Landkarte der Komplexität

in #definitionen5 years ago (edited)

Entwirrung der Komplexität


Komplexität und das Verhalten komplexer Systeme können wir nicht wirklich verstehen. Diese Systeme entziehen sich unserer Klugheit auf elegante Weise. Sie lassen sich auch nicht beherrschen; nicht, weil sie stur sind, im Gegenteil, sie strotzen nur so vor Dynamik und Flexibilität. Sie lassen sich nicht beherrschen, weil sie nur lokalen Regeln folgen und ihnen Instruktionen höherer Ebenen unbekannt sind. In der Welt der Komplexität ist Verantwortung lokal angesiedelt. Mit dem 7. Artikel zum Thema "Strategien für hohe Komplexität" möchte ich eine einfache "Landkarte der Komplexität" vorstellen. Vielleicht ist diese auch für Sie hilfreich.

Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen
(Peter Drucker, 1993)

Das Bild ist in zwei Hälften geteilt. Die rechte Bildhälfte zeigt ein Foto einer extrem bunten, verwirrenden Weganzeige. Es steht Toronto, Etiopia, Rio de Janeiro und viele Orte mehr auf bunten Holzschildern geschrieben. Im Hintergrund ist ein strahlend blauer Himmel zu sehen und einige Fächer eine Palme. Die linke Bildhälfte zeigt eine hellorange Fläche mit dem weißem Text: „Landkarte der Komplexität: Entwirrungen und Definitionen!“. Zusätzlich der Name des Autors Dr. Heinz Peter Wallner und der Slogan: Learning to change.
Komplexität entwirren

Definitionsversuche der Komplexität


All das oben Erwähnte wissen wir schon lange. Und immer noch sind wir verwirrt, wenn wir über Komplexität diskutieren und das Verhalten komplexer Systeme in einer Führungsrolle „meistern wollen“. Je nach den Quellen, die wir nutzen, um uns dem Thema zu nähern, finden wir sehr verschiedene Zugänge, Modelle und Überlegungen.

Was viele meinen


Die meisten der AutorInnen stimmen in einigen wenigen Punkten überein, wenn sie beschreiben, was Komplexität denn sei. Meist geht es dann in die Richtung: Das System besteht aus vielen und sehr verschiedenen Elementen, die vernetzt sind und die interagieren. Andere sprechen von einem offenen System, das von Materie, Energie und Informationen durchflossen wird. Dann gibt es die Modellierer, die komplexe Systeme programmieren. Sie meinen, dass Diversität, Aggregation, Non-Linearity, Buidling Blocks, Internal Models und Tagging die Eigenschaften und Mechanismen komplexer, adaptiver Systeme sind.

Die VUCA Welt


Eine ganz andere Spezies kommt mit dem VUCA Akronym auf uns zu und will damit die Herausforderungen, die komplexe Systeme mit sich bringen, qualifizieren. Einige ExpertInnen meinen überhaupt, wir sollten jeden Definitionsversuch bleiben lassen, weil sich Komplexität eben nicht erfassen lässt.

Versuch einer Landkarte


Wie sollen Führungskräftetrainer das Thema Komplexität mit den Führungskräften bearbeiten, wenn wir es angeblich gar nicht fassen können? Es ist nicht sehr befriedigend, wenn jeder je nach Laune gerade einmal eines der vielen Enden der Erzählung aufgreift und ein Detail vertieft. Die Führungskräfte werden zu oft nur mit der VUCA Welt und den VUCA Strategien konfrontiert. Mir hat das nach einigen Versuchen nicht mehr gereicht. Daher habe ich begonnen, eine Landkarte zu skizzieren, die etwas mehr Klarheit in die wirre Welt der Komplexität bringen kann. Sie ist nur ein Anfang und weder vollständig noch „richtig“; sie ist mir in meiner Arbeit hilfreich. Jede Anmerkung wird zur Weiterentwicklung beitragen!

Die Landkarte der Komplexität - Skizze


Die Landkarte der Komplexität ist eine Abbildung mit Bild und Text. Zentral findet sich eine einfache Darstellung eines komplexen Systems. Kleine Kreise symbolisieren die Elemente, die durch Striche – die Vernetzung – verbunden sind. In Textblöcken finden sich: die Eigenschaften, die Mechanismen, die Auswirkungen und die Bewältigungsstrategien, die in diesem Artikel beschrieben sind.
Landkarte der Komplexität - Skizze

Mögliche Herangehensweisen


Ich möchte komplexe Systeme aus mehreren Perspektiven beschreiben. Wir sind uns einig, dass sie aus mehreren Elementen bestehen. Und zunächst lassen sich Eigenschaften oder Qualifikationen festmachen, die alle Elemente komplexer Systeme mitbringen und die sie auszeichnen. Diese vier Qualifikationen lauten (nach Scott Page): Wir beschreiben ein System als komplex, wenn es aus Einheiten (Agenten) besteht, die unterschiedlich, die voneinander abhängig, die miteinander vernetzt und die in der Lage sind, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. In kurzen Worten lauten diese vier Qualifikationen:

  • Diversity
  • Connectedness
  • Interdependency
  • Adaptivness

Mechanismen in komplexen Systemen

John Holland beschreibt neben den Eigenschaften noch Mechanismen, die in komplexen Systemen ablaufen. Er führt an:
  • Tagging – es kommt zum Symmetriebruch durch Markierungen
  • Aggregation – die Elemente bilden Cluster (nach John Holland ist das eine Eigenschaft)
  • Building Blocks – komplexe Systeme schaffen sich Bausteine, die sie immer wieder einsetzen
  • Internal Models – es bilden sich erfolgreiche Handlungsmuster aus

Die Eigenschaften komplexer Systeme

Neben den vier Qualifikationen der individuellen Elemente, können wir noch eine ganze Reihe von Eigenschaften erkennen, die komplexe Systeme aufweisen und die sie auszeichnen. Es sind eigentlich diese Eigenschaften, die solche Systeme so extrem interessant und spannend machen. Die wichtigen Eigenschaften komplexer Systeme lauten:
  • Das System muss ein offenes System (Flüsse über Grenzen) sein (das ist eine Bedingung)
  • Komplexität ist ein quasi-steady-state („Fließgleichgewicht“) – das System ist weder im Gleichgewicht, noch ist es chaotisch. Es ist der interessante Zustand dazwischen, so eine Art hoch dynamisches „Fließgleichgewicht“, das sich verändern und verschieben kann.
  • Nicht-lineares Verhalten – unsere logische Kette von Ursache und Wirkung finden wir nicht vor. Das System verhält sich nicht linear, die Events folgen keiner „Gaußschen Verteilung“.
  • Hohe innere Dynamik – das System zeigt eine hohe innere Aktivität. Wir können sehen, dass sich die Bedingungen immer wieder verändern.
  • Große Robustheit und Lernfähigkeit als System – komplexe Systeme sind adaptiv. Sie können sehr gut mit Störungen umgehen und auch dramatische Situationen meistern. Sie lernen ständig weiter und passen sich an neue Umweltbedingungen an.
  • Emergenzen durch Selbstorganisation – Selbstorganisation bildet „bottom-up“ Strukturen, ganz ohne Planung aus. Es entstehen im System Strukturen oder Eigenschaften, die zuvor nicht vorhanden waren und die nicht in den Elementen zu finden sind. Makro und Mikro unterscheiden sich in ihrer Art.
  • Large Events, Tipping Points – nur komplexe Systeme können große Ereignisse hervorbringen. Es kann plötzlich eine Transformation stattfinden, die sich nicht angekündigt hat. Das Zusammenspiel der Elemente kann sich positiv rückkoppeln und riesige „Wellen“ schlagen. Negativ, wenn sich ein Tsunami bildet, positiv, wenn ein Video auf YouTube viral geht.
  • Neuerungen und Innovationen – nur komplexe System bringen ständig Neues hervor, was sich natürlich auch in Innovationen manifestieren kann.

Die VUCA Wirkungen der Komplexität

Wenn wir Menschen ein komplexes System beobachten, dann zeigt es sich von seiner „VUCA-Seite“. Es birgt zumindest diese vier Herausforderungen für jeden Menschen:
  • V: VOLATILITÄT: Volatility meint Flüchtigkeit, viele Veränderungen und daher ein ständiger Wechsel von stabilen und instabile Situationen. Instabile Zeiten treten häufiger auf und dauern länger. Es gibt immer wieder Transformationen – fortschreitende, tiefgehende Entwicklungen - und Disruptionen – ganz neue Geschäftsmodelle entstehen. Heute sprechen wir von einer Transformation, in der sich verändert, warum wir etwas tun, was wir tun, wie wir es tun und letztlich wer wird sind.
  • U: UNCERTAINTY: Uncertainty meint Unsicherheit, Ungewissheit. Ein großes Maß an Ungewissheit („unknown unkowns“) – wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Immer wieder treten Ereignisse auf, die niemand vorhersehen konnte (Überraschungen – oder „black swans“). Stabil geglaubte Systeme können instabil werden und diese Ungewissheit führt zu Unsicherheiten. Wir können wenig als gesichert annehmen und in die Zukunft mitnehmen.
  • C: COMPLEXITY: Complexity verdeutlicht eine rational nicht mehr durchdringbare, hoch komplexe Welt, die extrem dicht und belastend wirkt. Es gibt immer mehr Nichtwissen und Intransparenz, durch die hohe Vernetzungsdichte – die Systeme sind zu stark vernetzt, um sie rational verstehen zu können. Interventionen können kaum mehr geplant werden; wir sind zum Experimentieren aufgerufen. Viele Entscheidungen müssen unter „Nichtwissen“ getroffen werden.
  • A: AMBIGUITY: Ambiguity meint eine logisch verkehrte Welt. Widersprüche, Unschärfen, fehlende Unterscheidbarkeit bestimmen unseren Alltag. Alles fließt und staut zugleich, wir sind im „Delta“ angekommen. Es gibt in der komplexen Welt kein „best practice“ oder „good practice“ mehr. Es gibt viele Lösungsansätze, die sich auch widersprechen können. Wertewidersprüche, strategische Widersprüche wollen im Dialog verhandelt werden.
Die Abbildung zeigt die vier Herausforderungen der sogenannten VUCA Welt. Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Die vier Begriffe werden in wenigen Zeilen beschrieben. Rechts davon finden sich kleine Illustrationen, um die vier Begriffe besser zu verstehen.

Diese Herausforderungen oder Wirkungen von Komplexität auf uns Menschen sind die Folge der Eigenschaften komplexer Systeme. Nicht-Linearität und hohe Dynamik, die Emergenzen und die Tipping Points sorgen für Volatilität, Ungewissheit, Intransparenz und Widersprüchlichkeiten, weil wir das System logisch nicht durchdringen können, es sich sehr dynamisch verändert und Überraschungen bereithält.

Unsere Bewältigungsstrategien


Es gibt eine Vielzahl an vorgeschlagenen Bewältigungsstrategien für Führungskräfte, um komplexe Herausforderungen zu meistern. Um eine Entscheidung treffen zu können, ob die Probleme wirklich „komplexer Natur sind“ empfehle ich das „Cynefin Framework“ von Dave Snowden (cognitive edge), über das ich noch eigene Artikel verfassen werde. Wenn ein Leader mit „Komplexität“ konfrontiert ist, dann sind folgende Strategien sinnvoll. Zu jeder Strategie finden Sie einen Link zu einem Artikel, der das Thema etwas tiefer betrachtet. Viele dieser Strategien werden heute in Unternehmen meist unter dem Titel „agile“ diskutiert und umgesetzt:

  • Mustererkennung (Neigungen) und emotional-intuitives Wahrnehmen (1)
  • Heuristiken (2)
  • Handlungsvarietät (3)
  • Feedback und Iteration (4)
  • Vernetzung und Co-Kreativität (5)
  • Widersprüche im Dialog (6)
  • Neugier und agiles Lernen (7)
  • Hypothesen und Experimentieren (save-to-fail) (8)
  • Self-Leadership („Veränderungsaffinität“) (9)
  • Flexibilität und persönliche Resilienz (10)

Mein Tipp für Führungskräfte

Freunden Sie sich mit der Grundhaltung an, dass Sie Komplexität nicht ganz verstehen können. Unterlassen Sie es, Komplexität beherrschen oder steuern zu wollen. Vielmehr rate ich zu einer Portion Bescheidenheit. Es reicht vollkommen aus, sich mit der Komplexität anzufreunden und neben den ihr innewohnenden Bedrohungen, auch die vielen Chancen zu sehen. Die Landkarte der Komplexität kann dabei helfen, sich mit dem Thema vertraut zu machen.

Nur unter komplexen Bedingungen ist Kreativität erlebbar und nur aus ihr werden wir die Lösungen generieren, die unsere Zukunft als Menschheit sichern können. Also, wenn Sie die Möglichkeit haben, dann schaffen Sie „komplexe Bedingungen“, in denen Menschen in „voller Komplexität“ arbeiten und kreieren können! Fangen Sie bei Ihrem Team an!

Herzlich,

Heinz Peter Wallner

 

Seminare zum Thema Komplexität biete ich „Inhouse“ an.

Öffentlich für das Hernstein Institut

Mehr über mein Führungskräftetraining finden Sie HIER.

Weitere Artikel zum Thema Komplexität und Komplexitätstraining:


Warum sich ein Flirt mit der Komplexität lohnt

Teams als komplexe, adaptive Systeme

Komplexitätstraining und intuitive Entscheidungen

Freischwebende Aufmerksamkeit im Komplexitätstraining

Über die Unfähigkeit, mit hoher Komplexität umzugehen (1/5)

 

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