Worte - Kurgeschichte

in #deutsch6 years ago

Worte


So viele Worte gingen ihm durch den Kopf in diesem Moment. Worte von Freunden, von Familie, von Menschen, die er noch nie vorher gesehen hatte. Wie sie ihm sagten, dass er so geschickt mit Worten sei, so kreativ. Wie sie einfache kleine Texte lobten und als bunte Wortgemälde beschrieben. Wie sie Rückschlüsse aus seinen Geschichten auf ihn selbst trafen, ihn als humorvoll und offenherzig beschrieben, teilweise ohne ihn je auch nur einmal persönlich gesprochen zu haben. In Kommentaren im Internet, in Nachrichten in Foren oder auch bei den ersten persönlichen Begegnungen. Worte voller ehrlicher Anerkennung.

Das alles ging ihm durch den Kopf, vermischt mit so vielen anderen Gedanken und Gefühlen, während er hier stand und schaute. Schaute auf die schöne Gestalt, welche mit schlenderndem Schritt um die Tische herum ging, auf der Suche nach einem freien Platz. Das Licht der Sonne, welches sich durch die staubigen Dachfenster kämpfte, ließ ihr Haar leuchten wie Feuer und fasste das weiche Gesicht in einen strahlenden kupfernen Rahmen ein. Beinahe schüchtern tanzten die Sonnenstrahlen auf ihren blassen Sommersprossen, welche sich um die feine Stupsnase schmiegten. Mit nichts als Bewunderung beobachtete er, wie ihre warmen Augen den Raum absuchten und doch nie den Weg bis zu ihm fanden. Und selbst wenn sie hinüber blickten, dann nahmen sie ihn doch niemals wahr, sondern wanderten einfach weiter.

Dabei hoffte er doch so sehr, dass ihr permanent so strahlender Blick nur einmal für kurze Zeit bei ihm hängen bleiben würde. Vielleicht würde ihm das endlich den Mut geben, zu ihr hinüber zu gehen und sie dazu zu bringen, die Kopfhörer abzunehmen. Doch was sollte er ihr sagen? Wie sollten ihm denn Worte über die Lippen kommen, wenn er bereits so von ihren zarten rosanen Selbigen gefangen genommen war? Wie sollte er die Luft dafür erübrigen, wenn ihm bereits jedes Mal der Atem stockte, wenn sie nur fröhlich in sich selbst hinein lächelte? Wenn er nur ihre Silhouette sah, begann alles in ihm zu kribbeln und von all den so sorgsam zurechtgelegten Worten in seinem Kopf blieb nur der Schwindel und weißes Rauschen.

Dann saß er wieder da, schwärmte heimlich vor sich hin, begutachtete sie aus der Ferne, verlor sich in ihren Augen und träumte. Träumte davon, durch ihr seidiges Haar zu streicheln, die weiche Haut unter seinen Händen zu spüren, ihre vollen Lippen zu küssen und den süßlichen Duft zu riechen, der sie immer umgab. Träumte davon, dass ihr liebevolles und offenes Lächeln ihm gelten würde und wie ihre Berührung wie ein Feuerwerk durch seinen ganzen Körper strahlten. Sehnsüchtig seufzte er jedes Mal wieder in sich hinein.

Wie man es auch drehte, es half alles nichts. Er musste sie ansprechen, und wenn er ihr nur sagte, dass er ihre Haare schön fand. Es würde der Sache nicht im Ansatz gerecht werden, aber verschrecken wollte er sie auch nicht, durfte er nicht, auf gar keinen Fall! Er nahm all seinen Mut zusammen, verfluchte sich selbst, dass er diesen Wahnsinn zugelassen hatte, und stand mit zitternden Knien auf um sich nach ihr umzusehen. Doch sie war bereits wieder fort. Wieder einmal hatte er die Chance verpasst und wieder einmal ärgerte er sich maßlos über sich selbst. Nächstes Mal, das versprach er sich, wie schon die letzten Male immer, nächstes Mal würde er sie wirklich ansprechen und fragen, ob sie sich nicht mal kennenlernen könnten. Oder er würde einen Zettel schreiben, damit sie ihre Kopfhörer nicht abnehmen musste … Irgendwann würde er sich trauen.

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Ja genau - irgendwann?!
Vielleicht sogar ein Fehler? Was, wenn der Zauber dann vorbei ist?
Mich hast du jedenfalls ohne Kopfhörer auf deinen Fersen.
Übrigens passierte mir mal Vergleichbares. Als sie den ersten Satz über die Lippen brachte, hinterließ sie in meinem Kopf einen Scherbenhaufen. Kann passieren - muss aber nicht.
Schöne Geschichte!
Gruß, Wolfram

Nun, er kann ja nicht wissen, dass es kein "Irgendwann" mehr gibt und er seine Chance vertan hat. Aber vielen Dank für den Kommentar. Immerhin bleibt ihm dann der Scherbenhaufen erspart.

Und was tut weniger weh?

Ich hege gewisse Zweifel. Es bewahrt natürlich die Illusion, dass alles perfekt hätte sein können, obwohl man genau weiß, dass es das nicht gibt.

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