Unstrukturierte Gedanken zum Ende von VIVA

in #deutsch6 years ago

Das Jahr 2018 ist jetzt seit ein paar Tagen vorbei, mit ihm auch ein Stück deutsch(sprachig)e Fernsehgeschichte: VIVA gibt es nicht mehr. In Zeiten von YouTube, Spotify, usw. wundert das kaum jemanden und als die Nachricht über das Aus von VIVA letzten Sommer verkündet wurde, da waren viele verwundert, dass es VIVA 2018 immer noch gab. Als 2011 MTV ins Pay-TV ging und VIVA somit der Platzhirsch im deutsch(sprachig)en Musikfernsehen wurde, war die Verwunderung noch viel größer, damals konnte man beinahe sogar von einem "Schock" sprechen (Platzhirsch ist relativ: beide Sender gehören derselben Firma, vermutlich war der Markt schon so geschrumpft, dass zwei Sender, die das gleiche Publikum ansprachen, schon damals keinen Sinn mehr machten). MTV ist 2017 mittlerweile wieder ins Free-TV zurückgekehrt, aber es interessiert offenbar kaum jemanden. MTV und VIVA waren in den letzten Jahren irgendwie wie alternde Musiker, die seit Jahren nur mehr belanglose Alben produzieren und schon selbst irgendwie merken, dass ihre besten Jahre schon langer vorbei sind und die hauptsächlich von ihrem Namen leben, was für eine einstige Legende natürlich irgendwie traurig ist.

Ironischerweise haben im Jahr 2018 auch viele Bands, die ich eigentlich sehr schätze, Alben herausgebracht, auf die genau das sind: belanglos. Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob diese Einschätzung nicht doch eher mehr an mir liegt. Im Falle des neuen We Are Scientists Album vermutlich schon, denn es beginnt mir erst jetzt langsam zu gefallen (und ich versuchte es öfters zu hören, es hat aber nie so geklickt wie bei ihrem Album aus dem Jahr 2008). Editors, Interpol und Arctic Monkeys, alle Bands, die ich in etwa zur selben Zeit als We Are Scientists zu hören begann, also einen relative ähnlichen Stellenwert in meiner Musik-Biographie haben, veröffentlichten auch alle neue Alben letztes Jahr. Die Alben der ersten beiden Bands sind irgendwo zwischen "ok" und "meh", beide haben ihre Momente, sind jetzt aber nicht übertrieben. Und im direkt Vergleich (also in meinem persönlichen Vergleich) hat jetzt Interpol mit diesem Album die Nase vorne, das erste Mal seit 2012. Das neue Album der Arctic Monkes hingegen hat mir überhaupt nicht gefallten, offenbar ist es "ein Grower", man muss es sich also mehrmals anhören, bevor man es mag. Ich war ehrlich gesagt schon nach dem ersten Mal schon so geschockt, dass ich es mir kein zweites Mal geben wollte. Ich habe mir beim 2016 erschienen Bloc Party Album etwas Ähnliches gedacht und es dementsprechend oft gehört, das hat aber nichts geholfen, es ist und bleibt für mich einfach ein schlechtes Album und ich habe die Befürchtung, dass es mir mit besagtem Arctic Monkeys Album nicht viel anders ergehen wird, beim neuen Tocotronic Album hat es ja auch nichts genutzt. Aber um jetzt nicht nur zu kritisieren: das neue Muse Album ist ziemlich gut und das neue Sleep Album ist einfach eine Offenbarung. Unglaublich, dass eine Band die seit über 20 Jahre kein Album mehr aufgenommen hat und seit ihrer Wiedervereinigung 2009 nur ein neues Lied veröffentlichte so ein durch und durch brillantes Album veröffentlichen kann. Dieses Album ist ziemlich genau die Definition von Metal, selten ist ein Album untergekommen, dass ein Musikgenre wirklich definiert. Die Fans (so wie ich) sind aus dem Häuschen, leider ist Sleep eine Band, die selbst in der Subkultur des Metals nur ein Nischendasein fristet, Doom/Stoner Metal sind eher kleine Subgenres, obwohl sie direkt von den Metal-Urvätern Black Sabbath inspiriert sind. Ok, ich bin jetzt vom eigentlichen Thema ziemlich weit abgeschweift und habe einen Rückblick auf mein Musikjahr 2018 geschrieben. Eins noch, bevor ich wieder auf das Thema VIVA zurückkomme: ich habe 2018, anlässlich des Todes von Mark E. Smith, mir die gesamte Diskographie von The Fall auf Spotify angehört (über 1500 Lieder und zum Teil sehr schräge "Lieder"), eine Leistung, auf die ich durchaus Stolz bin und gerne auf der Blockchain verewigt haben würde :D

Mein langer Ausflug zeigt aber eines sehr deutlich: Musik ist eben eine sehr subjektive Sache und jeder hat andere Vorlieben und Erinnerungen an Musik. YouTube und Spotify sind großartig darin, die persönlichen Vorlieben von jemanden herauszufinden und ihm dementsprechende Musik vorzuschlagen (die oben erwähnte Band Sleep wurde mir zum Beispiel vor viereinhalb Jahren von Spotify vorgeschlagen), früher hatte das Musikfernsehen diese Aufgabe über. Individualisierung gibt es da natürlich nicht, das Programm muss so vielen Leuten wie möglich ansprechen. Lineares Musikfernsehen erfüllt diese Bedingung, jedoch folgt es nicht nur dem Geschmack der Masse, es beeinflusst ihn auch maßgeblich. Das hat dann aber wieder den interessanten Effekt, dass gewisse Lieder untrennbar mit einer gewissen Zeit verbunden werden. Ich habe mir zum Beispiel letztes Jahr viele "Best of 2008" Playlists angehört. Darin kamen viele Lieder vor, die ich mir zwangsweise im Jahr 2008 angehört bzw. deren Videos gesehen habe, darunter sind natürlich Lieder, die mir damals entweder gefallen haben (z.B. Kid Rock - All Summer Long), weniger gefallen haben (z.B. Sido - Augen auf oder egal waren (z.B. Estelle feat. Kanye West - American Boy). Das lustige ist jetzt, ich habe alle drei genannten Lieder in so einer "Retro" Playlist gehört und habe mich über jedes einzelne gefreut, da es mich augenblicklich ins Jahr 2008 zurückversetzte (in den Sommer um genau zu sein). Wenn mich jetzt jemand über die Lieder des Jahres 2018 fragen würde, dann kann ich ehrlich keine Antwort geben, ich würde wieder über das neue Sleep Album zu schwärmen beginnen, aber sonst war's das.

Ich frage mich natürlich, ob mein Desinteresse an aktueller Musik daran liegt, dass ich älter geworden bin. Das ist gut möglich, aber ich glaube, es liegt auch sehr daran, dass sich mein Medienkonsumverhalten sehr geändert hat: wenig Radio, wenig Musikfernsehen, nur mehr stark auf meinen Geschmack zugeschnittenes, hauptsächlich auf Spotify. Ich kaufe auch noch fleißig CDs, aber auch das ist mit steigender Spotify Nutzung zurückgegangen. Eine individualisierte Zuordnung von Musik und Zeit gibt es natürlich auch: Last.fm, ein Dienst, der einmal das werden konnte, was Spotify heute ist, es aber leider nie geschafft hat und so heute hauptsächlich eine personalisierte Statistik der eigenen Hörgewohnheiten ist.

In meiner Rolle als grantiger alter Mann müsste ich mich jetzt natürlich darüber auslassen, dass die heutige Jugend aufgrund der immer stärkeren Individualisierung des Musikkonsums in Zukunft keine geteilten musikalischen Erinnerungen an bestimmte Perioden ihrer Jugend haben wird. Aber ich bin mir sicher, dass sie eigene Wege finden wird und in Zukunft ebenfalls solche Erinnerungen haben wird. MTV, VIVA (und in meinem Fall ganz besonders gotv). Musiksender sprechen generell eine bestimmte Zielgruppe an, nämlich Jugendliche. Das hat für sie lange recht gut funktioniert, nur jetzt stehen sie vor einem Problem, dass vor gar nicht allzu langer Zeit noch unmöglich erschien: die Zielgruppe wendet sich mehr und mehr vom Medium Fernsehen ab (bzw. vom linearen Fernsehen). In der Vergangenheit mussten die Verantwortlichen einfach leichte Anpassungen an der Ausrichtung ihrer Sender machen und alles war gut, aber wenn das Medium Fernsehen immer weniger wichtig für Jugendlichen wird, dann klarerweise auch Musiksender. Wenn man sich MTV und VIVA während der 2000er ansieht, dann stellt sich berechtigterweise die Frage, ob sie sich damals wirklich an ihre Zielgruppe orientierten, oder die Zielgruppe einfach keine andere Wahl hatte, ich glaube jetzt wissen wir, dass es letzteres war. Reality-Shows und die goldene Ära der Klingeltonwerbung (es würde mich wirklich interessieren, was die Teenager von heute von der Klingeltonwerbung von damals halten). Ich glaube, man kann guten Gewissens sagen, dass MTV und VIVA schon damals gestorben sind, VIVA wurde nur halt erst jetzt begraben. Schade ist es besonders für gotv, da gab es nie Werbung für Klingeltöne und den ganzen Tag lang Musik, gab, weil mittlerweile wird bis Mittag Teleshopping gesendet, ein Zeichen, dass der Kampf um das Überleben auch für diesen Sender immer härter wird.

MTV und VIVA prägten mehrere Generationen von Heranwachsenden, verwandelten sich dann vom "Sprachrohr einer Generation" zu einer Plattform auf der Abofallen angeboten werden und drifteten schließlich immer mehr und mehr in die Bedeutungslosigkeit ab. Jamba gibt es übrigens immer noch: http://jamba.de/ Die Firma dahinter heißt vene und bezeichnet sich selbst als

The holistic platform for performance marketing & compliance

Das Überstrapazieren von (leeren) Marketingphrasen war schon immer die Stärke von Jamba. Aber wenn ich jetzt ganz ehrlich bin: durch die rosarote Retro Brille betrachtet hatte sogar die nervige Jamba Werbung ihren eigenen Charme, aber das liegt höchstwahrscheinlich daran, dass ich, wenn ich sie sehe, wieder ganz nostalgisch werde, aber überzeugt euch selbst:

VIVA: Ja ich weiß es war ne geile Zeit, Hey es tut mir Leid - es ist vorbei. Drei Jahrzehnte am Puls der Zeit zu sein und eine Plattform für Jugendliche zu sein ist eine reife Leistung, der gebührend Respekt gezollt gehört. Mögen wir uns daran erinnern als an deinen langsamen Fall und all die Klingeltonwerbung.

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