Die Würde des freien Menschen

in #deutsch8 years ago

Vielleicht ist es das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts: Viktor E. Frankls „… trotzdem Ja zum Leben sagen“. Der 1946 erschienene Bericht über die Erfahrungen, die der Psychologe und Begründer der Logotherapie in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz, Kaufering und Türkheim gemacht hat, im Englischen unter dem Titel „Man’s Search for Meaning“ bekannt und ein Longseller, ist ein bewegendes Zeugnis der menschlichen Fähigkeit, noch unter brutalsten und erbarmungslosesten Bedingungen dem eigenen Leben Sinn zu verleihen. Diese Fähigkeit ist es, die die Würde und Glücksmöglichkeit des Menschen erst begründet, indem sie ihn in den unscheinbarsten Momenten, ja selbst im Leiden und im Sterben noch Sinnhaftigkeit erfahren lässt.

Viktor E. Frankl hat nach der Befreiung aus dem KZ bis zu seinem Tod im Jahr 1997 ein bewegtes und produktives Leben geführt, als Professor in Wien und in den USA, als Publizist, als Bergsteiger. Und das als großes „Trotzdem“ - trotz der Erfahrung des Verlustes seiner engsten Familienangehörigen, der Erfahrung von Leid und Gewalt, von Ohnmacht und Absurdität. Der nun erschienene Band „Es kommt der Tag, da bist du frei“ gibt einen faszinierenden Einblick in dieses Leben, das Leben eines Menschen, der vor der Abwesenheit von Sinn nicht aufgegeben, sondern die Kraft gefunden hat, sein Schicksal anzunehmen.
Dabei ist die Grundeinsicht Frankls, die auch in den hier veröffentlichten Reden, Briefen und Aufsätzen immer wieder aufscheint, die, dass Sinn weder etwas ist, was dem Menschen bereits gegeben vorliegt, noch etwas, was er selbst aus sich heraus erfinden kann: „Sinn muss gefunden werden, kann nicht erzeugt werden.“
Dies geschieht, wie Frankl es in dem Herzstück des Bandes, der Rede über den „Sinn und Wert des Lebens“ (1946) darlegt, auf verschiedene Weisen. Sinn kann entdeckt werden durch eine Tat, durch Arbeiten oder Helfen; wir können ihn aber auch als Liebende erfahren, in Hingabe an das Schöne, an die Kunst, die Natur oder an einen anderen Menschen. Zuletzt können wir dem Leben noch im Leiden Sinn verleihen, nämlich in der Einstellung den Einschränkungen gegenüber, die uns unser Schicksal bereithält. In der Art und Weise, wie der Mensch „sein Kreuz auf sich nimmt“, vermag er noch Werte zu verwirklichen.

Frankls fasst seine Erkenntnisse zusammen mit dem Goethe-Wort „Es gibt keine Lage, die sich nicht veredeln ließe, entweder durch Leisten oder durch Dulden“. Welche Bedeutung auf dem Wort „keine“ in diesem Zitat liegen kann, lassen die Zeugnisse von Frankls Umgang mit dem eigenen Schicksal, die in den bisher unveröffentlichten Briefen oder Gedenkreden von 1945-1988 die philosophisch-psychologischen Erkenntnisse einrahmen, erahnen. Sein eigenes Beispiel fungiert hier zugleich als Mahnung und Motivation für das, was er in Reden und Aufsätzen formuliert: die Forderung, dem Fatalismus zu entsagen. Frankl konzediert, wie notwendig diese Unterwerfung unter das Schicksal sich einstellt angesichts der Schwierigkeit, von Sinn, Wert oder Würde überhaupt noch zu reden, wo doch die Jahre vor 1945 „geradezu den Unwert menschlichen Lebens zu demonstrieren versucht“ haben. Angesichts der Steigerung von Propaganda, Krieg und Konzentrationslager, in dem „selbst jenes Leben, das man als todeswürdig angesehen, in seiner letzten Spanne noch ausgenutzt“ wurde.

Frank aber weigert sich, angesichts dieses „Un-Sinns“ die Hoffnung auf ein lebenswertes Leben aufzugeben. Dabei verfällt er keinem naiven Optimismus, verschließt nicht die Augen vor der inneren Verfassung des modernen Menschen, die er als „seelisch ausgebombt“ bezeichnet - umso mehr, als Frankl sich nun, 1946, angesichts der Erfindung der Atombombe auch noch einer „Katastrophe im Weltausmaß“ gegenüberstehen sieht.
Bei der Aufgabe des geistigen Wiederaufbaus gehe es jedoch darum, jegliche Schicksalsverhaftetheit hinter sich zu lassen, dies aber nicht aus einer unverbesserlichen, geradezu blinden Vertrauensseligkeit in die Unausweichlichkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern genau aus der entgegengesetzten, pessimistischen Haltung heraus, die weiß, dass „es von jedem Einzelnen unter uns abhängt, ,was und wie weit etwas ,fortschreitet’“: „Lieber ein nüchterner Aktivismus als dieser rosige Fatalismus!"

Diesen Aktivismus fasst Frank als existenzielle Pflicht auf, als einzige große Verpflichtung. Das klingt nüchtern und freudlos, und doch erwächst für Frankl aus der Annahme der Verpflichtung dem Menschen erst die Möglichkeit, selber Glück zu erfahren; dieses Glück darf und kann dabei nie Ziel sein, es darf nicht um seiner selbst willen gesucht werden, sondern es wird sich erst als Ergebnis einstellen der Erledigung ebendieser Pflicht. „Auf jeden Fall ist alles Glücksstreben des Menschen insofern verfehlt, als ein Glück ihm nur in den Schoß fallen kann, niemals jedoch sich erjagen lässt.“ In diesem Sinne hat Frankl gewissermaßen eine kopernikanische Wende in der philosophischen Betrachtung der Glückseligkeit vollzogen. Nach ihm soll der Mensch nicht fragen, was er vom Leben zu erwarten habe, sondern, falls er glücklich sein will: „Was erwartet das Leben von mir? Welche Pflicht, welche Aufgabe im Leben wartet auf mich?"

Derartige Einsichten versammelt der neue Band auf beinahe jeder Seite; sie gehen einher mit tiefen Einblicken in die Persönlichkeit ihres Verfassers, in die Situation, in der er sich sowohl vor als auch nach 1945 wiedergefunden hat, und in die Art und Weise, wie er mit ihr umgegangen ist. Gerade durch die hier abgedruckten Briefe erhalten Frankls Ausführungen zum Sinn des menschlichen Lebens eine eindrucksvolle Grundierung. Immer wieder versichert sich der Autor hier und in seinen Reden der Aufgabe, die ihm gegeben zu sein scheint, und immer wieder gelingt es ihm, durch die Vertiefung der persönlichen Beziehung zu seinen Mitmenschen diese Aufgabe zu formulieren. So schreibt er etwa bereits im September 1945 (!) an die Wiener Bekannten Wilhelm und Stepha Börner: „Ich sehe zunehmend ein, dass das Leben so unendlich sinnvoll ist, dass auch im Leiden und sogar im Scheitern noch ein Sinn liegen muss.“ Dass wir nun als Leser Zeuge der Möglichkeiten sein dürfen, die sich dem selbst im Leiden und Scheitern Menschen auftun, ist das große Verdienst dieses Bandes.

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