Serien, Figuren und ich

in Deutsch Unpluggedlast year (edited)

Serien, Figuren und ich

Beim längeren Anschauen von Serien verliere ich „irgendwann“ den parasozialpsychologischen Bezug zu den Hauptfiguren. Das brachte mich ins Nachdenken. (Vielleicht war ich auch schon vorher drin im Nachdenken, da bin ich mir jetzt nicht mehr ganz sicher. Immer wieder stolpere ich da hinein.) Dieses ergab, dass die Figuren für meine Begriffe, für mein Gefühl, für meine Erwartungen nicht konsistent sind in ihrem Verhalten, sich nicht folgerichtig entwickeln in ihren Charaktéren. (Ich tippe das mal so wegen der Aussprache.)

Wie kommt das? War die erste Frage. Liegt es bloß an mir, werde ich gelangweilt, verliere ich den sozial-artigen Bezug mangels Interaktion? Genaueres Beobachten deutete aber auf etwas anderes, nämlich auf die augenscheinlichen „Gesetze der Serienschreibe“: Das Unerwartete erzeugt bei den impliziten BetrachterInnen Spannung oder zumindest Neugier.

Die impliziten BetrachterInnen sind die von den Serienschreibern unterstellten, durch Zielgruppenforschung auch einigermaßen empirisch untermauerten, aber dennoch imaginierten oder eben implizierten Zuschauer. Serien sind für diese ein Spiel, und wer die Figuren charakterlich ernst zu nehmen versucht, hat das Spiel noch nicht verstanden. Das Spiel dient der Simulation und der Unterhaltung, nicht der Dokumentation oder Bildung.

Die Serienschreiberinnen genügen diesem Spiel, indem sie begonnene Entwicklungen abbrechen oder umbiegen. Die Figur ist ein hohles Gefäß, in welches etwas anderes eingefüllt wird, um den Serienkonsumenten Überraschungen zu bieten, Unvorhersehbarkeiten, Kontingenz. Kein Chaos, aber auch nicht zu viel Struktur. Dabei sind die Serienschreiberinnen sehr mächtig, denn was immer sie ihren Figuren zu tun oder zu sagen aufgeben, müssen diese auch tun oder sagen. Vielleicht entsteht beim Dreh gegenüber dem Skript nochmal der eine oder andere spontane Schlenker, aber im Prinzip sind die Figuren prädeterminiert, und zwar nicht durch ihre eigene innere Logik, sondern durch die Dramaturgie des Spiels.

Wie ist das bei mir? War die zweite Frage. Wer schreibt mein Drehbuch? Wer legt mich fest? Die Evolution qua Gen-Interaktion? Die Sozialisation infolge Albarich und Überich, die beiden Haupt-Schattenden? Wer legt mir Worte in den Mund und Taten in die Hand, skriptet dabei aber auch meine Denke mit, so dass ich das subjektive Gefühl der Spontaneität nicht verliere, sondern mich sogar für all den Schwachsinn verantwortlich fühle?

Wo ist der Akteur, wo sind die Schauspielerinnen, die meine Rollen wahrnehmen und meiner Figur „Leben verleihen“? Als ob Leben verleihbar wäre… Bin ich eine/r von ihnen? Bin ich alle – und wenn ja: wie viele?

Was ist die dritte Frage? Das sollte jetzt niemand überraschen. Sie lautet: und du so? Was bist du? Eine Figur, eine Rolle, ein geliehenes Leben, ein wacher Geist, eine auf Transzendenz bezogene Existenz? Wie könntest du mich überzeugen, nicht geskriptet zu sein? Nicht scheinbar erratisch heute dies, morgen das zu bevorzugen an Werten, nach denen du handelst? Denn nur wenn du mich überzeugen kannst, dass du frei zu denken imstande bist (es muss ja nicht jeden einzelnen Buchstaben betreffen, sofern du buchstäblich denken solltest), nur dann könnte ich daraus lernen, wie ich mich von mir selbst zu überzeugen hätte, wie ich den Weg finde vom Wiedumm zum Individuum.

Bleibt die letzte Frage: Könnte eine Scriptrix oder ein Scriptor, ein Creator oder eine Creatrix meinen Teil des Drehbuchs nicht so gestalten, dass ich laut Absatz drei, Zeile fünf überzeugt von deinen Argumenten bin, ohne dass irgendeine Argumentation statt gefunden hat? Ich habe viele Geschichten gelesen, die auf diese Weise gestrickt sind. Wo also die auktoriale Macht ÜBER eine Figur schreibt, nicht VON ihr. Wo ich als Leser einfach annehmen soll, das und das sei der Fall mit dieser Figur, ohne dass ich etwas Überzeugendes geboten bekam.

Falls die auktoriale Macht selber einem Skript folgen muss und sich nur innerhalb dessen einbildet, frei zu sein, weil es ihr eingraviert, eingeschrieben, inskribiert worden ist – immerhin sprechen manche Hirnforscher von „Engrammen“, wo es um Gedächtnisinhalte geht – wenn das der Fall wäre, dann müsste es ja aber doch irgendwo weiter oben ein Ende dieser Spirale geben, ein Seiendes, für das kein Skript gilt. (Abstrakt geometrisch könnte die Spirale in sich selbst zurück gebogen sein wie ein Möbiusband, aber das ist jetzt wirklich ein rein spekulativer, also als geskriptet erkennbarer Gedanke – wie fast jede Verschwörungstheorie oder Theorie von Allem.)

Im übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago geskriptet werden muss und dass meine Träume frei sind. Diese allerdings berichte ich hier nicht, sie sind größtenteils mit einem so genannten Wachbewusstsein nicht greifbar. Sehr im Unterschied zu den Träumen von Serienfiguren, welche vermutlich nur für solche Serienfiguren verstörend oder erhellend wirken, die von Serienfiguren geschrieben wurden.

Wir (pluralis concordiae) halten hier mal fest: das Orakel von Delphi war und ist eine Drehbuch-Werkstatt, es schreiben die Drei Nornen, das Buch aller Drehbücher heißt Akasha-Chronik, und alles, was „wir“ für Fiktion halten, passiert – nur halt woanders und wann anders. Platons Reich der „Ideen“ gehört zum Spiel der Serie namens Menschheit null Punkt neun, und als Kant in seinen Kritiken den Weg zur Version eins Punkt null öffnen wollte, wurde er Serien-logisch (!) von Fichte und Hegel durch den Wolf gedreht und wie ein aufgeblasener OP-Handschuh der nachmaligen Löcherigkeit preisgegeben. Der Chirurg als Demiurg, der Flickschuster als Inschenör.

Und jetzt, wo ich alles hierhin getippt habe, sieht es aus wie ein Skript. So kann ich mich täuschen!

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Foto: ty-ty (laut meiner Engramme)

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 last year 

Du klingst überzeugt, daß sich im Gegensatz zu den willkürlich dramaturgisch verpeilten Serienfiguren die Menschen im richtigen Leben immer stringent, folgerichtig und vorhersehbar verhalten...?

 last year 

Ach!
Und wie klinge ich hier?

...und du so? Was bist du? Eine Figur, eine Rolle, ein geliehenes Leben, ein wacher Geist, eine auf Transzendenz bezogene Existenz? Wie könntest du mich überzeugen, nicht geskriptet zu sein? Nicht scheinbar erratisch heute dies, morgen das zu bevorzugen an Werten, nach denen du handelst? Denn nur wenn du mich überzeugen kannst, dass du frei zu denken imstande bist (es muss ja nicht jeden einzelnen Buchstaben betreffen, sofern du buchstäblich denken solltest), nur dann könnte ich daraus lernen, wie ich mich von mir selbst zu überzeugen hätte, wie ich den Weg finde vom Wiedumm zum Individuum.

 last year (edited)

Aber, aber... Dann wirfst Du den "flachen" Filmfiguren vor, sie wären wie echte flache Menschen. Also nicht ihre Unechtigkeit, sondern eher das ernüchternde Gegenteil ;-))

 last year 

?

 last year (edited)

Ich meine, dann ist es weniger der Vorwurf an Serienproduzenten daß ihre Figuren sich willkürlich und nicht nachvollziehbar entwickeln. Sondern eher der an die echten Menschen, die sich so benehmen und entwickeln wie Serienfiguren. Eben flach und inkohärent.

 last year 

Serien sind ein Spiel. Aber während ich meinem Fußball-Idol nur auf dem Bolzplatz nacheifern kann, verleitet das Serien-Idol möglicherweise nicht nur zum Imitieren der Kleidung...

Bedient der Serienschreiber als das Bedürfnis nach sozialen Vorbildern, sei es mit oder ohne es zu wollen?

Dann wäre mein Ausdruck "parasozialpsychologisch" ja gar nicht so verkehrt gewesen.

 last year 

Ja sogar #BIGBANGTHEORIE wurde schnell langweilig , oder #MANLYMAN ebenso , und warum ?
Weil in Serien nur ziemlich verengte Denk- und Handlungskorridore angeboten werden, die nach zu ahmen eine gewisse Anerkennung hervorrufen könnte , odersoähnlich .

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 last year 

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