Ein Ostermärchen

in #deutsch4 years ago (edited)

Isabella Klais / Aufbruch - Wir für Deutschland!

Unser Freund Hubertus Thoma haust zwar nicht fern der Zivilisation, aber fern der Urbanität in the middle of nowhere. Die Abende sind dort eigentlich von sehr erträglicher Temperatur, nicht jedoch für einen Steinzeitmann aus südlichen Gefilden, der schon zu frösteln beginnt, wenn die Sonne sich einmal hinter eine Wolke verzieht. Und so ereilte ihn eines angenehm erfrischenden Abends beim Entzünden seines Kaminfeuers die Inspiration zu der nachfolgenden Geschichte.

Was noch zu erwähnen wäre, ist die beständige Not unseres Freundes an Feuerholz. Um seinen Bedarf zu decken, demontiert er regelmäßig die Ställe der Bauern in seinem Kaff. Den Vorfahren eines der Betroffenen sehen Sie auf dem Titelbild. Sein Nachfahre ist vergleichbarer Stimmung und nicht eben amüsiert.

Alex und Alexa verirrten sich im Wald

Ein modernes Märchen aus dem digitalen Zeitalter

von Hubertus Thoma

Alex und Alexa führten in der Hauptstadt ein nahezu korrektes Leben. Beide waren in der Kreativbranche tätig, Alex als Kommunikationsdesigner, Alexa als Konzeptkünstlerin. Kennengelernt hatten sie sich vor Jahren bei einer Demonstration für das Gute und gegen die Mächte der Reaktion. Sie lebten in einer Altbauwohnung, aus der mit Ausnahme des Parkettbodens alle wärmenden Schnörkel und Ornamente vergangener Zeiten entfernt worden waren. Jeder hatte ein eigenes Zimmer, in dem sie die meiste Zeit von ihrem PC aus arbeiteten. Sie waren cool und sie waren woke - bis auf ihre offensichtliche Heteronormativität eigentlich das perfekte Paar für das Zeitalter voraussetzungslosen Menschseins.
Alex und Alexa sahen sich mindestens zweimal täglich zu den gemeinsamen Mahlzeiten, die von ihrem smarten Hochleistungscomputer organisiert wurden, der sich um den gesamten Haushalt kümmerte. Am Vormittag gab es Sojabrühe und Müsliriegel, am Abend meist Pizza und Salat. Mittags arbeiteten sie durch, denn die Zeiten waren nicht einfach. Das Haus verliessen die beiden nur selten; zum einen war es meist unnötig, zum anderen liess ihnen die zunehmende Arbeitsbelstung kaum Zeit. Es war Monate her, daß sie zum letzten Mal an einer Demonstration teilgenommen hatten, vom Karneval der Kulturen ganz zu schweigen. Zwar gab es immer noch Gründe, für das Gute auf die Straße zu gehen, die Kräfte des Bösen schienen zuletzt aber doch erschlafft und entmutigt. Die jahrelange zähe Bewusstseinsarbeit im öffentlichen Raum hatte sich letztlich ausgezahlt. Fast unnötig zu erwähnen, daß Alex und Alexa kein eigenes motorgetriebenes Fahrzeug besaßen, allerdings zwei E-Bikes, die aber immer seltener benutzt wurden. Kurz: ihr Bewegungsradius beschränkte sich zusehends auf die Wege zwischen Schlafzimmer, Schreibtisch, Küche und Bad mit der zu erwartenden Folge einer Schwächung ihres Immunsystems und ihres gesamten Organismus. Migräneanfälle, Appetitlosigkeit und Konzentrationsmängel waren einige der Symptome, die Alex und Alexa dazu bewegten, einen Doktor der sanften Medizin aufzusuchen, der ihnen sogleich eine sehr natürliche Therapie verordnete: an die frische Luft, am besten in den Wald, in die Berge, mindestens eine Woche ohne Konzeptkunst und Kommunikationsdesign! Andernfalls drohe definitiver Burnout - ein passiver Lebensrest, sponsored by Bürger*_Innen- und Helikoptergeld...

Der Wald, die Berge! Das war gar nicht so einfach. Alexa fürchtete sich ein bißchchen. Sie hatte so etwas nämlich noch nie gemacht. Der etwas ältere Alex war als kleiner Junge noch einige Male mit seinem Großvater in die Beeren gefahren, bevor generationenübergreifender Direktkontakt aus Gründen des Seuchenschutzes verboten und als bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit geahndet wurde. Auch war er während seiner Schulzeit einmal auf Klassenfahrt im Gebirge gewesen, woran Alex allerdings eher schlechte Erinnerung hatte. Beim Wandern waren die Kinder in den Regen gekommen mit der Folge, daß sich einige ernsthaft verseuchten. Ihre unterschiedliche physische Leistungsfähigkeit gab zudem Anlaß für Hänseleien und Diskriminierungen, weswegen die Jugendämter in Absprache mit Elternräten und Diskriminierungsbeauftragten derlei Unternehmungen als Quelle von Exklusion alsbald abschafften. Alexa verfügte über keinerlei vergleichbare Erfahrung. Sie kannte gerade einmal die Hasenheide und den Kreuzberg, den sie als Mädchen mit dem E-Bike erklommen hatte. Der Hasenheide war sie aus einer gewissen Distanz fern geblieben, denn dort war es nicht geheuer. Mit der Schule waren sie einmal in Buchenwald gewesen, aber das war kein Wald, sondern etwas anderes...

Jetzt wurden die beiden der rauhen, analogen Natur ausgesetzt, die sich trotz beständiger Zähmungsversuche durch menschliche Vernunft noch immer nicht vollständig domestizieren ließ, im Gegenteil einen Rest an Feindseligkeit bewahrte, welche die fundamentalen Menschenrechte einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Obwohl keinerlei materielle Notwendigkeit für ihre Existenz mehr bestand, gab es in den Berg- und Waldreservaten noch immer Bauern, Menschen also, die sich der fortschrittlichen Bequemlichkeit des urbanen Lebens mehr oder weniger bewußt entzogen. Vor dem Umgang mit ihnen wurde allgemein gewarnt. Als Speerspitze proletarischer Umgestaltung für eine bessere Welt hatten sie einst kläglich versagt, gegen den darauf folgenden Liebesentzug waren sie mit grimmiger Entschlossenheit angerannt. Solange smarte Hochleistungscomputer zu flächendeckender Landschaftspflege nicht in der Lage waren, konnte man auf solche Verweigerer der Volldigitalisierung indes nicht ganz verzichten. Staatlicherseits wurden diese anachronistischen Anhänger analoger Lebensweisen knapp gehalten, von seiten einer woken Gesellschaft begegnete man ihnen mit dem notwendigen Mißtrauen.

Die ursprünglich vorgesehene Woche wurde für Alex und Alexa schon bald verlängert. Da beide über ein "Wokeness Certificate" verfügten kam die Solidargemeinschaft für ihre Verdienstausfälle auf. Die Regeneration sollte schließlich nachhaltig sein, ein Minimum an Training, das sie bereits zu Hause online beginnen mussten, war nach der langen Zeit des weitgehend bewegungsfreien #stayathome unerläßlich. Dennoch führten die ersten Ausgänge zu ungewohnten Reaktionen, Allergieanfällen, Muskelkater, Erschöpfung. "Da müsst ihr leider durch!" mahnte der sonst so sanfte Medicus milde, als Alex und Alexa via Smartie über ihre Gebrechen klagten. Nachdem der Ausbau der D6-Technologie in den Reservaten ins Stocken gekommen war, lief selbst die Kommunikation mit der Metropole nicht immer in für selbstverständlich erachteter Klarheit ab.

Der Reha-Plan sah ein Programm mit langsamer, aber beständiger Steigerung vor. Waren Spaziergänge anfangs noch präzise vorgegeben und beschrieben gewesen, enthielten die Instruktionen für die letzte Woche nur noch vage Zeitangaben, ohne eine bestimmte Strecke oder ein konkretes Ziel zu benennen. Hauptsache laufen und dabei tief durchatmen. So gerieten Alex und Alexa an einem der letzten Tage in ein Gebirgstal, das sie vorher nicht nur noch nie betreten hatten, sondern das auch außerhalb ihres räumlichen Vorstellungsvermögens lag. Ähnlich wie ihre Muskeln war auch dieses geschwächt, für jede Art von Orientierung gab es schließlich das Smartie. Als Alex mit Hilfe des Screens ihre Position bestimmen wollte, starrte er entsetzt auf einen schwarzen Monitor: die Batterie war leer und für eine provisorische Aufladung durch Sonnenenergie war es zu dunkel. Den ganzen Tag schon hatten dichte Wolken über dem Himmel gehangen, jetzt war es zudem schon spät. Alexa, die sich zu Beginn mit den ländlichen Lebensumständen gar nicht anfreunden konnte und über regelrechte Entzugserscheinungen klagte, war an diesem Tag merkwürdigerweise von gelassener Heiterkeit. Es war Frühlingsbeginn und wer sich den Sinn dafür bewahrt hatte, konnte die ersten Vögel singen hören. Irgendeiner machte "kiwitt, kiwitt", da jauchzte Alexa auf und rief, jetzt habe sie ihre Konzeptkunst in der Natur wiedergefunden! Dies half aber in der konkreten Situation auch nicht weiter, da die beiden Großstadtmenschen erschöpft den Rückweg suchten und nicht fanden. Alex nahm schließlich einen Pfad, der bergauf führte, von oben könne man eher einen Überblick gewinnen. Auf dem Plateau war es jedoch dunkler als im Tal, und es fing auch noch an, leicht zu regnen. Die beiden waren verloren.
"Kiwitt, kiwitt" machte es da auf einmal wieder, und es kam Alexa vor, als ob das Vögelchen "Komm' mit, komm' mit!" rief. Und als sie in die Richtung blickte, aus der die Stimme kam, gewahrte sie im Halbdunkel am Waldrand eine Hütte. Und als Alex eigentlich ohne große Hoffnung seine Hand auf den Griff der Eingangstüre legte sprang diese tatsächlich auf. Die beiden waren gerettet, zumindest vorläufig. Allerdings spürten sie schon sehr bald die Kälte, die sich über die Wintermonate in den Raum eingegraben hatte. Eine ganze Nacht in einem eisigen Raum, ohne Schlafstatt und ohne Decke, das war eine wenig einladende Vorstellung. Draußen war es jedoch inzwischen vollkommen Nacht geworden, und der Regen fiel jetzt in vollen Strömen vom finsteren Himmel. Die Nacht in der Hütte zu bleiben war alternativlos.
Da tönte es von draußen wieder "kiwitt, kiwitt", und Alexa bemerkte schlotternd, daß ein kleiner Kaminofen an der Wand angebracht war und daneben, fast ein Wunder, lag sogar ein Bündel mit Holz. Aber wie sollten die beiden das Holz zum Brennen bringen? Früher, als das Rauchen noch erlaubt war, führten viele Leute Feuerzeuge mit sich. Der Großvater hatte Alex erzählt, daß manche Männer so etwas manchmal auch deshalb bei sich trugen, um verführerischen Frauen Feuer zu geben. Das galt einmal als galant, war aber nichts anderes als sexistisch. Die wenigen Menschen, die noch an religiöse Ammenmärchen glaubten, zündeten an manchen Feiertagen Kerzen an, und wer an einem unaufgeklärten Totenkult festhielt, tat das gleiche auf dem Friedhof. Alex hatte all' das noch nie getan, er besaß kein Feuerzeug. Die Schachtel mit Streichhölzern, die er auf dem Holzbündel entdeckte, brachte ihn daher in umso größere Verlegenheit. Wie ging man damit um? Er hatte hin und wieder andere gesehen, die ein solches Hölzchen entzündeten, hatte aber nie aufgepasst. Wie hätte er sich vorstellen können, jemals in eine Situation zu geraten, in der derart archaische Kulturtechniken gefragt waren? Er versuchte es trotzdem, einige der Stäbchen flammten sogar für kurze Zeit auf, das Holz zum Brennen zu bringen gelang ihm jedoch nicht. Hilfesuchend schaute er zu Alexa, die fror, wie nur Frauen frieren können, aber bereits den pragmatischen Ausweg in einen frostigen Schlaf gefunden hatte.
Nachdem das letzte Streichholz zerrieben war merkte Alex, daß er gewaltigen Hunger hatte. Der Großvater hatte bei Wanderungen immer Stullen dabei gehabt, aber wer denkt denn in Zeiten Künstlicher Intelligenz an die Möglichkeit, sich Brote zu schmieren? Da hörte er aus einer Ecke des Raumes plötzlich ein Meckern und entdeckte, dem Ton wie auch einem strengen Geruch nachgehend, eine lebendige Ziege, mit der Alexa und er sich den Raum offensichtlich teilten. Aber was sollte er mit diesem Tier anfangen? Er konnte es doch nicht schlachten! Da kam ihm die Ziege zu Hilfe: "Mä-ä-ä-älch"" meckerte sie, "Mä-ä-ä-älch!", und als Alex sich zu ihr hinunterbeugte presste sie ihm ihr wohlgefülltes Euter gegen das Knie. - Auch das noch! In einem Dokumentarfilm hatte Alex einmal gesehen, wie die Bauern in alten Zeiten ihre Kühe mit der Hand melkten - heute hatten nicht nur die wenigen verbliebenen Viehwirte Melkautomaten, das Melken von Hand war aus hygienischen Gründen vielmehr streng untersagt. Aber hier in der Hütte gab es keinen solchen Apparat, die Veterinärpolizei war abwesend, und das einzige verfügbare Nahrungsmittel befand sich nun einmal in diesen bizarr geformten Milchsäcken zwischen den Hinterbeinen des Tieres. Aber wie sollte Alex da nur drankommen? Er hatte nicht einmal ein Gefäß, um die Milch aufzufangen. Wiederum half ihm die Ziege: "Leg' Dich hin!" blökte sie, und als Alex wie geheissen tat, positionierte sie sich so, daß ihr Euter auf sein Gesicht schwappte. "Jetzt trink' schon!" Doch Alex war starr vor Schreck: zum einen roch seine großzügige Wirtin nicht eben nach Flieder, zum anderen wußte er mit ihren Zitzen nicht das Rechte anzufangen. Wie war das noch einmal in dem Film gewesen? Ein fast erloschener Instinkt blitzte in ihm auf: vielleicht direkt mit dem Mund? Die Ziege verlor allmählich die Geduld und begann, mit ihrem Hinterteil auf und nieder zu wippen, so daß der weiße Saft von alleine auf Alex' Gesicht fiel und etliche Tropfen von alleine den Weg in seinem Hals fanden. "Pfui Teufel" rief er aus, "das ist ja warm und scheußlich!" Als sich Alex angewidert vom ungewohnten Geschmack der Ziegenmilch vom Boden erheben wollte war das Tier verschwunden. Erschöpft ließ er sich fallen und versank in tiefen Schlaf.

"Hallo, hallo, Ali wünschen gute Morgen!" Alex und Alexa erwachten erst, als ein kleiner, rundlicher Mann in der Tür stand, durch die das Sonnenlicht eines freundlichen Tages in die Hütte fiel. "Wo kommen Sie denn her?" wollte Alex soeben fragen, erinnerte sich aber rechtzeitig an seine Wokeness-Prüfung, und daß eine solche Frage unzulässig war. "Ihr von Monitor verschwunden" lachte Ali, der die Frage gleichwohl erraten hatte, "glaubt Ihr, in Wald nix Monitor und nix Hilfe? Ich Fachkraft, geprüfte Rescue officer, und führen euch nach Hause. Aber nehmen erst!" Mit diesen Worten reichte Ali den Verirrten zwei Müsli-Riegel und goß aus einer Thermoskanne heißen Sojasud in eine Tasse. "Sie wußten also die ganze Zeit, wo wir sind?" fragte Alexa, die die ungewohnt starken Eindrücken des letzten Tages erst einmal verarbeiten musste. "Ned ich, aber Große Bruder" gab der freundliche Ali zur Antwort. "Wissen selbst, Big Brother watching you, watching all - keiner gehen verloren!" Alex wollte etwas sagen von wegen "Deutsch mich nicht voll!" merkte aber rechtzeitig, daß das kein guter Witz gewesen wäre. Da die naheliegenden Fragen, die man dem sympathischen Retter hätte stellen können, allesamt mikroaggressionsverdächtig waren, kam kein rechtes Gespräch auf. Alex und Alexa schlürften ihre Sojabrühe, erleichtert über den guten Ausgang ihres Abenteuers, das sie alsald in den sozialen Netzwerken für alle Zeiten festhalten mußten. So ein analoges Erlebnis war im digitalen Zeitalter geradezu sensationell, setzte selbst auf Facebook noch Adrenalinstösse frei, hätte aber auch ein schlimmes Ende nehmen können. Wie beruhigend zu wissen, daß ein Großer Bruder über allem wachte! Oder war es vielleicht eine Schwester, ein "Divers"? Zurück zu Hause in der Altbauwohnung konzipierten Alex und Alexa sogleich ein Kommunikationsgesamtkunstwerk, das schon bald mit dem Großen Couragepreis der Metropole im Kampf gegen die Mächte der analogen Finsternis ausgezeichnet wurde, ein Preis, den das Künstlerpaar dem Berufsstand der in den Reservaten tätigen Rescue officers und speziell ihrem Freund Ali widmete. Und wenn dieses Kunstwerk nicht dauerhaft gelöscht worden ist, dann kann es noch heute downgeloadet werden!

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