Der Herbst 1989 und ich

in #deutsch5 years ago

Wenn @twinner nach den individuellen Erinnerungen an den 9. November 1989 fragt, fühle ich mich als ehemaliges "Zonenkind" irgendwie verpflichtet, etwas zu diesem Thema zu schreiben. Ich kann nicht verhehlen, daß ich da sehr gemischte Gefühle habe.

Tja, eigentlich gibt's zum 9. November 1989 nicht viel zu sagen. Für mich war das ein Tag wie die anderen Herbsttage im Jahre 1989. Wenig Erinnerung ist mir generell an diese Zeit geblieben, da ich gerade in einer Klinik war. Das war lange geplant worden und der finale Versuch, für meine Auffälligkeit in der Schule einen festen Begriff zu finden. (Das klingt jetzt schlimmer als es ist/war. Ich war ja auch nicht das einzige Kind dort. Lange Krankenhausaufenthalte sind immer ein bißchen schlimm, aber nicht nur, es gibt wie überall positive und negative Momente. Und Erinnerung, die schwindet.)

Konkret war geplant, daß ich vom September bis Dezember 1989 in der Klinik bleiben sollte (also quasi bis Weihnachten), und so war es dann auch. (So schnell ging das mit der Auflösung des Staates DDR bekanntermaßen nicht.)

Das Gebäude, in dem die Klinik sich befand, lag auf dem Campus der damaligen Medizinischen Akademie Carl-Gustav Carus, welche von einer mannshohen Mauer umgeben war. Unser Gebäude stand relativ nah an dieser Begrenzung und dort zogen ab (vermutlich) Oktober auch Protestzüge vorbei, die wir hören konnten. Ob wir die Wörter, die gerufen wurden, auch verstanden haben, daran erinnere ich mich nicht und ich weiß auch nicht mehr, ob das in der Klinik thematisiert wurde. Wir waren vielleicht 10 Kinder zwischen 8 und 12, die mehr damit beschäftigt waren, zwischen den Terminen des Stationsalltags ihre vorpubertären Gefühle auszuleben. Also in etwa das gleiche Spektrum an unterschiedlichen Persönlichkeiten wie in jeder zusammengewürfelten Gruppe und derselbe soziale Sprengstoff wie überall, wo Menschen zusammenkommen, die ein psychisches Päckchen tragen.

Tagsüber hatten wir (reduzierten) Schulunterricht - keine Naturwissenschaften, keinen praktischen und keinen Sportunterricht - zu zweit marschierten wir Teilnehmer zu dem jeweiligen Gebäude, in dem wir zu dritt oder viert unterrichtet wurden, und mittags wieder zurück. Manchmal inspizierten der Mitschüler und ich auf dem Weg die Container mit dem medizinischen Sonderabfall. (Ja, der stand da relativ offen zugänglich herum.)

Nachmittags machten die Betreuerinnen mit uns Spaziergänge oder es gab Therapiestunden - mal als Gespräch, mal als Kunsttherapie, auch hier sind meine Erinnerungen lückenhaft. Manchmal gab es Disko im Gesprächssaal. Ansonsten habe ich recht viel gelesen - die Versorgung mit interessanten Zeitschriften für mittelgroße Kinder hat in der DDR durchaus funktioniert.

Wochenenden durften daheim verbracht werden und die meisten Familien kamen dem sanften Zwang, die Kinder übers Wochenende zu sich zu holen und damit die Schwestern zu entlasten, nach. Grundsätzlich durfte man auch am Wochenende in der Klinik bleiben. Am Sonntagabend mußten wir wohl zum Abendessen zurück sein. Wir durften Kompott für die Wochentage mitbringen, aber sonst keine Lebensmittel (glaube ich).

Meine Eltern schickten regelmäßig Karten und unregelmäßig schrieb ich zurück. Einige wenige Male kamen sie zu Besuch bzw. zu Gesprächen mit den Ärzten. Ich habe auch irgendwie Kontakt zu meiner eigentlichen Schulklasse gehalten, aber gegenseitige Besuche gab es nicht. Ab Januar 1990 habe ich normal den Schulunterricht an meiner eigentlichen Schule fortgesetzt.

Ich bin im ersten Quartal 1978 geboren, war also zum besagten Zeitpunkt 11,5 Jahre alt. Alt genug, um das eine oder andere mitbekommen zu haben, und zu jung, um selbst beteiligt gewesen zu sein. Ich hatte eine behütete Kindheit und soweit ich mich erinnere, galt das auch für die meisten meiner Mitschüler. Es gab niemanden, zu dem ich hätte Abtand halten müssen, oder der bzw. die von einem Tag auf den anderen weg gewesen wäre. Christlichen Glauben gab es in unserer Familie nicht (mehr) und auch keine subjektive Armut oder mangelnde Freiheit. Das "Jungpionierdasein" war angenehme Pflicht - wir haben Zeitungen gesammelt und damit (teilweise?) das Streichen eines Straßenbahn-Wartehäuschens in der Nähe der Schule finanziert (und selbiges mit den Vätern zusammen durchgeführt). Nachmittags habe ich ähnlich wie @backinblackdevil ein Kinder- und Jugendzentrum besucht und dort Kleintiere gepflegt sowie eine Zeitlang das Schreiben von Kurzgeschichten versucht. Für alles gab es Zeugnisse, die aber eher positiv formuliert wurden und kein Geheimnis waren. Man hat diese Beurteilungen also gern gelesen und vorgezeigt. (Gerade in meiner aktuellen Situation, wo ich auch wieder beurteilt werde, ertappe ich mich dabei, daß ich nicht nur auf gute Beurteilungen großen Wert lege, sondern auch darauf, deren Wortlaut bzw. Inhalt zu kennen.)

Ich bin froh, daß die DDR in diesem Zeitraum ihr Ende fand, denn für eine Zukunft in ihr wäre ich mit meiner Persönlich- und Körperlichkeit meines Erachtens nicht gerüstet gewesen. Ich habe, nachdem ich mich 2017/2018 intensiver mit dem Thema "DDR" beschäftigt und (hoffentlich) einiges an Wissen aufgeholt habe, Respekt vor jedem, der 1989 als Volljähriger erlebt hat. Aber ein Feiertag ist der 9. November für mich nicht. Ich habe keine Freiheit bekommen, die mir vorher gefehlt hat. Für mich ist das Ende der DDR bzw. des Ostblocks eine Abfolge von historischen Ereignissen und Entscheidungen, nicht ein einziges Datum. Und das Gedenken an die Reichspogromnacht erscheint mir wegen der viel tragischeren Auswirkungen wichtiger.

In meiner (wie gesagt lückenhaften) Erinnerung schloß sich der berufliche Wechsel meines Vaters in den Westen, der dann zu unserem Umzug nach Hessen geführt hat, direkt an den Jahrewechsel 1989/1990 an. Das kommt sicherganz nicht hin, aber im Prinzip gingen die Veränderungen (die letzen Endes alle Bereiche betreffen sollten) wohl tatsächlich sofort los. Wenn wir an Sonntagabenden zurück zur Klinik fuhren, waren an einer bestimmten Steinmauer jedes Mal neue Parolen - bis vermutlich Mitte 1991 kamen immer neue hinzu oder wurden alte übermalt, auf einer Länge von zuerst 2-3 Metern, dann fast die gesamte Breite von 200 Metern oder so. Um den Jahrtausendwechsel etwa wurde diese Mauer entfernt.

Bald fiel die Schulspeisung weg. Stattdessen war zwischen Vor- und Nachmittagsunterricht teilweise 2 Stunden Pause. Sogar meine Schwester, die einen viel längeren Schulweg hatte, kam manchmal mittags heim. Irgendwie war es möglich, bereits 1990 eine Klassenfahrt nach Norderney zu unternehmen. Mit einer Klasse Gleichaltriger aus Hamm, die gleichzeitig dieselbe Fahrt machte und sich mit uns auf dem Weg traf, blieb der Kontakt eher lauwarm.

Die neuen Verwandten - ein Cousin meines Großvaters und seine Nachkommen - sind eher in unser Leben getreten als wir in ihres. Nach gut 10 oder vielleicht eher 15 Jahren hat meine Mutter den Kontakt wieder aufgelöst - die kulturellen Unterschiede sind doch zu groß gewesen.

Ich habe Bilder von der diesjährigen Feier gesehen. Wo ist der Unterschied zu einer Feier nach einem Finalgewinn der DFB-Mannschaft? Irgendwie kommt mir das zu kommerzialisiert vor.

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