Ein Freund oder ein Agent? Möglichkeiten in Fraktalen aka OCD

in #deutsch5 years ago

Plötzlich klopfte es. Wir waren gerade damit beschäftigt, Karten zu spielen. Arschloch, heisst das Spiel. Ich scheine taktisch nicht ungeschickt und landete oft auf des Königs Thron. Wobei ich mir heimlich wünschte, manchmal nicht König zu sein, damit es eine Herausforderung wird, wieder König zu werden. Um nicht am Gespräch teilzunehmen, flüchte ich gerne in eine meiner Fantasiewelten und realisiere nicht mehr, was genau um mich herum geschieht. Es hilft, damit sich mein Gemüt nicht erhitzt ab der Einbahn-Konversation die herrscht. Ich sitze also da und denke über meine Heimat nach, während meine Sitznachbarin erzählt wie ihr Vater nach Hause kommt vom Arbeiten durch die Nacht - zum wiederholten Male. Und irgendwie lerne ich mir selbst zu verzeihen, dass ich hier sitze, tue als ob mich dies nichts angeht, weil ich Angst davor habe, ihr zu sagen, sie könne auch gut mal schweigen. Meine kläglichen Versuche, die Konversation auf meine Geschichte oder etwas sonst Positives zu lenken, haben wenig bewirkt. Und obwohl ich weiss, irgendwann in diesen sauren Apfel beissen zu müssen, schweige ich lieber und verstecke mich hinter meiner Art, nicht anwesend zu sein.
Es hat also geklopft. Ich werde augenblicklich nervös - vielleicht spüre ich die kommende kosmische Darstellung von Wahnsinn, Möglichkeiten - eine weitere Lektion, die mich lehrt, mich selbst zu lieben.

Ein Mann tritt ein. Ein alter Herr mit grauem, fahlem Gesicht. Er scheint ein netter Mann zu sein, so habe ich gehört. Im Schlepptau seine hier heimische Helferin. Doch noch bevor sie mir hallo sagen konnten, rannte ich die Treppe hinauf - ich spüre definitiv die Angst in mir.

Der Arzt hat mich gebeten, Medizin für den Mann zu bringen, er leidet stark. Ich habe leider vergessen, welche Krankheit er hatte, es muss Diabetes oder Krebs gewesen sein. Ich suche also nach einer kleinen Plastikflasche, fülle sie und bringe sie runter, knalle sie auf den Tisch und sage: hier ist die Medizin! Ich war so erleichtert, etwas zu tun zu haben und während allerlei mögliche Szenarien in meinem Kopf sich abspielten. Ich konnte meine Angst nicht erklären, ich war sehr nervös. Entsprechend war auch mein Auftritt nur als wirr zu bezeichnen.

Die Frau erschrak und der Mann schaute mich verwirrt an. "Du kennst diese Medizin?" fragte er erstaunt. Ich sage ja und versuche mich daran zu erinnern, was die Medizin ist und wie sie wirkt. Silber. Ja genau. "Ehm, ja, ich kenne die Medizin." sage aber nichts weiter. Mir ist sehr ungut zumute. Ich fühle mich beobachtet und habe das Gefühl, dass man mich unter die Lupe nimmt. Ich stelle mir vor, wie die Helferin denkt, ich habe hier eine geheime Droge zusammengemixt und verkaufe es heimlich. Vielleicht denkt sie, ich habe viel Geld und schickt Killer an unsere Tür.

Und so startet mein interner Horror. Mein Gehirn ist auf Vollgas. Lauter Gedanken gehen mir durch den Kopf:
"Was genau will er hier? Er vertraut mir nicht. Ich muss mich also gut erklären" - was ich nicht tat. Die Flasche ist in schwarzen Plastik gehüllt, mein Gott, sie muss denken ich bin ein Alkohol-Händler oder so."
Jede Bewegung, jede Geste wurde nun von mir so interpretiert, als würde sie, seine Begleiterin, uns beobachten und jedes Zeichen war für mich als ob wir tatsächlich was heimliches tun. Was wir so auf englisch beredeten, konnte für sie so einfach falsch interpretiert werden, da sie ja nur knapp paar Worte spanisch kann und kein English versteht.
"Ok, erkläre die Medizin. Mach, dass klar ist, dass es kein Alkohol oder sonst welche Drogen sind. Ok." Ich fange nochmals an, es zu erklären. "Also, die Medizin tötet Bakterien, Pilze, etc." In spanisch, zu ihr. Und mit jedem Wort, das ich sage, zweifle ich mehr an meiner Überzeugungskraft, so sehr, dass ich irgendwann so verwirrt bin, dass ich nicht mehr weiss, was ich sagen soll. Ich schweige, schaue ins Leere und versuche mir vorzustellen, nicht zu existieren. Ich nehme mal an, dies hilft kaum, die mich umgebenden Mitmenschen davon zu überzeugen, dass ich mich gut fühle und wohlauf bin.

In der Zwischenzeit wird mir klar, wie komisch mein erster Auftritt wohl gewesen sein muss, dass ich ohne Worte eine Flasche in einem schwarzen Plastiksack auf den Tisch knalle und ohne weitere Worte sage: hier ist die Medizin!

Mir wird es auf einmal peinlich und ich weiss keinen Ausweg, dies zurecht zu biegen. Ich schweige also, verängstigt, unsicher. Als Jugendlicher waren diese Momente so stark, dass ich in gewissen Gruppen nicht ein einziges Wort mehr sagen konnte. Ich hatte mich so in diese Rolle verstrickt, der Junge zu sein, der nichts sagt und wenn doch, dann komisches Zeugs. Was die Leute damals wohl von mir dachten.

Der Arzt bittet mich, die Hand der Helferin zu lesen. Kurz: ich habe das Talent, Hände zu lesen und zu erkennen, was sich emotional und kognitiv im Menschen abspielt. Naja, eigentlich ist mein Talent nur, dass ich zulasse, verrückte Sachen zu sagen und bin dann erstaunt, wie die Menschen unter Tränen sagen, wie richtig ich liege. Auf jeden Fall las ich also ihre Hand, und voila, meine nächste Angst-Attacke.

Sie ist hier, mich zu töten, ging es durch meinen Kopf. Ihr Blick - dunkel und sehr einschüchternd - durchbohrte mich. Ich bekam Angst. Stotternd fing ich also an, ihre Hand zu lesen. Meist überflutet mich eine Welle von Eindrücken und Emotionen, sobald ich eine Hand anfasse. Dies war auch hier nicht anders. Ich hielt ihre Hand und erzählte von ihrem Leben und dass sie an einem Punkt ist, wo es wichtig ist, sich gut zu überlegen, welche Entscheidungen sie trifft. Trotz ihrer Vergangenheit und ihres sozialen Umfelds, so sagte ich mehrmals, könne sie sich entscheiden, welchen Weg sie einschlagen wird. Es war still - ich war in Trance. Ich hatte das Gefühl, unser aller Leben hange davon ab, wie diese Frau sich entscheidet. Sie lächelte nicht, sie durchbohrte mich mit ihrem Blick. Jedes Mal jedoch, wenn ich was nettes über sie sagte, eines ihrer Talente ansprach, lächelte sie kurz. Es kann gut sein, dass sie selbst mehr Angst vor mir hatte, als ich vor ihr.

Ich fing an zu schwitzen, denn ich mag diese Aufmerksamkeit nicht. Ich habe das Gefühl, zu viel Angriffsfläche zu bieten. Ich habe Angst vor Menschen und ihren Urteilen. Dennoch liess ich den Worten freien Lauf. Nach einer Weile lächelte sie, zog ihre Hand zurück und das Gespräch ging in eine andere Richtung. Ich kann mich nicht mehr an alle Details erinnern, doch ich weiss noch, wie ich das Gefühl hatte, der Mann sei ein Spion und uns auf der Ferse. Er fragte mich mehrmals, ob ich über Weihnachten nach Hause ginge. Ich ignorierte seine Frage eiskalt, ich hatte solche Angst, etwas falsches zu sagen. Wie hart das wohl für ihn gewesen sein muss, dass ich ihn so steinhart ignorierte, obwhol alle seine Frage hörten.Ich konnte, nachdem sie nach etwa 90 Minuten endlich gingen, nicht mal mehr auf meinem Stuhl sitzen, aus Angst, draussen lauern Scharfschützen und warten auf eine spezifische Bewegung. Ich erinnere mich noch, wie ich seine Hand schüttelte zum Abschied und dachte, dass dies ein Zeichen vom Verkauf der Frau ist und wir nun alle erschossen werden. Ja - manchmal bin ich ein bisschen ängstlich, das gebe ich zu.

Du magst Dir vielleicht denken, dass ich spinne. Ich tue es irgendwie auch. Im Nachhinein ist es ja auch ziemlich witzig, meine Auffassung. Mein Anliegen mit dieser Geschichte ist, dass wir alle vielleicht ein bisschen einen Hang zum Wahnsinn haben. Ich jedenfalls - und dies zieht sich durch mein Leben - habe einen Hang zu der Tatsache, wirre und z.T. realitätsfremde Möglichkeiten als Realitäten zu sehen. Die Angst spielt dabei eine grosse Rolle. Als Jugendlicher konnte ich so manchmals stundenlang nicht einschlafen, aus der Angst, etwas falsch gemacht, ein Zeichen falsch gelesen zu haben, etwas vergessen zu haben. Ich lag stundenlang wach, stand auf und berührte alle Gegenstände in meinem Raum, stieg 5mal aus dem Bett und wieder zurück. Meine Angst hatte mich so stark im Griff, dass es mich mehrmals an mir selbst verzweifeln liess, bis ich erschöpft einschlief.

Compulsive Disorder (OCD) nennt man dies. Ich habe nie darüber geredet, denn die Scham war zu gross.

Doch dazu später mehr. Ich habe diese Szene überlebt, doch jedesmal, wenn der besagte Herr vorbeischaut, werde ich nervös und habe Angst. Doch ich arbeite daran, zu lernen, dass ich ein gesunder Verstand habe und nicht verrückt bin. Ich lerne, die Kontrolle abzugeben und loszulassen. Ich lerne, mir selbst zu vertrauen. Er ist ein Freund von uns.

Übrigens - ich lebe noch, kein Agent tauchte auf und auch kein Mörder. Meine Ängste waren also meine Vorstellung und diese entspricht nicht immer meiner Realität.

F.E.A.R. = False evidence appearing real. Zu deutsch: falsche Beweise/Eindrücke erscheinen real.

Danke fürs Zuhören. Ich habe diese Geschichte niemandem erzählt und ich gebe zu, mich ein wenig zu schämen, denn es klingt ja schon auch echt ein bisschen verrückt. Ich leide oft darunter, aber es hat auch seine guten Seiten. Und vielleicht kann ich andern helfen, indem ich meine eigene Geschichte erzähle.

Ich freue mich über jeden Kommentar und jede Frage.

Seid gesegnet. Und danke für eure Aufmerksamkeit.

God has not given me a spirit of fear, but of love, power and a sound mind!

Instagram @flurinbur
Minds @cryptonuts

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