Lebenslektionen - Der Storch ist da - 2 (Part 29)
Nach dem Balajka ihr Baby bekommen hat, wartet nun meine Familie ungeduldig auf das neue, menschliche Familienmitglied.
Am 2. September habe ich eine weitere Kontrolluntersuchung im Geburtshaus. Meine Hebamme lässt es sich dabei nicht nehmen, Jürg und mich in einem Erste-Hilfe-Gebärkurs zu unterweisen. So rät sie uns auch, nicht mit dem Truck nach Sherbrooke ins Geburtshaus zufahren, sondern unseren Stationwagon zu nehmen, wo man im Notfall eine richtige Liegefläche für eine Geburt zur Verfügung hat. Unser Gelächter ist allerdings gross und wir schaffen es kaum ernsthaft zu bleiben, als Carol, die Hebamme, einen Plastikunterleib und einen Plastiksäugling aus ihrem Schrank holt und Jürg an dem Model üben lässt, wie man das Neugeborene richtig entgegennimmt und was man mit der Nabelschnur anstellen muss. Sie besteht sogar darauf, dass wir eine kleine Klemmzange aus ihren Utensilien mitnehmen, mit der man die Nabelschnur abklemmen kann. Vielleicht nehmen wir als Schweizer diese Dinge etwas zu leicht. Damals noch hatten wir schliesslich nur zehn Minuten bis ins nächste Spital. Jetzt sieht das etwas anders aus. Zehn Kilometer Landstrasse, dann 40 Kilometer Highway und schliesslich noch die Strecke durch die starkbefahrene und von Lichtsignalen wimmelnde Stadt Sherbrooke. Auch für kanadische Verhältnisse noch keine Wahnsinnstour, aber je nach Verkehr müssen wir schon mit 40 - 60 Minuten Fahrzeit rechnen. Zugegebenermassen sieht man hier in den Nachrichten immer wieder mit schöner Regelmässigkeit Bilder von einer "Strassengeburt". In Kanada kommen halt solche Dinge einfach noch häufiger vor.
Am 3. September kommt Arphad, unser treuer Hof- und Haushund, von einem Streifzug am Fluss nach Hause. Mit Schrecken stellen wir dabei fest, dass er einen langen Riss direkt über der Nase hat, so tief, dass man darunter sogar den Knochen weiss glänzen sehen kann. Nichts desto trotz schleppt Arphad eine Bisamratte an, die ihm wohl diese Verletzung mit ihren messerscharfen Krallen zugeführt hat. Arphad ist stolz und wedelt voller Freude, während ihm das Blut über die Nase tropft. Aber da hilft nichts, er muss zum Onkel Doktor und sich ein paar Nähte verpassen lassen. Jürg lässt ihn in den Pick-Up springen, dreht sich nochmals zu mir um und fragt mit seinem typischen Humor: "Willst du nicht auch gleich mitkommen? Dann könnten wir die Naht und die Geburt in einer Fahrt erledigen!" Schliesslich lebt Daniel Lavoie, unser Haustierarzt, in Windsor und von dort aus sind es nur wenige Minuten bis nach Sherbrooke. Jürg liegt gar nicht so falsch mit seinem Vorschlag, das wird uns die kommende Nacht beweisen. Kurz nach 19 Uhr kommt Jürg mit dem noch narkotisierten Arphad zurück. Wir richten ihm im Stall eine Liegefläche ein, damit er sich von den Strapazen erholen kann und wechseln uns gegenseitig bei der Wache ab, bis er wieder vollkommen bei Besinnung ist. Unsere Verwandtschaft verabschiedet sich an diesem Abend frühzeitig. Auch ich bin müde und so geh ich schon um 22 Uhr zu Bett. Ich schlafe tief und gut. Aber um 3 Uhr morgens wecken mich die ersten Wehen. Leise schleiche ich mich ins Wohnzimmer, mache mir eine Tasse Tee und setze mich mit einem Buch in den Schaukelstuhl. Das grosse Warten beginnt. Um 5 Uhr habe ich alle zehn Minuten Wehen und so wird es Zeit, meiner Hebamme Bescheid zu geben und Jürg aus seinen Träumen zu wecken. Carols verschlafene Stimme meldet sich, als ich ihre Telefonnummer eingewählt habe. Schlagartig ist sie wach, als sie meine Stimme hört. "Ich fahre gleich los!" sagt sie. Während Jürg und ich uns anziehen und unsere sieben Sachen zusammenpacken, erscheint meine Mutter auf der Bildfläche. Sie hat einen leichten Schlaf und durch die Geräusche in der Wohnung geweckt, ist sie gleich alarmiert. Sie drückt mir links und rechts einen dicken Kuss auf die Wange und wünscht mir viel Glück. Als wir die Wohnungstüre öffnen, stehen Annelies und Cornelia in ihren Morgenmänteln auf dem Korridor und grinsen uns verschlafen an. Sie wünschen uns ebenfalls alles Gute und wir machen uns auf den Weg. Die erste Komplikation lässt allerdings nicht lange auf sich warten und schon schaffen wir es nicht, das oberste Gebot meiner Hebamme einzuhalten. Wir setzen uns in unseren Stationwagon und Jürg dreht den Zündschlüssel. Nichts. Nochmals ein Versuch. Wieder nichts, der Motor gibt keinen Wank von sich. "Das gibt es doch nicht!" regt sich Jürg auf. "Die Batterie ist leer und das im Sommer, das kann ich jetzt aber wirklich nicht verstehen!" Dass unser Auto öfters mal streikt, ist zwar nichts Neues, aber dies passiert uns doch meistens nur im Winter bei dreissig Grad minus. Es hilft alles nichts. Wir müssen den Wagen wechseln und ich setz mich in den schlecht gefederten und weitaus nicht so kompfortablen Truck, den wir eigentlich nur noch für Transportfahrten und Arbeiten im Wald einsetzen. Die Fahrt gestaltet sich problemlos. Kein Verkehr bremst unser Vorwärtskommen und unser Pick-Up röhrt fröhlich laut vor sich hin. Wäre es möglich, dass der Auspuff ein Problem hat? Wäre nichts Neues, aber wir sind ja schon dankbar, dass der 20-jährige Ford eine so ungewohnt lange Distanz überhaupt noch bewältigt. Allerdings erweisen sich die hiesigen schlechten Strassenbeläge und die altersschwachen Stossdämpfer unserer Schrottlaube nicht als ideal, wenn es um den Transport von Schwangeren geht. Bei fast jeder Unebenheit habe ich eine weitere Wehe und mit jeder Wehe werden die Abstände kürzer und die Schmerzen grösser. Aber wir schaffen es, ohne die Zweckmässigkeit der Klemmzange meiner Hebamme testen zu müssen. Um 6:30 Uhr erreichen wir das Geburtshaus und Carol erwartet uns bereits ungeduldig vor der Eingangstüre. Es ist ruhig im Geburtshaus. Wir sind fast die einzigen. Noch eine andere Frau ist vor wenigen Stunden eingetroffen, ansonsten sind alle Zimmer frei. So wählen wir das braune Zimmer, das in Naturtönen gehalten und mit einem riesig grossen Himmelbett und einer niedlichen Kinderkrippe aus Bastmaterial ausgestattet ist. Während ich mich auf dem Bett zu den Musikklängen von Mike Oldfield entspanne, lässt sich Jürg ein Frühstück servieren. Ab und zu öffnet sich die Türe einen Spalt breit und Carol steckt den Kopf herein, um zu fragen, wie es mir geht und ob ich mich wohlfühle.
Um 8.02 Uhr kommt Shane in der vollkommenen ruhigen und geborgenen Atmosphäre dieses freundlichen Zimmers zur Welt. Keine grellen und nüchternen Lampen wie im Spital, keine weissbekittelten Angestellten, die emsig um einen herumeilen. Niemand, der sich schon nach den ersten Geburtsminuten für das Gewicht und die Länge des Babys interessiert, nicht einmal baden muss Shane! Er hat eine "Fruchtwasser-Dusche" erhalten und erblickt sauber gewaschen das Licht der Welt. Carol muss lachen und meint, dass es wirklich überflüssig sei, ein so properes Kind gleich mit einem Bad zu quälen. Shane kuschelt sich in meine Arme und es vergehen fast zwei Stunden bevor Carol ihn mir das erste Mal abnimmt, um ihn zu wickeln und anzuziehen.
Jürg und ich sind tief beeindruckt von diesem Erlebnis. Eine Hausgeburt hätte sich wohl etwa gleich abgespielt, mit dem Unterschied, dass man ausserhalb einer professionellen Institution ein grösseres gesundheitliches Risiko für die Mutter und das Kind zu tragen hat. Im späten Nachittag wird dann Shane einem gründlichen Gesundheitscheck unterzogen und nachdem alle Befunde unauffällige Resultate ergeben haben, verlassen wir das Geburtshaus, um nach Hause zufahren. Die weiteren Kontrollen sind dennoch strikt. Das System des Geburtshauses ist eine vom Staat ins Leben gerufene Institution. Fehlschläge werden keine toleriert. So besucht mich Carol in der ersten Woche jeden zweiten Tag und kontrolliert meinen und den Gesundheitszustand meines Babys. Es werden die gängigen Blutentnahmen gemacht, Tabellen für Wachstum und Gewicht erstellt und die Hüfte von Shane kontrolliert. Auch später noch muss ich mehrmals für Untersuchungen nach Sherbrooke fahren und zu statistischen Zwecken jede Menge Fragebögen ausfüllen. Ich erhalte eine ganze Liste mit Telefonnummern von Institutionen, die Kurse anbieten und die um das psychische und physische Wohl von Mutter und Kind besorgt sind. Carol ist noch Wochen später jeder Zeit für mich da, daneben gibt es für jeden Bereich der nachgeburtlichen Phase eine Kontaktstelle mit Fachpersonal, das Tag und Nacht erreichbar ist.
Shane ist unser drittes Kind. Probleme stellen sich keine ein und so können wir auf diese grosszügige Dienstleistung getrost verzichten. Trotzdem ist es beruhigend zu wissen, dass man in jedem Fall so gut versorgt wird.
Ende September reisen meine Mutter, Annelies und Cornelia ab. Aber wir bleiben nur wenige Tage alleine. Wir erwarten einen sehr interessanten Besuch...
(To be continued)
(Auszug aus meinem Buch: https://www.amazon.de/Wenn-Pferde-fliegen-Heidi-Grieder/dp/3833006323 )
Liebe @adelheid, ich habe gespannt deinen Bericht gelesen. Wenn du magst, schau mal bei den wöchentlichen Zusammenkünften von @erh.germany vorbei. Du könntest deinen Artikel dort promoten - thematisch passt er nämlich prima dahin! :-)
Danke, werd ich mir grad anschauen!
na sowas, kleine Überraschung war das :) Danke, Claudia
Nix zu danken! :-)