Freundschaft, ein schwer fassbarer Begriff

in #deutsch-short7 years ago (edited)

Freundschaft, dieses kaum zu definierte Wort, wird kaum mehr als Slogan ausgegeben. Freundschaft, dieser alte Gruß der Arbeiter gehört längst zu einer historischen Kategorie wie die Arbeiter selbst. Überdauert hat nur die aus ihnen beziehungsweise durch sie hervorgegangene Organisation der Sozialdemokraten, von ihren Feinden gerne als Beutesozialisten tituliert. Es blieb wie sooft eine inhaltleere Hülle, mit der man nicht mehr anfangen kann und möchte.
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Sie steht heute besonders in Wahlkampfzeiten dennoch störend herumsteht, obwohl sie nicht einmal mehr zu einer historischen Dekoration etwas taugt. Wer möchte schon auf Schritt und Tritt an das Versagen oder an die Auflösung von etwas erinnert werden, was vielen einmal etwas bedeutete und nun nicht mehr ist.
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Freundschaft, dieses vielfach inflationär gebrauchte Wort in unserer atomisierten Gesellschaft scheint paradoxerweise wieder Konjunktur zu haben. Gemeinsam mit der Depressionskurve ist es am Weg in schwindelnde Höhe. Ein fürs Erste erscheinender Widerspruch. Lange vor dem Fratzenbuch gab es Netzfreunde, Geschäftsfreunde, Naturfreunde, Kinderfreunde, Jugendfreunde, Bücherfreunde, Brieffreunde, Zechfreunde und vieles dergleichen mehr.
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In jenen Momenten, wo ich dieser Begriff wieder lese oder höre, denke ich darüber nach, wie Freundschaft jenseits diesen bereits historischen Kontext zu formulieren wäre. Wie Freundschaft heute zu formulieren ist. Wie sie heute für mich zu formulieren wäre. Heute, wo gerne in jedem Satz das Wort Spaß anstatt Freude gepresst wird.

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Heute, wo man Freunde virtuell nebst Büchern und Unterwäsche bestellen kann. Heute, wo ich längst keine Mitmenschen mehr so tituliere. Heute, wo ich mir nicht mehr sicher bin, ob diese von mir getätigte Zuschreibung, dieses Labeling, das ich im Laufe meines Lebens vielfach vornahm, richtig war. Heute, wo ich weiß, es war meist falsch, aber auch weiß, warum ich es tat. Heute, wo ich an diesen trüben Herbsttag beim Fenster hinaussehe und mich an der Quirligkeit der Vögel im Garten erfreue. An diesen Vögeln, die wohl mit mir den Winter hier verbringen werden. Die Zugvögel sind schon längst fort, so wie meine sogenannten Freunde.

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Werter Twinner,
erstmals danke für den Hinwweis. Gerne werde ich darauf zurückkommen.

Ich spreche daher meist von Wegbegleitern. Diese Vokabel beinhaltet, dass sich die Wege irgendwann trennen. Man vermeidet somit große Schmerzen und kann die Erinnerung an die guten gemeinsamen Zeiten in Ehren halten.
Aber ich bin auch schon einige Male damit gescheitert. Meistens dann, wenn mich ein Gutmensch als Schechtmensch identifiziert hat.

Ja, das ist ne gute Formulierung. Ich bevorzuge Bekannte.

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