Reise ins Herz der Finsternis - Teil 4

in #deutsch7 years ago (edited)

Gegen 15,30 Uhr, lange nach der eigentlich dafür vorhergesehen Zeit, sind wir wieder zurück im Internat, um zu essen. Auf dem Weg dorthin und zurück herrschte wie an den folgenden Tagen dasselbe Bild: Menschentrauben, hauptsächlich Kinder, durch die wir unseren Weg bahnen mußten und die gelegentlich von den „S.I.P.A.“-Ordnern wie Vieh auseinandergetrieben wurden. Die Menschen schienen sich über unsere Anwesenheit riesig zu freuen, gaben uns die Hand, versuchten uns zu berühren. Einige baten um Geschenke, sehr viele versuchten, uns ihre Adresse zuzustecken oder ein Anliegen vorzutragen. Hätte H.-W. nicht immer wieder betont, daß wir so viele Kontakte wie möglich knüpfen sollten, hätte ich mich nach dem zehnten Zettel und der zehnten Geschichte dem ganzen einfach versperrt. Der Anblick der Menschenmassen hatte mich schon stark berührt, weil der schleierhafte Eindruck des Fiktionalen, den Bilder von Afrika in Sendungen wie dem Auslandsjournal bei mir ausgelöst hatten, jäh zerrissen wurde. Mir war zwar rational durchaus klar gewesen, daß diese Bilder die Realität darstellten, aber nun fühlte ich sie auch. Jetzt bekam die amorphe Masse auch noch Gesichter, einzelne Gesichter bekamen einen Namen und eine Identität, die mir ihre Geschichte erzählten und für die ich in diesem Augenblick eine ungeheure Hoffnung darzustellen schien. Während andere freudig-strahlend wie Helden durch die Menge schritten und geschmeichelt jede Hand ergriffen, merkte ich, wie ich mich zu verschließen begann und ob der Bedrängnis und des messianischen Auftretens einiger Europäer ärgerlich wurde. Ich wünschte mir, daß diese Menschen mir aufrecht und stark begegnen würden und nicht mit einer aus Verzweiflung herrührenden Rücksichtslosigkeit, die sie nach mir greifen ließ wie nach einem menschlichen letzten Strohhalm. 

Nachdem wir ein wenig abseits geraten waren, versagte mein Selbstschutz aus Ärger und Ablehnung. Ich brach in Tränen aus, was mir die einzig mögliche menschliche Reaktion auf diese Bilder zu sein schien. Ich wollte nur noch weg, aber Réjane und H.-W. hielten mich einfühlsam aber bestimmt zurück. Wir hatten uns mit einigen Vertretern von örtlichen Organisationen verabredet. Viele solcher Gespräche sollten folgen. Wir wußten am Schluß nicht mehr, mit wem wir uns als nächstes verabredet hatten und brachten die diversen Organisationen durcheinander, ganz zu schweigen von den fremdartigen Namen unserer Gesprächspartner. Mir schien die Zahl der Vereine und Verbände sehr hoch, denn es mußten ja noch viel mehr sein, als die zwei Dutzend, von denen wir entweder gehört, oder mit deren Vertretern wir gesprochen hatten. Leider sind diese Aktivitäten so zersplittert wie zahlreich. Überrascht und beeindruckt hat mich die schnörkellose Vernünftigkeit vieler unserer Gesprächspartner. Ich bin es ja gewohnt, Menschen von unseren Überzeugungen und Denkmodellen zu erzählen und finde sie einleuchtend und hilfreich. Ebenso gut kenne ich aber die Ausreden, die Verbalakrobatik, die manche Menschen bemühen, um ihre Passivität zu vertuschen, das „kritische“ Suchen nach einem Haken, den Vorwurf der Arroganz, weil es ja nicht sein darf, daß jemand „mehr“ verstanden hat usw... Das fiel in diesen Gesprächen einfach weg. Mit denen, die sich nicht anbiedern wollten und nur auf schnelle materielle Hilfe aus waren, fand ein sehr nüchterner aber fruchtbarer Austausch statt, weil viele Selbstverständlichkeiten auch als solche angesehen wurden. Was sich aus den Gesprächen tatsächlich ergeben wird, weiß ich nicht. In meiner Macht steht aber auf jeden Fall, daß ich sie nicht vergesse. 

Wir kamen mit Verspätung in das Internatsgebäude zurück, nicht zuletzt weil wir erfahren hatten, daß die angebliche Ausgangssperre um 18,00 Uhr wohl nur eine Methode war, die Gruppe zusammen zu halten. Den nächsten Vormittag verbrachten wir wieder auf dem Kongreß. Nach dem Essen trafen wir uns mit Paluku Vasangavolo Pavasa, dem Direktor der Nationalbibliothek des Nord-Kivu in Goma und Frau Dr. Kahamwiti Wasukundi, einer Ärztin, die uns angeboten hatte uns zu einigen  Krankenhäusern zu begleiten. Ein junger Kongolese hängte sich auch noch an unsere Gruppe, ohne daß ich genau verstand, was er eigentlich wollte. Auf der Fahrt konnte ich etwas von Butembo sehen. 

Die Stadt hatte vor zehn Jahren noch ca. 20.000 Einwohner gezählt, inzwischen kann niemand mehr genau sagen, wie hoch die Einwohnerzahl liegt. Schätzungsweise 250.000 Menschen hausen in einer Geisterstadtkulisse aus einstöckigen „Häusern“, ohne asphaltierte Straßen, mit nur vereinzelter, privat-finanzierter Straßenbeleuchtung. Wir erreichten mit unserem Jeep das erste von vier Krankenhäusern, ein marodes, dreckig-graues Gebäude. Dieses Haus war staatlich geführt, während die anderen drei zwar vom Staat (wer auch immer das dort ist) gebaut, aber von den Kirchen geführt wurden. Ich wunderte mich bei allen vier Krankenhäusern über die relativ geringe Auslastung. In meiner Vorstellung hätten die Krankenhäuser dort überquellen müssen. Allerdings, so erklärte uns Frau Dr. Wasukundi, ist die Verpflegung dort für die Einheimischen teuer, da es kein funktionierendes Netz von Krankenversicherungen gibt. Die Ärzte arbeiten zwar zum Teil kostenlos und nehmen von solventeren Patienten etwas mehr, für eine flächendeckende Versorgung reicht es aber nicht. Außerdem stellte sich mir angesichts des desolaten Zustandes der „Krankenhäuser“ die Frage, wer sich dort überhaupt freiwillig hinbegeben soll. Eine bei allen vier Krankenhäusern stark frequentierte Abteilung war die Entbindungsstation. Ich weiß nicht, was sich die Kongolesen dabei denken, wenn sie Kinder in die Welt setzen, die sie nicht ernähren können. Ich weiß nicht, ob z.B. die 15- oder 16-jährigen Mütter sich überhaupt etwas dabei denken. Vielleicht erliegen sie dem Trugschluß, daß sie bei der hohen Kindersterblichkeitsrate (selbst „offiziell“ über 20%) einfach mehr „werfen“ müssen. Ich will dies auch nicht verurteilen oder mit dem Ausdruck „werfen“ zynisch werden. Ich finde nur, daß ich es ehrlicherweise so nennen sollte, wenn ich den Eindruck habe, daß Menschen sich wie Tiere verhalten. Was die Menschen im Kongo sicher nicht brauchen, ist pseudo-humanistische Euphemisierung (die ohnehin mehr aus eigener Feigheit, als aus Rücksicht auf die Menschen dort angewandt wird). 

Die Bilder in den vier Krankenhäusern glichen einander, wie der süßlich-schwere Geruch. Malaria-, Typhus- und Tuberkulose-Kranke, zwei junge Kerle mit zerschossenen Unterkiefern, zwei andere mit Querschnittslähmung, Opfer der Kämpfe zwischen May-May und Regierungstruppen. Babys mit Ödemen und sonstigen Mangelerscheinungen. Schmutz. 

Was ist die „richtige“, „vernünftige“, „authentische“, „menschliche“ Reaktion auf solche Bilder? 

In der allabendlichen „margherita“ berichteten die Gruppen über ihre Erlebnisse. Als Sprecher unserer deutschen Triade, die die Erlaubnis bekommen hatte, sich von der Gruppe zu trennen, sagte ich einige Worte. Ich fand es angemessen, nicht zuletzt wegen der Anwesenheit von kirchlichen Vertretern, der Kirche vorzuschlagen, ihre Haltung zur Empfängnisverhütung zu überdenken. Ich weiß, daß das nicht die Lösung aller Probleme dort ist. Die Probleme dort sind aber zu gravierend, als daß man sich auf der Suche nach Auswegen durch irgendwelche religiös-dogmatischen oder ideologischen Sperren aufhalten lassen darf. Ich weiß auch, daß viele Priester vor Ort das Thema weit weniger strikt handhaben als der Papst. Dann ist es aber ihre Pflicht als Christen und Menschen, dies laut und aufrecht in Richtung Rom zu sagen, und nicht, wie geschehen, zu mir, um mich nach meinen Worten zu besänftigen.  


...Fortsetzung folgt

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Sehr guter und authentischer Bericht - ich bin beeindruckt von Deiner Art zu schreiben.
Gruesse aus Sued Afrika

Ich weiß nicht, was sich die Kongolesen dabei denken, wenn sie Kinder in die Welt setzen, die sie nicht ernähren können.

Zum einen gibts wahrsheinlich keine Verhütung, und wenn ist sie zu teuer, und dann ist da noch die Frage ob die technische Seite überhaupt bekannt ist.
Ist es oft auch heute noch nicht.

Ich bekomme richtig Gänsehaut bei deiner Geschichte. Warte gespannt auf die Fortsetzung. Zieh den Hut vor dir das Du eine solche Aktion mit 25 mitgemacht hast. RESPEKT!

Ah mann mein deutsch ist sehr sehr rustig. I just noticed that I completely lost my german linguistic skills but topic looks interesting !

Ich finde Deine Berichte sehr interessant, freue mich auf die Fortsetzung, finde ich gut wie Du schreibst, wie gesagt sehr interessant, was ich so nicht geahnt hätte.

I love it :D

seems to be informative

Upvoted and RESTEEMED :)

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