Wie schnell nehmen Sie eine Veränderung wahr?

in #de-stem6 years ago

Als nächstes wollen wir die Wahrnehmungsverzögerung studieren. In seinem Buch "Business Dynamik - Systems Thinking and Modelling for a Complex World", das zu einem Standardwerk der System Dynamics geworden ist, nennt John D. Sterman die beiden Verzögerungsarten "Material-" und "Informationsverzögerung". Diese Bezeichnungen sind meines Erachtens aber verwirrend, weil z.B. e-Mails, die Informationen transportieren, durch mehrere Store and Forward Bestände laufen und somit, in der stermannschen Terminologie, Materialverzögerungen erfahren. Daher bezeichne ich die beiden Verzögerungen besser "Fluss-" und "Wahrnehmungsverzögerung".

Von der Wahrnehmung zur Kenntnis


Die Wahrnehmungsverzögerung hat folgenden Hintergrund: es wird Ihnen in regelmässigen Abständen die Entwickung einer Situation raportiert. Wie hinkt Ihre Wahrnehmung der tatsächlichen Entwicklung der Situation hinten nach? Eine Standardgeschichte ist der CEO, dem in regelmässigen Abständen die Entwicklung des Geschäfts raportiert wird. Wie schnell würde der CEO einen Rückgang der Geschäfte wahrnehmen? Sie können jetzt sagen, der soll sich gefälligst selbst darum kümmen, anstatt es sich raportieren zu lassen. Auch wenn er selbst in die Bücher schaut, macht er das von Zeit zu Zeit. Er kann ja nicht alle 5 Minuten die Rechnungen checken, ganz abgesehen davon, dass die Buchhaltung im besten Fall tagaktuell sein kann. Selbst wenn es dereinst eine Realtime-Anzeige für ausstehende und eingegangene Zahlungen gäbe, die im Büro des CEO hängt, wird er nicht ständig draufstarren können. Die Information über "die Welt da draussen" gelangt in jedem Fall bloss in diskreten Zeitabständen in Ihr Inneres. Dann muss es noch verarbeitet und bewusst wahrgenommen werden, was ebenfalls Zeit benötigt.

In der System Dynamics Literatur wird dieser Sachverhalt gemeinhin wie folgt modelliert:

wahrnehmunhsverzoegerung_modell.JPG

Wie immer können Sie das Modell im Insightmaker direkt öffnen, wenn Sie diesem Link folgen. Nachdem Sie sich einen Clone des Modells angefertigt haben, können Sie selber damit experimentieren.

Beachten Sie, dass der wahrgenommene Wert der Situation hier einen Bestand bildet. Bestände müssen nicht immer stofflich sein! Der Bestand enthält unsere bewusste Wahrnehmung - sprich: Kenntnis - der Situation, die sich irgendwo "da draussen" befindet. Ihr Zustand kommt über die Variable "Input: raportierter Wert" in unsere zunächst unbewusste Wahrnehmung. Ich habe diese Variable deshalb weit links positioniert, um zu zeigen, dass sie ausserhalb unseres Wahrnehmungssystems liegt. Ihr Wert und unsere Kenntnis sind grundsätzlich verschieden, da wir ja davon ausgehen, dass unsere bewusste Wahrnehmung der tatsächlichen Situation hinterher hinkt. Unsere Kenntnis der Situation müssen wir also durch diese Differenz auffrischen. Das benötigt aber etwas Zeit, die sogenannte Anpassungszeit: darin eingeschlossen sind das Sammeln der Informationen und ihre Aufbereitung sowie das Verstehen und Verinnerlichen der neuen Situation. Ein Fluss kann nie unendlich schnell fliessen, auch ein Fluss immaterieller Güter nicht.

Noch ein technischer Hinweis: Wenn Sie mit dem Modell arbeiten, dann sollten Sie beachten, dass der Fluss nicht nur positive Werte haben kann. Es könnte ja sein, dass Ihre Wahrnehmung oberhalb der raportierten Grösse liegt. Dann wird die Lücke negativ, was sich auf den Fluss ausübt. Standardmässig geht Insightmaker davon aus, dass ein Fluss stets positiv ist, d.h. in der Richtung fliesst, in welcher der Pfeil zeigt. Hier kann es aber auch mal sein, dass wieder etwas zum Bestand hinausfliesst. Daher sollten Sie in der Konfiguration des Flusses den Parameter "Only positive Rates" auf "No" setzen.

Die Kenntnis einer Situation passt sich langsam der Tatsache an


Wir wollen einmal annehmen, dass die Situation zunächst ein gewisses Level hat - hier den Wert 10 - und dann plötzlich den Wert ändert, z.B. auf 20 hochgeht und dass wir Kenntnis vom Anfangswert haben, dann ergibt die Simulation folgendes Resultat:

wahrnehmunhsverzoegerung_simulation.JPG

Das bedeutet also, dass eine sprunghafte Veränderung einer Situation nur allmählich zur Kenntnis genommen wird. Hier findet der Sprung am Tag 5 statt, aber erst nach gut 12 Tagen hat man wirklich realisiert, was eigentlich passiert ist. Das hängt natürlich von der Anpassungszeit ab, die hier auf 2 Tage eingestellt ist. Wenn Sie an eine spezifische Situation denken, in welcher Ihre Wahrnehmung schneller reagierte, war in dieser Situation die Anpassungszeit auch viel kürzer.

Was passiert, wenn ein singuläres Ereignis eintritt, z.B. ein lauter Knall. Dann besteht der Input aus einem Puls, während die Kenntnis bei 0 startet. Wie reagiert der Output auf einen derartigen Puls-Input? Ein Puls-Input entspricht z.B. dem plötzlichen Einwerfen einer Menge von Körnern in eine Hühnerschar.

wahrnehmunhsverzoegerung_puls.JPG

Das Modell sagt, dass wir den Knall auch sofort wahrnehmen, dann aber einige Zeit brauchen, um uns wieder zu beruhigen. Das entspricht durchaus unserer Beobachtung. Dieser Verlauf gleicht demjenigen einer Flussverzögerung erster Ordnung.

Natürlich gibt es auch Wahrnehmungsverzögerungen höherer Ordnung, die wie folgt modelliert werden:

wahrnehmunhsverzoegerung_hoeh_ord_modell.JPG

Das ist nicht so kompliziert, wie es aussieht: Jede Stufe wiederholt ein Wahrnehmungsverzögerungsmodell, aber von aussen wird nur der ersten Stufe raportiert. Die höheren Verzögerungsstufen nehmen dann die vorangehenden als Report. Eine Simulation führt zu einem ähnlichen Bild, wie wir es von den Flussverzögerungen kennen:

wahrnehmunhsverzoegerung_hoeh_ord_simulation.JPG

Unterschied zwischen Fluss- und Wahrnehmungsverzögerungen


Sie fragen sich vielleicht, was denn der Unterschied zwischen Fluss- und Wahrnehmungsverzögerungen ist, wenn ja doch alles gleich bleibt. Um das herauszufinden, habe ich einmal beide Verzögerungsarten im gleichen Insight modelliert:

wahrnehmunhsverzoegerung_vergl_modell.JPG

Links die Wahrnehmungsverzögerung, wie gehabt, rechts die Flussverzögerung, wie wir sie kennen. Die Anpassungszeit ist für beide Verzögerungsarten dieselbe. Auch der Input soll in beiden Fällen gleich sein, nämlich ein Step von 0 auf 20. Im Resultat der Simulation lasse ich mir nebst dem Input und der Anpassungszeit auch die beiden Outputs anzeigen:

wahrnehmunhsverzoegerung_vergl_gleich_simulation.JPG

Sie sind exakt gleich, so dass Sie im Diagramm den Outflow der Flussverzögerung nicht erkennen können. Nun nehmen wir an, die Anpassungsszeit schnelle bei t=8 von 4 auf 7 hoch. Wie werden die die Outputs darauf reagieren?

Das kennen wir aus der Übung zur Pipelineverzögerung. Sie erinnern sich an die Geschichte mit dem Brennofen? Dort wurde die Aufenthaltszeit des Brennguts im Brennofen um die Hälfte reduziert. Was geschah? Der Output nahm vorübergehend zu. Wenn wir jetzt die Verzögerungszeit erhöhen, dann erwarten wir eine Reduzierung der Outputs. Schauen wir einmal und lassen die Modelle laufen. Das sieht dann so aus:

wahrnehmunhsverzoegerung_vergl_simulation.JPG

We hätte das gedacht? Die Wahrnehmung kümmert sich kaum um eine Veränderung der Anpassungszeit, d.h. Sie brauchen sich gar keine Mühe zu geben, Ihren CEO noch häufiger zu informieren. Hingegen reagiert der Outflow der Flussverzögerung empfindlich, wie wir das bereits beim Brennofen gesehen haben.

Wahrnehmungsverzögerungen sind also gegenüber Veränderung der Anpassungszeit einigermassen unempfindlich.

Und hier noch die Hausaufgabe: Weisen Sie nach, dass auch die höheren Ordnungen einer Wahrnehmungsverzögerung gegenüber Anpassungszeitveränderungen bedeutend weniger empfindlich sind, als die entsprechenden Flussverzögerungen.

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Andere Beispiele: Reaktionen auf kurzfristige extreme Kursschwankungen bei Kryptos, oder die Kuration für de-stem. Bei zweiterem hätten wir dann wohl eine Wahrnehmungsverzögerung, bis ich den Artikel sehe, und dann noch Flußverzögerungen, bis ich einen PC für die de-stem vote habe und eine weitere für die steemstem vote?

Ja, richtig! Nicht nur bei Cryptos, sondern ganz allgemein Wertschwankungen, sei's bei Aktien, Liegenschaften oder Devisen. Man nennt Wahrnehmungsverzögerungen auch exponentielles Glätten. Eigentlich wollte ich nicht näher darauf eingehen, aber wenn wir's hier schon erwähnen, schreibe ich vielleicht doch einen Artikel darüber. Vielen Dank für den Impuls!

Die Wahrnehmung von Beiträgen auf den SoMe ist in der Tat ein schönes Beispiel für eine Wahrnehmungsverzögerung höherer Ordnung: Sofort nach Veröffentlichung kommen die Likes zögerlich, das Maximum der Likes ist dann vielleicht ein paar Tage später und manchmal liken Leute noch einen Beitrag, der bereits Jahre alt ist.

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