft reden wollte, gesagt hätte, die Herrschaft von mehreren könnte nichts taugen, weil schon die Gewalt eines einzigen, sowie er sich als Herr gebärdet, hart und unvernünftig ist, fuhr er gerade umgekehrt fort: »Nur ein einziger sei Herrscher, einer König und nicht mehr.«

Immerhin jedoch kann Ulysses entschuldigt werden; etwa mußte er diese Sprache führen und sie klüglich benutzen, um die Empörung des Kriegsvolks zu sänftigen; mich dünkt, er hat seine Rede mehr den Umständen als der Wahrheit angepaßt. Um aber in guter Wahrheit zu reden, so ist es ein gewaltiges Unglück, einem Herrn untertan zu sein, von dem man nie sicher sein kann, ob er gut ist, weil es immer in seiner Gewalt steht, schlecht zu sein, wenn ihn das Gelüste anwandelt; und gar mehrere Herren zu haben, ist gerade so, als ob man mehrfachen Grund hätte, gewaltig unglücklich zu sein.

Gewißlich will ich zur Stunde nicht die Frage erörtern, die schon mehr als genug abgedroschen ist; ob nämlich die andern Arten der Republiken besser seien als die Monarchie. Wenn ich darauf kommen wollte, dann müsste ich, ehe ich ausforschte, welchen Rang die Monarchie unter den Republiken haben soll, erst ausmachen, ob sie überall einen haben darf, denn es ist schwerlich zu glauben, daß es in dieser Form der Regierung, wo alles Einem gehört, irgendwas von gemeinem Wesen gebe. Aber diese Frage bleibe einer andern Zeit überlassen und müßte wohl in einer sonderlichen Abhandlung geprüft werden wobei ich freilich fürchte, daß die politischen Streitigkeiten alle miteinander aufs Tapet kämen.

Für dieses Mal will ich nur untersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten. Es ist sicher wunderbar und doch wieder so gewöhnlich, daß es einem mehr zum Leid als zum Staunen sein muß, wenn man Millionen über Millionen von Menschen als elende Knechte und mit dem Nacken unterm Joch gewahren muß, als welche dabei aber nicht durch eine größere Stärke bezwungen, sondern (scheint es) lediglich bezaubert und verhext sind von dem bloßen Namen des EINEN, dessen Gewalt sie nicht zu fürchten brauchen, da er ja eben allein ist, und dessen Eigenschaften sie nicht zu lieben brauchen, da er ja in ihrem Fall unmenschlich und grausam ist. Das ist die Schwäche bei uns Menschen: wir müssen oft der Stärke botmäßig sein; kommt Zeit, kommt Rat; man kann nicht immer der Stärkere sein. Wenn demnach eine Nation durch kriegerische Gewalt gezwungen ist, Einem zu dienen, wie die Stadt Athen den dreißig Tyrannen, dann darf man nicht darüber staunen, daß sie dient, sondern darf nur das Mißgeschick beklagen: oder man soll vielmehr nicht staunen und nicht klagen, sondern das Übel geduldig tragen und ein besseres Glück in der Zukunft erwarten.

Unsre Natur ist also beschaffen, daß die allgemeinen Pflichten der Freundschaft ein gut Teil unsres Lebens in Anspruch nehmen; das Gute, das man von Einem empfangen hat, dankbarlich zu erkennen und oft auf ein Teil seiner Bequemlichkeit zu verzichten, um die Ehre und den Gewinn dessen, den man liebt und der es verdient, zu erhöhen. Wenn demnach die Einwohner eines Landes eine große Persönlichkeit gefunden haben, einen Mann, der die Probe einer großen Voraussicht, um sie zu behüten, einer großen Kühnheit, um sie zu verteidigen, einer großen Sorgfalt, um sie zu leiten, bestanden hat; wenn sie um dessentwillen sich entschließen, ihm zu gehorsamen und ihm dergestalt zu vertrauen, daß sie ihm etliche Vorteile über sich einräumen, so weiß ich nicht, ob das klug wäre, insofern man ihn von da wegnimmt, wo er gut tat, und ihn an eine Stelle befördert, wo er schlimm tun kann: aber gewiß ist es der menschlichen Güte zu Gute zu halten, daß sie von einem solchen nichts Schlimmes fürchten mag, der ihr nur Gutes getan hat.

Aber mein Gott! was kann das sein? wie sagen wir, daß das heißt? was für ein Unglück ist das? oder was für ein Laster? oder vielmehr was für ein Unglückslaster? Daß man nämlich eine unendliche Zahl Menschen nicht gehorsam, sondern leibeigen sieht; nicht geleitet, sondern unterjocht; Menschen, die nicht Güter noch Eltern, noch Kinder, noch ihr eigenes Leben haben, das ihnen selber gehört! Daß sie die Räubereien, die Schindereien, die Grausamkeiten nicht einer Armee, nicht einer Barbarenhorde, gegen die man sein Blut und sein Leben kehrt, dulden, sondern eines einzigen Menschleins, das oft gar der feigste und weibischste Wicht in der ganzen Nation ist; eines Menschen, der nicht an den Pulverrauch der Schlachten, sondern kaum an den Sand der Turnierspiele gewöhnt ist; nicht eines solchen, der gewaltiglich Männer befehligen kann, sondern eines solchen, der ein jämmerlicher Knecht eines armseligen Weibchens ist!

Werden wir das Feigheit nennen? Werden wir sagen, daß diese Knechte Tröpfe und Hasen sind? Wenn zwei, wenn drei, wenn vier sich eines Einzigen nicht erwehren, dann ist das seltsam, aber immerhin möglich; dann kann man schon und mit gutem Recht sagen, es fehle ihnen an Herzhaftigkeit; wenn jedoch hundert, wenn tausend unter einem Einzigen leiden, dann sagt man doch wohl, daß sie sich nicht selbst gehören wollen, nein, daß sie es nicht wagen; und das nennt man nicht mehr Feigheit, sondern Schmach und Schande. Wenn man aber sieht, wie nicht hundert, nicht tausend Menschen, sondern hundert Landschaften, tausend Städte, eine Million Menschen sich eines Einzigen nicht erwehren, der alle miteinander so behandelt, daß sie Leibeigene und Sklaven sind, wie könnten wir das nennen? Ist das Feigheit?

Von der Freiheit und Trägheit eines Volkes

Alle Laster haben ihre natürlichen Grenze, die sie nicht überschreiten können: zwei Menschen, vielleicht auch noch zehn, können Einen fürchten; aber wenn tausend, wenn eine Million, wenn tausend Städte mit Einem nicht fertig werden, dann ist das keines Weges Feigheit; soweit geht sie nicht; ebenso wenig wie sich die Tapferkeit so weit erstreckt, daß ein Einziger eine Festung stürmt, eine Armee angreift, ein Königreich erobert. Welches Ungeheuer von Laster ist das also, das nicht einmal den Namen Feigheit verdient? das keinen Namen findet, weil die Natur keinen so scheußlichen gemacht hat, weil die Zunge sich weigert, ihn auszusprechen?

Man stelle fünfzigtausend bewaffnete Männer auf eine Seite und ebenso viele auf die andere; man ordne sie zur Schlacht; sie sollen handgemein werden: die einen sollen freie Männer sein, die für ihre Freiheit kämpfen, die andern sollen ausziehen, um sie ihnen zu rauben: welchen von beiden wird vermutungsweise der Sieg in Aussicht zu stellen sein? Welche, meint man, werden tapferer in den Kampf gehen? Diejenigen, die zum Lohne für Ihre Mühen die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit erhoffen, oder diejenigen, die für die Streiche, die sie versetzen oder empfangen, keinen andern Preis erwarten können, als die Knechtschaft der andern?

Die einen haben immer das Glück ihres bisherigen Lebens, die Erwartung ähnlichen Wohlstands in der Zukunft vor Augen; es kommt ihnen nicht so sehr zu Sinn, was sie in der kurzen Spanne einer Schlacht durchzumachen, wie was sie, ihre Kinder und all ihre Nachkommenschaft für immer zu ertragen haben. Die andern haben zu ihrer Erkühnung nur ein kleines Quäntchen Begehrlichkeit, das sich gegen die Gefahr verblendet, das aber nicht so gar glühend sein kann, vielmehr mit dem kleinsten Blutstropfen, der aus ihren Wunden fließt, erlöschen muß. Gedenke man nur an die hochberühmten Schlachten des Miltiades, Leonidas, Themistokles, die vor zweitausend Jahren geschlagen worden sind und noch heute so frisch im Gedächtnis der Bücher und Menschen leben, als hätten sie ehegestern in Griechenland zum Heil des griechischen Volkes und der ganzen Welt Exempel sich zugetragen; was, glaubt man wohl, gab einer so kleinen Schar wie den Griechen nicht die Gewalt, sondern den Mut, dem Ansturm so vieler Schiffe, daß das Angesicht des Meeres von ihnen verändert wurde, standzuhalten; so viele Nationen zu überwinden, die in so gewaltigen Massen angerückt waren, daß das Häuflein Griechen den feindlichen Armeen noch nicht einmal die Hauptleute hätte stellen können? Was anders, als daß es uns dünkt, in jenen glorreichen Tagen sei gar nicht die Schlacht der Griechen gegen die Perser geschlagen worden, sondern der Sieg der Selbständigkeit über die Tyrannei und der Freiheit über die Willkür!

Seltsam genug, von der Tapferkeit zu vernehmen, welche die Freiheit ins Herz derjenigen trägt, die zu ihrem Schutze erstehen; aber was alle Tage in allen Ländern von allen Menschen getan wird, daß ein einziger Kerl hunderttausend Städte notzüchtigt und ihnen die Freiheit raubt, – wer möchte es glauben, wenn er nur davon reden hörte und es nicht vor Augen sähe? Und wenn es nur bei fremden Völkern und in entfernten Ländern zu sehen wäre und man davon erzählte, wer möchte nicht sagen, eine so unwahrscheinliche Geschichte müßte erdichtet und erfunden sein? Noch dazu steht es so, daß man diesen einzigen Tyrannen nicht zu bekämpfen braucht; man braucht sich nicht gegen ihn zur Wehr zu setzen; er schlägt sich selbst. Das Volk darf nur nicht in die Knechtschaft willigen; man braucht ihm nichts zu nehmen, man darf ihm nur nichts geben; es tut nicht Not, daß das Volk sich damit quäle, etwas für sich zu tun; es darf sich nur nicht damit quälen, etwas gegen sich zu tun.

Die Völker lassen sich also selber hunzen und schuriegeln, oder vielmehr, sie lassen es nicht, sie tun es, denn wenn sie aufhörten, Knechtsdienste zu leisten, wären sie frei und ledig; das Volk gibt sich selbst in den Dienst und schneidet sich selber die Gurgel ab; es hat die Wahl, untertan oder frei zu sein und läßt seine Freiheit und nimmt das Joch; es fügt sich in sein Elend und jagt ihm gar nach. Wenn es das Volk etwas kostete, seine Freiheit wieder zu erlangen, würde es sich nicht beeilen, obwohl es nichts Köstlicheres geben kann, als sich wieder in den Stand seines natürlichen Rechtes zu setzen und sozusagen aus einem Tier wieder ein Mensch zu werden; aber ich gebe nicht einmal zu, daß es die Sicherheit des Lebens und die Bequemlichkeit ist, die es der Freiheit vorzieht. Wie!

Wenn man, um die Freiheit zu haben, sie nur wünschen muß; wenn weiter nichts dazu not tut, als einfach der Wille, sollte sich wirklich eine Nation auf der Welt finden, der sie zu teuer ist, wenn man sie mit dem bloßen Wunsche erlangen kann? Eine Nation, der es leid täte, zu wollen, was um den Preis des Blutes nicht zu teuer erkauft wäre? Nach dessen Verlust alle Menschen, die auf Ehre halten, das Leben widerwärtig und den Tod eine Erlösung nennen müssten? Gewisslich, ganz ebenso, wie das Feuer eines Fünkleins groß wird und immer mehr zunimmt und, je mehr es Holz findet, um so gieriger entbrennt; und wie es, ohne daß man Wasser herzuträgt, um es zu löschen, wenn man bloß kein Holz mehr daran legt und es nichts mehr zu lecken hat, sich in sich selbst verzehrt und formlos wird und kein Feuer mehr ist: also werden die Tyrannen, je mehr sie rauben, je mehr sie heischen, je mehr sie wüsten und wildern, je mehr man ihnen gibt, je mehr man ihnen dient, um so stärker und kecker zum Vernichten und alles Verderben; und wenn man ihnen nichts mehr gibt, wenn man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie ohne Kampf und ohne Schlag nackt und entblößt da und sind nichts mehr; wie eine Wurzel, die keine Feuchtigkeit und Nahrung mehr findet, ein dürres und totes Stück Holz wird.

Wenn die Kühnen das Gut erlangen wollen, nach dem ihnen der Sinn steht, fürchten sie keine Gefahr; die Vorsichtigen scheuen die Mühe nicht; die Feigen und Trägen können weder dem Übel standhalten noch das Gute erobern; sie begnügen sich damit, es zu wünschen; die Tugend aber, die Hand danach zu recken, enthält ihre Feigheit ihnen vor; nur der Wunsch, es zu haben, wohnt in ihnen von Natur. Dieser Wunsch, dieser Wille, ist den Weisen und den Toren, den Mutigen wie den Feigen gemein; sie wünschen alle Dinge, in deren Besitz sie glücklich und zufrieden sein möchten; ein einziges ist zu nennen, von dem ich nicht weiß, wie die Natur den Menschen den Wunsch darnach versagt haben kann: das ist die Freiheit, die doch ein so großes und köstliches Gut ist, daß, wenn sie verloren ist, alle Übel angerückt kommen und selbst die guten Dinge, die noch geblieben sind, ihren Duft und ihre Würze verlieren, weil die Knechtschaft sie verderbt hat: die Freiheit allein begehren die Menschen nicht, aus keinem andern Grunde, dünkt mich, als weil sie, wenn sie ihrer begehrten, die Freiheit hätten; wie wenn sie nur darum verschmähten, diese schöne Beute zu machen, weil sie zu leicht ist.

Über die Natur des Menschen

O ihr armen, elenden Menschen, ihr unsinnigen Völker, ihr Nationen, die auf euer Unglück versessen und für euer Heil mit Blindheit geschlagen seid, ihr laßt euch das schönste Stück eures Einkommens wegholen, eure Felder plündern, eure Häuser berauben und den ehrwürdigen Hausrat eurer Väter stehlen! Ihr lebet dergestalt, daß ihr getrost sagen könnt, es gehöre euch nichts; ein großes Glück bedünkt es euch jetzt, wenn ihr eure Güter, eure Familie, euer Leben zur Hälfte euer Eigen nennt; und all dieser Schaden, dieser Jammer, diese Verwüstung geschieht euch nicht von den Feinden, sondern wahrlich von dem Feinde und dem selbigen, den ihr so groß machet, wie er ist, für den ihr so tapfer in den Krieg ziehet, für dessen Größe ihr euch nicht weigert, eure Leiber dem Tod hinzuhalten. Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte; alles, was er vor euch allen voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnet, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgend Gewalt über euch, wenn nicht durch euch selber? Wie möchte er sich unterstehen, euch zu placken, wenn er nicht mit euch im Bunde stünde? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler des Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch selbst? Ihr säet eure Früchte, auf daß er sie verwüste; ihr stattet eure Häuser aus und füllet die Scheunen, damit er etliches zu stehlen finde; ihr zieht eure Töchter groß, damit er der Wollust frönen könne; ihr nähret eure Kinder, damit er sie, so viel er nur kann, in den Krieg führe, auf die Schlachtbank führe; damit er sie zu Gesellen seiner Begehrlichkeit, zu Vollstreckern seiner Rachbegierden mache; ihr rackert euch zu Schanden, damit er sich in seinen Wonnen räkeln und in seinen gemeinen und schmutzigen Genüssen wälzen könne; ihr schwächet euch, um ihn stärker und straff zu machen, daß er euch kurz im Zügel halte: und von so viel Schmach, daß sogar das Vieh sie entweder nicht spürte, oder aber nicht ertrüge, könnt ihr euch frei machen, wenn ihr es wagt, nicht euch zu befreien, sondern nur es zu wollen. Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, daß ihr ihn verjaget oder vom Throne werfet; aber stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, daß er, wie ein riesiger Koloß, dem man die Unterlage nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht.

Aber freilich, die Ärzte raten gut, wenn sie warnen, man solle die Hand nicht in unheilbare Wunden legen; und es ist nicht weise von mir, das Volk in diesem Stück tadeln zu wollen, das schon seit langem nichts mehr von der Freiheit weiß und dessen Krankheit sich gerade dadurch als tödlich erweist, daß es sein Übel nicht mehr spürt. Suchen wir also, wenn es irgend zu ermachen ist, herauszubekommen, wie sich dieser hartnäckige Wille zur Bootmäßigkeit so eingewurzelt hat, daß es jetzt scheint, als ob sogar die Freiheitsliebe nicht so natürlich wäre.

Zum ersten steht es, dünkt mich, außer Zweifel, daß wir, wenn wir nach den Rechten, welche die Natur uns verliehen hat, und nach ihren Lehren lebten, in natürlicher Art gehorsam den Eltern, untertan der Vernunft und niemand zu eigen wären. Des Gehorsams, den jedweder, ohne weitern Zuruf als seiner Natur, zu Vater und Mutter in sich findet, sind alle Menschen sich inne, jeder in sich und für sich. Ob die Vernunft uns eingeboren ist oder nicht, worüber die Akademiker geteilter Meinung sind und was jede philosophische Schule für sich entscheiden muß, davon, meine ich, genügt es zur Stunde, soviel zu sagen: es gibt in unserer Seele irgendwie eine natürliche Ansaat von Vernunft, die, wenn sie durch guten Rat und Sitte gehegt wird, zur Tugend erblüht, gegenteils aber, wenn sie sich oft gegen die aufschießenden Laster nicht halten kann, erstickt, verkümmert und eingeht. Aber gewißlich, wenn irgend etwas klar und natürlich einleuchtend ist, und wogegen niemand blind sein darf, ist das: die Natur, die Gehülfin Gottes und die Lenkerin der Menschen, hat uns alle in derselben Form und sozusagen nach dem nämlichen Modell gemacht, damit wir uns einander als Genossen oder vielmehr als Brüder erkennen sollten; und wenn sie bei der Austeilung der Geschenke, die sie uns gespendet hat, die einen am Körper oder am Geist mehr bevorzugt hat wie die andern, so war es doch nicht ihre Meinung, uns in diese Welt wie in ein Kriegslager zu setzen und sie hat nicht die Stärkeren und Gewitzteren auf die Erde geschickt, damit sie wie bewaffnete Räuber im Wald, über die Schwächeren herfallen sollten; vielmehr muß man glauben, daß sie, wenn sie dergestalt den einen die größern und den andern die kleinem Gaben schenkte, der brüderlichen Liebe Raum schaffen wollte, damit sie habe, wo sie sich betätigen könne: die einen haben die Macht, Hilfe zu leisten, und die andern die Not, sie zu empfangen.

Da nun also diese gute Mutter uns alle aus dem nämlichen Teige geknetet hat, damit jeglicher Mensch sich in dem andern spiegeln und einer im andern sich gleichsam selber erkennen kann; wenn sie uns allen zur gemeinsamen Gabe die Stimme und die Sprache gegeben hat, um uns noch traulicher zueinander zu bringen und zu verbrüdern und durch den Umgang und den gegenseitigen Austausch der Gedanken eine Gemeinschaft unseres Willens zu schaffen; und wenn sie mit allen Mitteln versucht hat, den Knoten unseres Bundes und unserer Gesellschaft zu Stücken gezeigt hat, daß sie uns alle nicht sowohl vereinigt als ganz eins hat machen wollen: dann gibt es keinen Zweifel, daß wir alle Genossen sind und es darf keinem zu Sinn steigen, die Natur habe irgend einen in Knechtschaft gegeben.

ENDE

Part I.

Part II.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aus-der-reihe-aufklaerung-durch-weltliteratur-etienne-de-la-boetie-von-der-freiwilligen-knechtschaft-des-menschen-part-ii

Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/boetie/knechtsc/knechtsc.html

Joe C. Whisper introduceyourself:
https://steemit.com/introduceyourself/@joe-c-whisper/hallo-hello-steemit-big-thanks-for-dtube-introduceyourself-joe-c-whisper-deutsche-kolumne-german-column-autor-author

This is part of an art project - please refrain from any intervention.

Joe C. Whisper

Sort:  

Du hast ein Upvote von mir bekommen, diese soll die Deutsche Community unterstützen. Wenn du mich unterstützten möchtest, dann sende mir eine Delegation. Egal wie klein die Unterstützung ist, Du hilfst damit der Community. DANKE!

Coin Marketplace

STEEM 0.24
TRX 0.11
JST 0.032
BTC 61649.11
ETH 3003.31
USDT 1.00
SBD 3.77