Fließendes Geld, Freiwirtschaft? Die Alchemisten laufen wieder umher! Alte Kleider werden durch kleine Veränderungen als neue Ideen verkauft, ja regelrecht verkauft in einer Empörungsindustrie und Industrie der Apokalypse.

in #deutsch6 years ago (edited)

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Fließendes Geld, Freiwirtschaft, was hat es mit den Lehren, frei nach "Silvio Gesell" so wird behauptet, auf sich? Ist solch ein Geldsystem und solch eine Freiwirtschaft erstrebenswert, oder könnte es sich auch um ein Kuckucksei handeln?
Im Trend der sich immer weiter ausdehnenden Krisen, dem Verfall des Geldsystems, dem Zweifel und den Folgen des monetären Denkens, den weltweiten Machtspielen, der immer größer werdenden Folgen der Umweltverschmutzungen, der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich, sind viele Menschen auf der Suche nach Lösungen. Doch wirklich denkbare und funktionale Lösungen sind rar gesät. Neue Denkansätze sind noch zu wenig verbreitet und in den Denkmustern, ohne entsprechende Lehren, nicht denkbar und werden, ohne das Wissen darum, verworfen. In solchen Situationen, werden gerne alte Lehrmeister angerufen und alte Lehren aus der Mottenkiste ausgegraben. Ein bisschen aufpoliert und mit neuen Worten gekleidet. Ètwas positive Aspekte, auch wenn es sich bei genauer Betrachtung nicht ganz so positiv herausstellt, beigemischt, ein paar reale Verwerfungen des hier und jetzt vorgeschaltet und eine scheinbar neue Lösung ist geboren, wie z.B. hier

und viele mehr im Karussell der Empörungsindustrie und der Weltuntergangsindustrie. Doch was steckt in diesen "Lösungen" so alles drin? Wir sind, im Scholarium, diesen Lehren nachgegangen und haben diese einmal kritisch betrachtet. Der Verfasser von Zeitgedanken will auch für den Kreis auf Steemit die Gedanken zu Fließendem Geld und der scheinbaren dahinterstehenden Freiwirtschaft zur Diskussion stellen.

Im Zuge des neuzeitlichen Rationalismus und endgültig nach dem Kalten Krieg, hatte sich der Eindruck verfestigt, wir lebten in „Systemen“, deren Struktur aus wenigen Prämissen folgte. Dieses Systemdenken entlud sich in der Polarisierung zwischen nur noch zwei Systementwürfen, und als der eine scheinbar unterging, ging nicht nur ein notwendiger Feind verloren. „Geh doch rüber“ als schnöde Replik auf jede Status-quo-Kritik hatte ausgespielt und eine gewisse ernüchterte Alternativenlosigkeit sollte sich breitmachen. Am Ende der Geschichte war das hüben wie drüben versprochene Paradies längst nicht erreicht und nicht alle wollen sich mit den„herrschenden“Zuständen zufrieden geben. Nachdem die Kirche der marxistischen Religion zur Ruine zerfallen war, bloß noch Nostalgikern und Historikern von Interesse, ist jedoch kein Anwärter auf eine Nachfolge in Sicht. Die Kritik am Status-quo ist zwar noch laut, scheint immer lauter gar, doch tatsächliche Gegenentwürfe, die die rationalistische Sehnsucht nach plausibel konstruierten Systemen befriedigen würden, sind Mangelware.
Eine der seltenen Ausnahmen sind die Ideen Silvio Gesells, eines 1862 geborenen Kaufmanns. Dessen Lehre von der „Freiwirtschaft“ scheint wieder an Popularität zu gewinnen – tritt sie doch mit dem großen Versprechen an, einen konsistenten Gegenentwurf zu Kapitalismus und Sozialismus zu bieten, sogar die„Vorteile“ beider „Systeme“ zu vereinen. Marktwirtschaft ja, aber „natürlich“, ist die Devise der Freiwirte. Gesell konstruiert eloquent und gewitzt eine Natürliche Wirtschaftsordnung, die fast alle Übel der Gegenwart zu überwinden scheint.

Das Scholarium möchte die hier vorliegende Freiwirtschaftslehre, deren Zinskritik und das vorgeschlagene Schwundgeld kritisch überprüfen.

DIE IDEOLOGIE VON SILVIO GESELL

Gesell versucht zwar eine Ökonomie nachdem Hausverstand zu entwickeln, doch weist er natürlich eine deutliche ideologische Stoßrichtung auf. Ideengeschichtlich betrachtet ist Gesells Zugang hochinteressant.
Zunächst erscheint er primär als Liberaler. Er weist großen Fortschrittsglauben auf und führt stets die Freiheit im Munde. Sein Systementwurf kreist dreifach um die Freiheit, sieht er doch „Freiwirtschaft durch Freigeld und Freiland“ vor. Er geht sogar soweit, sich in die Tradition des Manchesterliberalismus einzureihen, sofern sich dieser von wenigen Grundfehlern lösen würde:
Diese natürliche Wirtschaftsordnung könnte man auch als „Manchestertum“ bezeichnen, jene Ordnung, die den wahrhaft freien Geistern immer als Ziel vorgeschwebt hat - eine Ordnung, die von selber, ohne fremdes Zutun steht und nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen zu werden braucht, um alles das, was durch amtliche Eingriffe, durch Staatssozialismus und behördliche Kurzsichtigkeit verdorben wurde, wieder ins richtige Lot zu bringen.
Bei all der edlen Freiheitsgesinnung hatten die Manchesterliberalen jedoch übersehen, daß für den freien Wettbewerb zunächst eine freie„Kampfbahn“ geschaffen werden müsse. Dies möchte die Freiwirtschaftslehre besorgen und erscheint damit als Vorläufer des Neoliberalismus – die wenigen authentischen Neoliberalen waren einst mit exakt derselben Kritik am Altliberalismus angetreten und ähnlichen Schlussfolgerungen.

Ein besonders leidenschaftliches Bekenntnis legt Gesell zum Freihandel ab: Lassen wir den vollen Freihandel nur einige Jahrzehnte sich frei entwickeln und entfalten, und wir werden bald sehen, wie innig das Wohl der Völker mit der Förderung und Aufrechterhaltung dieses Handels verknüpft ist, mit welcher Liebe gute Beziehungen zu den Nachbarvölkern vom ganzen Volke gepflegt werden, wie die Familien hüben und drüben durch Bande der Blutsverwandtschaft fest aneinander gekettet werden, wie die Freundschaft zwischen Künstlern, Gelehrten, Arbeitern, Kaufleuten, Geistlichen alle Völker der Welt zu einer einzigen, großen Gesellschaft verketten wird, zu einem Völkerbund, den die Zeit und die Einzelbestrebungen immer nur inniger und fester schnüren, bis zum Verschmelzen der Teile zusammenschweißen können.
Und hier fangen die Widersprüche an: Tiefer in seinem Werk entgleiten dem Kaufmann handelsfeindliche Ressentiments. Freilich ist der Handel in der „unnatürlichen“ Marktwirtschaft gemeint, die noch nicht gesellianisch reformiert wurde. Solcher Handel sei „Wucher mit einem Gegenstand“, der Verkäufer wolle des Käufers „Verlegenheiten ausbeuten“, habe es gar auf die Ausbeutung „des Volkes im großen“ abgesehen.

Silvio Gesell steht selbst prototypisch für ein klassisch liberales Dilemma. Der Liberale als Fortschrittsfreund trachtet nach der Verbesserung der Gesellschaft. Je stärker seine Betonung der Freiheit, desto ungeduldiger ist er dabei. Der hierzu brauchbarste, da deutlichste Maßstab scheint dazu das Ideal zu sein: Ein plausibler Gegenentwurf, der den wunderbaren Vorteil hat, noch reinste Vorstellung und nicht schmutzige Wirklichkeit zu sein. Insbesondere im kontinentalen Liberalismus mit seiner rationalistisch-konstruktivistischen Stoßrichtung wird dieses Ideal zur Utopie, zum fiktiven Ort, dessen Unerreichbarkeit ihm erst Glanz verleiht und wütende Sehnsüchte beschwört.

Silvio Gesell will die Welt verbessern – nicht durch gute Taten, sondern indem er sie besser denkt; indem er einen – auf der Grundlage seines momentanen Wissens und Verstehens – plausibleren Gegenentwurf zur Welt erdenkt. Als liberaler Kosmopolit lädt er den zwangsläufig aus diesem Zugang folgenden Universalismus mit zusätzlichem Pathos auf. Jedem Menschen verspricht er einen „Platz an der Sonne“. In seinem Hauptwerk malte Gesell diese Sonne schwärmerisch an den Anfang seines Kapitels über „Freiland“, jenes Kapitel, wo der Liberale zum Sozialisten wird. Selten hat man diese ideengeschichtliche Entwicklung schöner durch eine Person versinnbildlicht gesehen. Die Rhetorik jedoch bleibt durchwegs liberal, von der bequemen Mitte will Gesell nicht lassen:
Entweder Eigen- oder Staatswirtschaft, – ein Drittes gibt es nicht. Man kann, wann man weder die eine noch die andere will, für die gesuchte Ordnung noch so anheimelnde und vertrauenerweckende Namen ersinnen:
Genossenschaften, Gemeinwesen, Vergesellschaftung usw., – sie können die Tatsache nicht verschleiern, daß es sich im Grunde immer um den denselben Schrecken, um den Tod der persönlichen Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstverantwortung, d.h. um Behördenherrschaft handelt.
Exakt an dieser Übergangslinie, die nicht durch besondere Ausgeglichenheit oder Weisheit „Mitte“ ist, sondern schlicht dadurch, dass sich hier gegensätzlich scheinende Ideen berühren, unternimmt Gesell noch einige ideologischen Ausritte. Der Staat als Artefakt des Status-quo wird mit manch halbherziger Kritik bedacht, was Gesell in libertäre Gefilde treibt. Er sieht sich selbst als jener Denker, der Proudhon gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt hat, indem er „den gangbaren Weg zu dem Proudhonschen Ziele“ aufzeigt. Ganz links außen stünde Gesell, die Natürliche Wirtschaftsordnung müsse „als Programm der Aktion, des Fortschrittes des äußersten linken Flügelmannes angesprochen werden“. Die meisten Kommunisten jedoch stünden aus seiner Sicht ganz rechts, denn ihr Programm entspräche einer reaktionären Sehnsucht nach vorzivilisatorischen Zuständen.
In der „Freiheit“ des neuen Systems gäbe es auch keinen Platz für Politik mehr, denn diese sei, so das wundersame Argument Gesells, wieviele andere Übel eine Folge der „Privatgrundrente“. Sei man erst zu „Freiland“ übergegangen, so wäre die Politik nur noch „angewandte Wissenschaft“. Das alte Motiv der Philosophenkönige! Aktuell bleibt hingegen Gesells Institutionenkritik, die jedoch nur gelegentlich aufflackert und nicht in die schematische Argumentation eingebunden ist:
Hingegen in einer Wirtschaft, wo jeder seinen in Not geratenen Freund an die Versicherungsgesellschaft verweist, wo man die kranken Familienangehörigen ins Siechenhaus schickt, wo der Staat jede persönliche Hilfsleistung überflüssig macht, da müssen, scheint mir, zarte und wertvolle Triebe verkümmern.
Wie kommt es nun, daß Gesell gelegentlich als „Rechter“ betrachtet wird? Dies ist dessen Darwinismus geschuldet – und dem eingeübten Unwissen heutiger Mode-Linker.
Der Darwinismus ist ideengeschichtlich ganz deutlich auf der damaligen linken Seite verortet, von anarchistischen Libertären über Sozialisten bis hin zu Liberalen – es gibt keine linke Tradition, die frei von darwinistischen und gar eugenischen Motiven war. Allerdings ist es niemals eine gute Idee, historische Texte mit modernen Sensibilitäten zu lesen und etwa aus jeder Erwähnung des Wortes „Neger“ einen Rassisten zu konstruieren. Wenn Gesell das Schreckensbild zeichnet, in Amerika könnten die „Neger eines Tages die Oberhand gewinnen“,hat er wohl zu seiner Zeit kaum jemanden irritiert.
Gesells Fortschrittsglaube, seine Whigsche Auffassung von Geschichte (als Prozeß, indem sich stets das Bessere gegen das Schlechtere durchsetzt) ließen ihm zu seiner Zeit kaum eine andere Wahl, als Darwinist zu sein. Vor diesem Hintergrund argumentierte er seine liberale Vorliebe für den Wettbewerb:
Wie bei allen Lebewesen, so hängt auch das Gedeihen des Menschen in erster Linie davon ab, dass die Auslese nach den Naturgesetzen sich vollzieht. Diese Gesetze aber wollen den Wettstreit. Nur auf dem Wege des Wettbewerbs, der sich überwiegend auf wirtschaftlichem Gebiete abspielt, kann es zur förderlichen Entwicklung, zur Hochzucht kommen. Wer darum die Zuchtgesetze der Natur in ihrer vollen, wundertätigen Wirksamkeit erhalten will, muß die Wirtschaftsordnung darauf anlegen, daß sich der Wettbewerb auch wirklich so abspielt, wie es die Natur will, d.h. mit der von ihr gelieferten Ausrüstung, unter gänzlicher Ausschaltung von Vorrechten. […]Dann darf man hoffen, daß mit der Zeit die Menschheit von all dem Minderwertigen erlöst werden wird, mit dem die seit Jahrtausenden vom Geld und Vorrecht geleitete Fehlzucht sie belastet hat, daß die Herrschaft den Händen der Bevorrechteten entrissen werden und die Menschheit unter der Führung der Edelsten den schon lange unterbrochenen Aufstieg zu göttlichen Zielen wieder aufnehmen wird.
Hier wird deutlich, daß der Bezug zur Natur im Zeitalter des Rationalismus eine besondere Bedeutung hatte, die heute oft übersehen wird. Das „Natürliche“ war das naturgemäß gedachte – paradoxerweise im Sinne des rein Vernunftgemäßen. Begriffe wie „Naturrecht“ haben so eine irreführende Zweitbedeutung: Das aus der Vernunft geborene Recht im Gegensatz zum traditionellen. Nur die Empfängnis der Vernunft ist unbefleckt und daher „natürlich“, die historischen Formen jedoch sind „künstlich“, stets durch bessere Staatskunst obsolet. Die Vernunft, von der hier die Rede ist, ist freilich bloß die rein ordnende, schematische, optimierende des Fortschrittsgläubigen. Auch der Mensch wird zum anzuordnenden, zu optimierenden Bestandteil des „besseren Welt“ (besser gedachten Weltordnung). Das wesentliche „Wahlrecht“ war für Gesell das „Zuchtwahlrecht“ der Frauen bei der Gattenwahl.
Der größte Vorzug der Natürlichen Wirtschaftsordnung (warum sonst würde er diesen in einem Vorwort nochmals gesondert erwähnen?) sei, daß bei der Gattenwahl wieder die „vererbungsfähigen Vorzüge“ den Ausschlag geben würden. Die glücklichste Lösung der Frauenfrage sei die durch „Freiland“ ermöglichte „Rückkehr der Frau zur Landwirtschaft“.
Häufig ist der Vorwurf, Gesell wäre in manchen Bereichen Vorläufer national-sozialistischen Gedankenguts gewesen. Tatsächlich erinnert Gesells Kampf gegen die „Zinsknechtschaft“ und seine Unterscheidung von raffendem und schaffendem Kapital an die National-Sozialisten. Doch dieser Vorwurf ist ungerecht. Gesell war nie Stichwortgeber für Hitlers Ideengemisch. Dieser bezog sich bei seinen ökonomischen Ansichten stets auf Gottfried Feder, dem er zuschrieb, „den ebenso spekulativen wie volkswirtschaftsschädlichen Charakter des Börsen- und Leihkapitals festgelegt, seine urewige Voraussetzung des Zinses bloßgelegt zu haben“. Bei Gesell fehlte zudem der offene Antisemitismus. Einer der wenigen Bezüge von National-Sozialisten auf die Freiwirtschaftslehre ist aus Wörgl überliefert, dessen Freigeldexperiment noch ausführlich diskutiert wird. Die dortige Ortsgruppe der NSDAP zeigte zwar eine gewisse Offenheit gegenüber der Freigeldlehre, stellte sich aber letztlich gegen das Experiment – unter eher fadenscheinigen Gründen.

Allenfalls mag man Gesell den Vorwurf manchen, ein wenig den Boden bereitet zu haben – doch diesen Vorwurf könnte man fast allen Denkern vor den National-Sozialisten machen. Jene vertraten schließlich keine konsistente Ideologie, die klar einem Lager zugerechnet werden könnte, sondern ein auf Popularität ausgerichtetes Gemisch ideologischer Versatzstücke. Dennoch: Für Hitler selbst war die Zinsfrage von besonderer Bedeutung. In Mein Kampf beschreibt er die Theorien von Gottfried Feder, die deutliche Überschneidungen mit der Freiwirtschaftslehre aufweisen, als letzte und damit ausschlaggebende ideologische Zutaten zur Gründung der NSDAP.
Sucht man direkte ideologische Nachfahren von Silvio Gesell, so findet man sie im Keynesianismus. Gesell nahm wesentliche Elemente von Keyne's Lehren vorweg. Keynes selbst meinte, daß die Welt von Gesell „mehr lernen kann als von Karl Marx“. Hätte Gesell nicht im Gegensatz zu letzterem für jedermann verständlich geschrieben, so wäre er wohl als einer der bedeutendsten Ökonomen der Neuzeit in die Geschichte eingegangen. Da er jedoch aufgrund der Zugänglichkeit seines Werkes keine akademischen Schulen von hauptberuflichen Interpreten und Professoren nähren konnte, erwartete ihn das Schicksal, bloßer Ideengeber akademischer Außenseiter zu sein, was stets den Geruch des Sektoiden mit sich bringt. Über Wert und Unwert seiner Ideen sagt dies noch wenig aus.

GELDTHEORIE: GESELL ALS THEORETIKER DES PAPIERGELDS

Die Welt, in der Gesell schreibt, hat wenig mit der Welt von heute gemein. Als Geld fungieren in deutschen Landen Edelmetallmünzen; auch die Mark war einst eine bloße Gewichtseinheit. Doch dies bedeutet längst nicht, daß es keine staatlichen Interventionen im Geldwesen gäbe. Die Münzprägung ist bereits monopolisiert, phasenweise bereichert sich der Staat durch Münzverschlechterung. Besonders schwerwiegende Interventionen richten sich gegen das Silbergeld, das aufgrund der niedrigeren Kaufkraft das Geld des kleinen Mannes ist. Zur besseren staatlichen Kontrollierbarkeit wird das Geldwesen immer stärker zentralisiert, bis hin zur gänzlichen Verdrängung des Silbergeldes. So schwelt im Volke ein gewisser Groll gegen das staatliche Goldgeld. Gesells Geldtheorie macht sich diesen Groll zu Nutze: Zahlreicher als seine ökonomischen Argumente sind seine Schmähungen des Goldes. Als bessere Alternative preist er das Papiergeld. Sehen wir uns seine Argumente näher an:

  1. GÜTER ALS TAUSCHMITTEL ZU NUTZEN IST INEFFIZIENT
    Für Gesell beginnt die Zivilisation an dem Punkte, an dem die Menschen von der autarken Produktion über den direkten schließlich zum indirekten Tausch übergehen und so die Arbeitsteilung nützen können. Der indirekte Tausch wird durch ein Tauschmittel ermöglicht: Geld.
    Geld ist für Gesell eine menschliche Erfindung, eine rationale Idee, die Fortschritt bringt. Die tatsächliche Entstehung dieser Institution betrachtet er nicht. Seine Analyse ist streng analytisch im engeren Wortsinn: er sichtet, ordnet, trennt. Mit „Geld“ bezeichnet er eigentlich kein reales Phänomen, sondern die reinste ideelle Essenz des Tauschmittels, alles andere sei künstliches Beiwerk. So ist der Schluß naheliegend, daß der physische Aspekt des Geldes unnötig, schlimmer noch: ineffizient ist. Hier zeigt sich Gesell ganz als „Ökonom“ modernen Zuschnitts. Wenn die Welt nicht mit dem Modell übereinstimmt, das stets – da rein theoretisch – von höchstmöglicher Effizienz ist, umso schlechter für die Welt!
    Sein Denkfehler wird deutlich, wenn er zugeben muß, daß sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten die unterschiedlichsten Waren als Geld bewiesen. Dies wischt er mit der Bemerkung beiseite, dies sei „bloßer Tauschhandel“. Dabei tut er wider besseres Wissen so, als würden in diesen Fällen etwa das Salz oder der Tee so häufig getauscht, weil die Menschen plötzlich so gerne salzig äßen oder Tee tränken. Er verkennt, daß genau hier die primäre Funktion realen Geldes liegt: das allgemein akzeptierte Tauschmittel zu sein. Jede Ware, die auf allgemeine Akzeptanz stößt, kann indirekten Tausch ermöglichen – sodass z.B. in vielen Gefängnissen auch die Nichtraucher anfangen, Zigaretten nachzufragen.
    Freilich, der Tee, der nachgefragt wird, um weitergetauscht zu werden, wird nicht getrunken – für Gesell eine Verschwendung, übrigens ganz im Widerspruch zur gerade skizzierten Argumentation (würde er bloß getauscht, um getrunken zu werden, dann wäre es nämlich in der Tat bloß direkter Tausch). Und weiters im Widerspruch zu seinen häufigen Klagen, Gold sei der nutzloseste Stoff überhaupt. Um dann doch vorzuschlagen, „nutzloses“ Gold durch nützliches Papier zu ersetzen – wie kann „Nutzloses“ verschwendet werden? Hier wird deutlich, daß Gesell primär ein gewitzter Rhetoriker (bzw. Ideologe) ist, die Konsistenz der Argumente ist nebensächlich.
    Kann man aus dem Tauschakt den Tee, das Salz, das Gold weglassen, nur die „Essenz“ bewahren und so die Waren vom Gebrauch als indirektes Tauschmittel zur direkten Nutzung „befreien“? Ein Blick in die Gegenwart scheint Gesell recht zu geben: „man“ „kann“! Doch, wie wir noch sehen werden, wäre es ein Zirkelschluß, die Gegenwart heranzuziehen, um Gesells Argumente zu belegen. Das Argument läßt sich, so wie es geführt wird, nur historisch betrachten: Kann sich etwas, das für die Menschen keinen inhärenten Wert hat, als Geld durchsetzen? Anders formuliert: Was würde jemanden dazu bewegen, mühsam geschürftes Gold oder Salz gegen ein Stück Papier zu tauschen? In der Geschichte gibt es nur eine Antwort darauf: Zwang.
    Dieser Zwang ist in der Regel indirekt, denn der direkte Zwang (die Aufnötigung einer unfreiwilligen Transaktion, d.h. Raub) kann auch das Papier sparen. Indirekter Zwang vermag es, Wertloses „aufzuwerten“, ohne dass neue Werte geschaffen werden. Ein Beispiel: Ein Dorf wird von einer mordlustigen Horde überfallen, deren exzentrischer Häuptling nur jene Einwohner am Leben läßt, die ihm monatlich 100 Glückskekse überreichen. Allerdings, so der Haken an der Sache, akzeptierter nur von ihm selbst gebackene Glückskekse. Sogleich werden die verzweifelten Dorfbewohner anfangen, all ihr Hab und Gut gegen des Häuptlings Glückskekse einzutauschen. Wer mehr davon erlangen kann, tauscht diese selbst teuer weiter. Bald erlangen diese Glückskekse Geldfunktion – schließlich sind sie nun nicht nur sehr „kaufkräftig“, sondern sogar handlich und recht haltbar. Der Außenstehende mag diese Glückskekstauscher auslachen: selbst behaupten sie, Glückskekse seien nahezu wertlos und doch tauschen sie all ihre Besitztümer dagegen ein.
    Die unsaubere Argumentation vieler Papiergeldkritiker macht sich Gesell in diesem Sinne meisterhaft zu Nutze. Sein Spott ist noch heute aktuell: Wenn das Papiergeld wirklich wertlos ist, dann nehme ich es dir gerne kostenlos ab, lieber Goldfreund!

Im obigen Beispiel wird deutlich, was die„Aufwertung“ des Papiergeldes ermöglichte und die Gegner dieser Manipulation dem Spott aussetzte: Der Zwang, Steuern in staatlichem „Geld“ abzuführen, und der Zwang, Rückzahlungen von Außenständen stets in Papiergeld akzeptieren zu müssen – um nur zwei Gründe zu nennen.
Zusammenfassend: Jedes Tauschmittel muss stets aus der Perspektive des Tauschpartners einen Wert haben, damit es freie Menschen freiwillig im Tausch gegen Wertvolles akzeptieren. Dieser Wert ist jedoch natürlich nicht an sich materiell oder sachinhärent. Es muss auch nicht die für den Tauschpartner wertvolle Sache direkt mitgeführt und getauscht werden, bei vertrauenswürdigen Institutionen reicht oft der bloße Titel (Lieferschein, Eigentümerschein). Seltener werden auch Schuldscheine akzeptiert, doch in der Regel werden Titel auf bereits bestehende, bzw. geschaffene Güter bloßen Versprechungen vorgezogen. Silvio Gesell erkennt sehr richtig die Schwächen der objektiven Wertlehre (von Marx wie von den klassischen Ökonomen), versteht aber die subjektive
Wertlehre und den Marginalismus nicht, wodurch er Wert gleich als „Illusion“ verwirft – ein verheerender Fehlschluss.

  1. KEIN GOLD DER WELT KANN DIE MENSCHEN VOR DER EINFÜHRUNG VON PAPIERGELD SCHÜTZEN
    Dieses Argument ist eines der absurdesten von Gesell, doch gibt er diesem trotzdem viel Gewicht. Er führt die ersten Papiergeldexperimente der Neuzeit an: John Laws wahnwitziger Spekulationsbetrug und die Assignants der Französischen Revolution. Bei beiden Beispielen ist offensichtlich, daß sie Instrumente der Enteignung waren. Gesell führt sie denn auch nicht als Positivbeispiele an, das wäre doch zu dreist. Nein, er ruft allen Ernstes aus: Da, seht, davor konnte euch auch euer Goldgeld nicht schützen! Warum also daran festhalten?
    Diese Argumentation entspricht dem Zugang, das nach dem Sturm lecke Dach gleich ganz abzudecken: Nass werde ich ohnehin! Wieder wechselt Gesell seine Argumentation, wie es ihm gerade paßt. Wenn Papiergeld so wünschenswert sei, wovor müsse man denn dann die Menschen schützen? Gesell wirft doch tatsächlich der Goldwährung den Wertverlust vor, der eintrat, als sie aufgegeben wurde. Das Metall sei unzählige mal, so oft es die Machthaber […] so haben wollten, vom Papiergeld verdrängt worden. Das Metall hat niemals dem Papier widerstehen können. Vor Pfuschern und Schwindlern hat das Geld in dem Goldgehalt nie mehr Schutzgefunden […].
    So gebt euch denn ernüchtert endlich den Pfuschern und Schwindlern hin, Widerstand ist ohne dies zwecklos!

  2. WARENGELD WIRD BEIM TAUSCHEN IMMER TEURER
    Wenn wir eine Ware bestellen, so haben wir oft Transportkosten und Zölle zu zahlen. Daher sei die Nutzung von Waren als Geld viel teurer als die Nutzung von Scheinen. Nun ist es natürlich richtig, daß Lieferscheine weitaus günstiger zu transportieren sind – doch kann dies kein Argument für ungedecktes Geld sein. Genauso könnte man argumentieren: Lieber Kunde, der Transport ihres Neuwagens ist recht teuer, wir schicken Ihnen per Post ein Miniaturmodell davon und sie stellen sich einfach vor, es wäre ein echtes Auto – dann spart sich „die Volkswirtschaft“ die Kosten und wir haben einen Beitrag zur Effizienzsteigerung geleistet. Dies soll keine Polemik sein – bloß eine Illustration der Absurdität des Effizienzgedankens.

KRISENTHEORIE: DIE IRRTÜMER DES KONSUMWAHNS

Seiner Zeit voraus, nämlich Keynesianismus nahezu in Reinform, ist Gesells Theorie der Wirtschaftskrise. Eigentlich handelt es sich um zahlreiche Theoriestücke; einen dieser Bestandteile fasst er wie folgt prägnant zusammen: Je mehr gearbeitet wird, je mehr Waren erzeugt werden, desto größer der Reichtum, und je größer der Reichtum, desto mehr Geld (Tauschmittel der Waren) wird zu Prunkwaren eingeschmolzen[…]. Das Geld ist die Voraussetzung der Arbeitsteilung, die Arbeitsteilung führt zum Wohlstand, und dieser vernichtet das Geld. Gesetzmäßig endet also der Wohlstand immer als Vatermörder.
Das Geld werde also dem Umlauf entzogen und fehle dem Wirtschaftskreislauf. Kann tatsächlich zu wenig Geld im Umlauf sein? In einer realen Wirtschaft sind Preisänderungen normal, auch Preisänderungen des Geldgutes. Nimmt die Nachfrage nach dem Gut, das als Geld dient, zum Zwecke dessen Gebrauches (im Gegensatz zum Tauschzweck) zu, so steigt dessen Kaufkraft, d.h. die Preise ausgedrückt in diesem Gut fallen. Preisänderungen sind nichts an sich Beunruhigendes. Wenn die nominelle Preishöhe aller Güter steigt oder fällt, ändert sich für die Akteure nichts –
problematisch sind allein Verzerrungen der Preisstruktur. Wenn die Kaufkraft des Geldgutes eine gewisse Schwelle unter- oder überschreitet, kann es seine Geldfunktion verlieren. Dann tritt ein anderes Gut an seine Stelle. Auch dies ist nicht problematisch. Die Verwechslung von nominalen Preisen, also den bloßen Zahlenwerten (Nennwerten), mit realen Preisen, also den tatsächlichen Tauchverhältnissen zu anderen Gütern (der Preisstruktur), nennt man Geldillusion. Dieser Geldillusion erliegt auch Gesell, wenn er das Sinken der Nominalpreise als primäres Übel ausweist. Heute nennt man das Sinken der Preise fälschlicherweise Deflation – tatsächlich ist es eine der möglichen Folgen einer Deflation, einer Abnahme der Geldmenge. Gesell setzt „Reichtum“, d.h. Vermögen, irrigerweise mit Geld gleich. Sehen wir uns obigen Satz nochmals an:

  • a)Je mehr Waren, desto mehr Reichtum,
  • b) je mehr Reichtum, desto mehr Geld.
    a) stimmt zwar im Regelfall, entscheidend ist allerdings nicht bloß die Anzahl der produzierten Waren, sondern, ob Art, Anzahl und Qualität den Präferenzen der Konsumenten entsprechen. Wenn ein Mensch eine goldene Uhr zehn Kunststoffuhren vorzieht, wird er nicht dadurch reicher, daß 100 Kunststoffuhren produziert werden – und umgekehrt.
    b) ist falsch. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß eine höhere Warenanzahl von den Konsumenten gewünscht wird, bedeutet diese höhere Anzahl notwendigerweise sinkende Stückpreise.
    Auf die Geldmenge hat dies überhaupt keine Auswirkung. Wohlstand hat mit Nennwert und Zahl der Scheinchen in unserer Börse überhaupt nichts zu tun, und auch nicht an und für sich mit der Zahl an Geldmünzen - außer wir fragen Sie nach, um sie einzuschmelzen, weil wir goldene Bilder rahmen wünschen. Entscheidend ist die unseren Präferenzen entsprechende Güterversorgung, das bedeutet mehr und bessere Güter für weniger Geld (das heißt unsere Arbeit und eigene Erzeugnisse) – also sinkende Preise. Das Argument vom Schreckgespenst Deflation läuft doppelt in die Irre. Einerseits subsumiert der falsche Begriff zwei grundverschiedene Erscheinungen: dasselbe Wort für Preis- und Geldmengensenkungen - letzteres ist oft das bittere Ende nicht nachhaltiger Boomphasen (durch Zinsmanipulation) oder stellt gar glatte Enteignungen dar, wie etwa bei der Argentinienkrise. Andererseits würden Preissenkungen dazu führen, daß niemand mehr Ausgaben tätige: In der Erwartung weiter fallender Preise würde jeder Kauf und jede Investition ewig verschoben. Dies ist natürlich absurd; ein Blick auf den Elektroniksektor beweist das Gegenteil. Trotz rapide fallender Preise für Rechner, eine Folge der technischen Entwicklung und damit ein Zeichen für steigenden Wohlstand, ist keine Käuferzurückhaltung festzustellen – ganz im Gegenteil. Das Schielen auf die Konsumentenpreise ist einem weiteren hartnäckigen Irrtum geschuldet: der Vorstellung, daß es Konsum sei, der Wohlstand schaffe. Eine einfache Robinsoade in der Tradition Gesells beweist schnell das Gegenteil: Könnte Robinson Crusoe, der zunächst als Subsistenzfischer sein Dasein fristet, etwa seinen Wohlstand steigern, indem er mehr Fisch isst, um „die Nachfrage nach seinen Erzeugnissen zu beleben“? Diese Verwechslung von Konsumsteigerung mit nachhaltiger Wohlstandsteigerung hält bis heute an. Gesell kann auch als Vorläufer der Monetaristen gelten. Schließlich formulierte er für die zu schaffende Geldpolitik das Ziel stabiler Warenpreise. Das bedeutet nichts anderes, als daß zum Zwecke – eigentlich bedeutungsloser– stabiler Nominalpreise Wohlstandssteigerungen durch Geldentwertung „neutralisiert“ werden. Um diese neue, „wissenschaftliche“ Geldpolitik zu betreiben, wird das Messen nötig. Gesell schlägt hierzu die Preisindexmessung über fiktive Warenkörbe vor – seiner Zeit wiederum weit voraus!
    Doch Silvio Gesell konnte kaum anders, als die falschen Schlüsse ziehen. Wie fast alle Historiker, denen die theoretischen Instrumente fehlen, beobachtet er zeitgleich Metallgeld und Wirtschaftskrisen. Wie kann es zum Boom-Bust-Zyklus kommen, obwohl die Geldmenge scheinbarstabil geblieben war, dieselben Goldmünzen umlaufen, die Deckung der Banknoten nicht reduziert wurde? Ein bloß oberflächliches Verständnis der Konjunkturzyklustheorie führt hier in die Irre. Entscheidend ist die ungedeckte Kreditmengenausweitung (wobei auch hier eine genauere Betrachtung notwendig wäre: Was deckt eigentlich einen Kredit? Ist die Deckung eines Kredits das Versprechen tilgen zu können? Doch das ist ein vertiefendes Thema zum Begriff „gedecktes Geld oder nicht gedecktes Geld“), die zu falschen Zinssignalen und dadurch Fehlinvestitionen führt. Das heißt, die Kapitalstruktur entspricht nicht den Konsumentenwünschen, weil sich die Unternehmer über die verfügbare Menge an realen Ersparnissen täuschen ließen. Wirtschaftskrisen modernen Zuschnitts, also strukturelle Verzerrungen im typischen Boom-Bust-Muster im Gegensatz zu momentanen Engpässen oder Fehlernten, sind daher auch ohne sichtbare Geldverschlechterung möglich. Das Nebeneinander bestehen von Goldwährung und Kreditmengen induzierten Konjunkturzyklen führte nicht nur viele Politiker (das historisch bedeutendste Beispiel hierfür ist wohl der englische Premierminister Sir Robert Peele), sondern auch die meisten Historiker zu falschen Schlüssen. Die falsche Interpretation der Ge-schichte ist stets die Hauptursache für ideologische Irrtümer und Konflikte.

ZINSTHEORIE: VOM ENDE DER ZINS-KNECHT-SCHAFT

Der Zins ist eine der problematischsten Facetten der Ökonomie - fast alle Glaubensrichtungen und Ideologien hegen große Vorbehalte gegen den Zins oder lehnen Zinsforderungen gänzlich als unmoralisch ab. Diese Ablehnung speist sich aus einem berechtigten Unwohlsein über die Geldvermehrung. Erscheint diese gar automatisch und ohne jedes Zutun, wie das heute der Fall ist, erstaunt der Vorbehalt nicht. Silvio Gesell erkennt vollkommen richtig, das es nicht der Zins ist, der Menschen dazu bringt, zu sparen. Die wirklichkeitsfremden Determinismen der klassischen Ökonomen verweist er zu Recht ins Reich der Märchen. Zinszahlungen sind keine Notwendigkeit und es wäre in der Tat absurd, wenn man die Tugend der Enthaltsamkeit entlohnen müßte, um sie hervorzurufen. Daß er die Ansätze der Wiener Schule jedoch nicht verstand, wird hier wiederum sehr deutlich, wenn er deren Zeitpräferenztheorie des Zinses kurz streift. Dabei verwechselt er Böhm-Bawerks Beispiel für die Fehler der Arbeitswertlehre – der im Keller ohne Zutun reifende und dadurch an Wert gewinnende Wein – mit der Begründung für die Höherbewertung gegenwärtiger Güter gegenüber zukünftigen Gütern.
Gesell erkennt zwar den „automatischen“, risikolosen Zins als problematisch, schüttet jedoch das Kind mit dem Bade aus. Der Umstand, daß wir es heute gewohnt sind, unser Geld nur auf ein täglich zugreifbares Konto legen zu müssen, um automatisch einige Prozent Zuwachs zu erzielen, führt heutige Interpreten von Gesells Ansatz noch mehr in die Irre. In Wirklichkeit ist dieser scheinbar risikolose Zins nur aufgrund der Kreditmengenausweitung möglich. Und wer glaubt, daß die 2-3% Zinsen einen Zuwachs seines Kapitals bedeuteten, tappt in die Falle: der Wertverlust des Geldes durch die Geldmengenausweitung liegt weit darüber. Die wenigen Prozent sind die Krümel eines künstlich aufgeblähten Kuchens, zu deren größten Nutznießer die Banken zählen. Normalerweise würde niemand für täglich fälliges Geld Zinsen bezahlen, im Gegenteil war traditionell eine Gebühr für diese Dienstleistung nötig – jene Lagerkosten, dieGesell zu Recht vermisst.
Streng zu trennen vom Marktzins (beziehungsweise Geldzins) ist das Phänomen des originären oder Urzinses. Gesell sieht diesen Urzins als „Wegegeld“, das zu Unrecht den „Kapitalisten“ bezahlt werden muß: Sie sitzen auf dem Kapital und erpressen so den Zins.
In der Ökonomie wird als Urzins jener Einkommensbestandteil betrachtet, der durch Wettbewerb nicht – wie der Profit – auf Null gedrückt werden kann. Dieser Bestandteil läßt sich beobachten: Stets scheint es einen Wertunterschied zwischen Gütern höherer und Gütern niedrigerer Ordnung zu geben, abzüglich aller Aufwendungen für Arbeit und Boden. Die Fragestellung ist am einfachsten anhand eines Beispiels zu illustrieren: Wann und warum bewerten Menschen die fertige Mahlzeit höher als alles, was dazu nötig ist, die Mahlzeit zuzubereiten, einschließlich der Arbeit? Dies ist dann der Fall, wenn nicht als Selbstzweck, „aus Spaß an der Freude“ gekocht wird. Der Grund liegt schlicht darin, dass Menschen ihre Ziele stets höher bewerten als die Mittel. Unsere Mittel sind knapp in Relation zu unseren Zielen. Wenn Kochen keines meiner momentanen Ziele ist, dann ist es ein Mittel – und ich wähle es nur, wenn es mich näher zu einem meiner Ziele bringt, da sich per Definition höher bewerte als das Mittel. Der Einsatz des Mittels wird durch den erwarteten Wertzuwachs „motiviert“.
Ersparnisse bilden wir meist als Mittel, um unsere Ziele zu erreichen. Nehmen wir an, ich spare auf ein Haus. Ein Nachbar, der noch keine Ersparnisse gebildet hat, würde gerne eine Buchhandlung eröffnen und fragt, ob ich ihm dazu meine Ersparnisse zur Verfügung stellen kann. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Die Eröffnung einer Buchhandlung könnte eines meiner Ziele sein - dann würde ich meine Ersparnisse in der Tat auch ohne Kompensation dafür nützen. Wenn dies nicht der Fall ist, kann diese Nutzung allenfalls ein Mittel für mich sein. Das Verborgen meiner Ersparnisse müßte mich dann also als Mittel meinen eigentlichen Zielen näher bringen. Wenn dies nicht der Fall ist, dieser meinen Präferenzen entsprechende Wertunterschied nicht ausgeglichen wird, werde ich meine Ersparnisse nicht freiwillig fremden Zielen dienstbar machen. Mein Nachbar wird wahrscheinlich einen Ertrag aus der Buchhandlung erwarten und wird – vollkommen freiwillig – eine Kompensation vorschlagen. Er kommt seinem Ziel näher (eher früher als später eine Buchhandlung eröffnen), ich meinem (eher früher als später ein Haus zu bauen). Ein Gewinn für beide Seiten!
Natürlich könnte es Selbstzweck für mich sein, meinem Nachbarn das Erreichen seiner Ziele zu ermöglichen. Dies wäre ehrenwert - doch da die Mittel stets knapper als die Ziele sind, gibt es auf den einen Nachbarn wohl viele andere, die ebenfalls eine Verwendung für meine Ersparnisse wüssten. In größeren Gesellschaften bilden sich Märkte für Ersparnisse. Menschen können so ihren Zielen näher kommen, indem sie ihre Ersparnisse als vorläufige Mittel gebrauchen, um an der
Mehrergiebigkeit fremder produktiver Unternehmungen zu partizipieren. Wenn auf diesem Markt jener fundamentale Wertunterschied nicht kompensiert wird, werden solche Ersparnisse nicht mehr angeboten. Wo die Entscheidungen über die Verwendung knapper Mittel nicht mehr den Erzeugern und Eignern dieser Mittel überlassen sind, braucht es zentrale „Planung“ und Zwang - der direkte Weg ins geplante Chaos der Zwangswirtschaft.
Zusammenfassend: Die von Gesell zu Recht kritisierte exponentielle Dynamik risikoloser Zinsen (und Zinseszinsen) ist eine Folge der Manipulation des Geldwesens. Ohne eine solche Manipulation ist jeder Kapitaleinsatz mit Risiko verbunden und bringt keine automatisch (nominell) positiven Renditen. Davon unabhängig besteht das universelle Phänomen des originären Zinses, das aus der Logik menschlichen Handelns folgt, und durch Zwang nur verschleiert werden kann. Menschen bieten ihre Mittel freiwillig nur für Ziele an, die nicht die ihren sind, wenn sie dadurch ihren Zielen näher kommen – mindestens durch Kompensation jener Wertdifferenz zwischen Mittel und Ziel. Diese Ziele sind natürlich oft immateriell und auch die Kompensation kann immateriell sein (Zuneigung, Vertrauen …). Problematisch ist nur die Zinsmanipulation, weder der Urzins, noch der Marktzins per se.

FREIGELD: WACHSTUM DURCH SCHWUND

Gesell berühmtestes Rezept, um die konstatierten Übeln auszuräumen und der ersehnten Utopie der Freiwirtschaft näher zukommen, ist das Frei- oder Schwundgeld (bzw. „umlaufgesichertes Geld“). Wie bereits erwähnt, erklärt Gesell das Erscheinen von Krisen durch die Abnahme der umlaufenden Geldmenge. Während der Konsum als Motor der Wirtschaft angesehen wird, sei das „Horten“ deren Bremse.
Die Betonung des Umlaufs ist zwar wieder recht modern, wird dadurch aber leider nicht richtiger. Dieser Gedanke findet sich als velocity in der Quantitätsgleichung. Gesells Denkfehler liegt darin, den Geldbestand in umlaufendes und gehortetes Geld zu unterteilen. Dies entspricht de facto der Unterscheidung zwischen „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital. Ein Blick auf die Realität zeigt, wie wenig zielführend eine solche Unterscheidung ist. Wann immer wir eine Momentaufnahme der realen Wirtschaft machen, niemals werden wir umlaufendes Geld beobachten. Auf keiner dieser Aufnahmen laufen selbsttätig Scheine mit Füßchen umher. All das Geld, das wir sehen, wird gehalten: in Geldbörsen, Tresoren und Kassen. Nun mögen wir viel oder wenig Geld in der Geldbörse mitführen – die Bargeldhaltung entspricht unseren Präferenzen und ist eine Folge der Ungewissheit. Wüssten wir all unsere Bedürfnisse und alle Gegebenheiten im Vorhinein mit Gewissheit, wäre Bargeldhaltung unnötig.
Ist es schlecht, gar unsozial mehr Bargeld zu halten? Die Nachfrage nach Bargeld verändert bloß die Höhe der Preise (höhere durchschnittliche Bargeldhaltung führt zu niedrigeren Preisen und umgekehrt), nicht jedoch die Preisstruktur. Wie bereits erläutert, ist die nominelle Preishöhe für den Wirtschaftslauf irrelevant, relevant sind bloß relative Preisänderungen. Wenn diese Veränderungen nicht eine Änderung der reellen Gegebenheiten anzeigen (also Knappheiten und Überflüsse aus-drücken), hat man es mit Verzerrungen zu tun, die die Wirtschaftsstruktur von den Konsumentenpräferenzen entfernen und daher den (nicht nur materiellen) Wohlstand verringern. Eine erhöhte Bargeldhaltung, also eine größere Nachfrage nach Geld, ist genauso unproblematisch wie eine größere Nachfrage nach Erdbeeren - die Wirtschaftsstruktur paßt sich dieser Änderung der Präferenzen an, ohne strukturelle Krisen zu zeigen.
Eine höhere Umlaufsgeschwindigkeit schafft noch keinen höheren Wohlstand. Sonst könnte eine Gruppe von Menschen allein dadurch ihren Wohlstand mehren, daß sie eine Münze mit zunehmender Geschwindigkeit im Kreislaufen lassen. Der Irrtum folgt aus der falschen Konzentration auf den Konsum – dieser hat mit wachsendem Wohlstand jedoch nichts zutun, er ist Ziel und nicht Ursache der Wohlstandsmehrung.
Gesell möchte dieses falsche Ziel höherer Umlaufsgeschwindigkeit durch einen Schwund des ausgegebenen Papiergeldes erreichen. Er argumentiert dies zusätzlich damit, daß so das Geld „verrotte“ und damit seine Vorrangstellung gegenüber anderen Waren einbüße. Diesem Gedankengang liegen mehrere Irrtümer zugrunde: Zunächst verkennt er den Prozeß der Entstehung von Geld. Dieses wurde nie „erfunden“, sondern schrittweise wurden immer besser als Geld geeignete Güter entdeckt. Daß sich hier durch freiwillige Entscheidungen von Marktakteuren stets langlebige Güter durchsetzen, ist naheliegend. Gerade weil Edelmetallgeld auch Wertaufbewahrung ermöglicht, steigt dessen Akzeptanz als Tauschmittel. Eine unmittelbare eigene Verwendung ist nicht nötig.
Da Gesell den Prozeß der Geldentstehung außer acht läßt, nimmt er fälschlicherweise an, daß sich durch Schwund belastetes Geld langfristig gegen wertbeständiges Geld durchsetzen könne. Der Staat solle das freiwillig gegen Schwundgeld eingetauschte Gold zu Schmuck verarbeiten und als Heirats- und Gebärprämien verschenken. Freilich gibt er implizit zu, dass diese freiwillige Annahme nur durch staatliche Gewalt erreichbar ist - mehr dazu später.
Moderne Freiwirte erkennen die Unzweckmäßigkeit des von Gesell vorgeschlagenen Markengeldes für den heutigen, zunehmend bargeldlosen Zahlungsverkehr. Alternativ vorgeschlagen wird, den Schwund automatisch auf den Konten einzugeben. Dieser Vorschlag und ein weiterer Vergleich von Gesells Ideen mit der Gegenwart zeigen das seltsame Unverständnis der heutigen Welt seitens moderner Gesellianer und die Untauglichkeit von Gesells Vorschlägen.
Denn tatsächlich wurde ein großer Teil von Gesells Ideen bereits Realität. Es ist absurd, dem heutigen Papiergeld den Vorwurf zu manchen, es verrotte nicht hinreichend. Verglichen mit der Wertminderung des heute umlaufenden Papiergeldes, steht Gesells Schwundgeld geradezu als Hartgeld da. Trotz Ende der Goldwährung und laufender Wertverminderung, trotz Anwendung aller keynesianischen und monetaristischen Rezepte, fanden die Wirtschaftskrisen kein Ende. Ganz im Gegenteil, die Konjunkturzyklen wurden immer ausgeprägter und verheerender. Sogar die automatische Schwundgebühr am Bankkonto ist bereits eingeführt – sie heißt Kapitalertragssteuer. Doch das freiwirtschaftliche Paradies scheint immer ferner.

DAS WUNDER VON WÖRGL

Im Gegensatz zu anderen Ideologien rühmt sich die Freigeldlehre damit, sich bereits in der Realität bewährt zu haben. Und zwar in so eindrucksvoller Weise, daß gar von einem Wunder die Rede ist. Inmitten der schwersten Wirtschaftskrise hätte sich die Tiroler Gemeinde Wörgl durch Ausgabe von Schwundgeld geholfen und einen fulminanten Aufschwung verzeichnet – bis die Staatsmacht dieses Experiment gewaltsam beendete.
Sehen wir uns näher an, was in Wörgl geschah: Die Gemeinde ist de facto bankrott: Ein Kredit über 1,3 Millionen Schilling steht aus. Die Bürger können zum Teil die Steuer nicht mehr bezahlen – damals war es noch nicht Usus, in diesem Fall deren Existenz zu ruinieren und den Hof zu beschlagnahmen. Die Steuerrückstände belaufen sich bereits auf 120.000 Schilling. Am 31. Juli 1932 gibt die Gemeinde Schwundgeld, das als „Arbeitswertbestätigungen“ bezeichnet wird, mit
einem Gesamtnennwert von 32.000 Schilling aus. Was geschieht nun mit dem neu geschaffenen Schwundgeld, wie gelangt es in Umlauf? Um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, wird eine Deckung für das erfundene Geld in Schilling bei der örtlichen Raiffeisenbank hinterlegt. Freilich handelt es sich hier um keine Deckung im eigentlichen Sinne, der Betrag wird von der Bank weiterverliehen und trägt der Gemeinde Zinsen ein. Es findet also eine Geldmengenausweitung statt, die jedoch in Relation zur Ausweitung seitens der Geschäftsbanken und des Staates kaum ins Gewicht fällt. Jeden Monat sind Wertmarken für 1% des Nennwerts der Schwundgeldscheine bei der Gemeinde zu kaufen und aufzukleben - die sogenannte Umlaufgebühr. Dies ist nichts anderes als eine Geldsteuer zu Gunsten der Gemeinde und soll das Aufbewahren von Schwundgeld bestrafen. Aus dem Markenverkauf und den Zinseinnahmen fließen der Gemeinde 2000 Schilling zu – damit ist zumindest das Bürgermeistergehalt von 1800 Schilling gesichert.
Die Arbeitswertscheine werden verwendet, um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu finanzieren. Zusätzlich erhält die Gemeinde einen Zuschuss von 12.000 Schilling seitens des Landes Tirol. Arbeitslose werden nun für 75 Groschen die Stunde beschäftigt, die mit Schwundgeld bezahlt werden.
Die Kaufleute vor Ort lassen sich überzeugen (auch die Großtante des Verfassers von Zeitgedanken), dieses Schwundgeld anzunehmen. Schließlich kann es gegen einen Abzug von 2% in Schilling umgetauscht werden. Im Klartext: Die Konkurrenz und das Vertrauen in den beliebten Bürgermeister bewegen diese dazu, den Arbeitern einen Rabatt von 2% zu gewähren. Nun geschieht das „Wunder“: Viele Kaufleute tauschen das Schwundgeld nicht unmittelbar zurück, sondern umgehen den Abschlag, indem sie ihre Steuerschulden begleichen. Die Gemeinde muß natürlich das von ihr ausgegebene Geld ohne Abschlag dafür akzeptieren. Dies bringt innerhalb kurzer Zeit 80.000 Schilling an Steuerrückständen ein.
Hat eine wundersame Geldvermehrung stattgefunden? Nein, die Gemeinde gibt das zurückgelaufene Schwundgeld sofort wieder für neue Arbeiten aus – so laufen die Arbeitswertscheine mehrmals um. Hat der schnellere Umlauf höheren Wohlstand geschaffen? Nein, mit den zur Gemeinde rückfließenden Beträgen verringern sich im selben Ausmaß deren Aktiva: die Steuerforderungen.
Wird durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Wohlstand geschaffen? Hier handelt es sich wiederum um einen keynesianischen Irrtum: Natürlich kann der Wohlstand einer Gesellschaft nicht dadurch steigen, daß „Arbeit geschaffen“ wird, also etwa Löcher ausgehoben und zugeschüttet werden. Nicht von Arbeit, sondern von deren Ertrag leben Menschen. Dieser Ertrag und damit der Wohlstand steigen allein durch Kapitalaufbau. Was passiert in Wörgl? Es wird unter anderem eine Schischanze gebaut und der Ort verschönert. Ein französischer Journalist lobt:
Die Bürgermeisterei - schön restauriert, fein herausgeputzt, ein reizendes Chalet mit blühenden Geranien.
Die Gemeinde hat also nichts anderes getan, als einen Teil ihrer Aktiva (die zugegebenermaßen illiquide waren) für öffentliche Arbeiten einzusetzen. Die Bilanz der Gemeinde hat sich dadurch freilich weiter verschlechtert, heute eingegangene Steuernachzahlungen fehlen morgen. Wurde auf diese Weise Wohlstand aufgebaut, also Kapital gebildet? Es mag am ungünstigen Moment liegen, aber die Investitionen in den Tourismus konnten sich nicht mehr rentieren. Der Tourismus kam bald durch die Hitlersche 1000-Mark-Sperre vollkommen zum Erliegen. Zudem sind politische Ausgaben niemals Investitionen im engeren Sinn: Sie bilden nicht Konsumentenpräferenzen ab, sondern politische Entscheidungen.
Freilich, vorübergehend ist natürlich ein Aufschwung zu beobachten. Zusätzliche Einkommen werden erzielt. Diese stammen aber nicht aus einem geschaffenen Wertzuwachs, sondern tragen Ersparnisse ab oder belasten die Zukunft – müssen also durch spätere Steuern aufgebracht werden. Dem Ende dieses künstlichen Baubooms nach Erschöpfen auch der allerletzten Gemeindemittel kam leider das staatliche Verbot des Freigeld-Experiments zuvor. So konnte das Experiment zum Mythos werden. Dieses Ende war jedoch kurz bevorgestanden. Bereits nach wenigen Monaten drosselt sich der Umlauf des Schwundgeldes deutlich. Der Gemeindesekretär gibt die damalige Einschätzung der Bevölkerung wieder: Die Wörgler haben auch keine recht Freude mehr an dem ohnehin nicht sehr schönen Scheinen … So kreisen sie eigentlich nur noch zwischen der Gemeindekanzlei im ersten Stock und der Raiffeisenkasse im Parterre. Wenn wir Gemeindeangestellten am Ersten unser Gehalt bekommen, dann tragen wir ihn sofort in die Raiffeisenkasse hinunter und wechseln ihn in gutes Geld ein. Dabei müssen wir halt die 2% Abschlag in Kauf nehmen. Die Kaufleute der Nachbargemeinde lehnen das Schwundgeld ab, viele Wörgler sind skeptisch. Gewerbetreibende erkennen die Umlaufgebühr bald als Steuer zu ihren Lasten.
Jene, die ihre Waren mehrmals im Monat in Schilling bei Lieferanten beziehen müssen, etwa Trafikanten, spüren eine erhebliche Mehrbelastung. Mit diesen versteckten Steuern werden jedoch nicht einmal Schulden abgetragen und so die zukünftig nötige Steuerlast reduziert – die Mehreinnahmen fließen in den Konsum.
Eine positive Wirkung kann man dem Experiment jedoch nicht abstreiten: Es hatte für kurze Zeit einen erheblichen psychologischen Effekt. Die kleine Gemeinde war zur Selbsthilfe geschritten, der vorübergehend höhere Konsum schuf die Illusion höheren Wohlstandes, Wörgl stand einen Moment im Mittelpunkt internationalen Interesses, der Konflikt mit der hohen Politik in Wien einte die Wörgler.

GESELL HEUTE: REGIOGELD UND TAUSCHKREISE

Heute gibt es, glaubt man optimistischen Schätzungen, über 4000 alternative Währungen und Tauschsysteme weltweit. Ein großer Teil davon bezieht sich auf Gesells Lehren. Bewähren sich diese also doch in der Praxis? Was erklärt den Erfolg dieser Komplementärwährungen? Für das Bestehen und Florieren dieser Initiativen gibt es drei Gründe – und keiner davon hängt mit Gesells Theorie zusammen:

  1. UMGEHEN VON STEUERLAST UND REGULIERUNGEN
    Der wesentliche Grund, warum sich das Tauschen in kommerzielle Tauschkreisen besser anfühlt als Transaktionen, ist, daß diese meist vollkommen frei erfolgen. Wer tauscht, erhält den vollen Wert, den die Gegenseite anbietet, und muß nicht einen Gutteil des Tauschwertes an einen Unbeteiligten Dritten als abliefern. Würde bei Tauschkreisen die angebotene Leistung oder das angebotene Gut irgendwie bei jedem Tauschakt künstlich vermindert, würde sich die Sache nicht mehr so gut anfühlen. Ständig würden wir den Eindruck haben, übervorteilt zu werden. Da die Steuerlast und Regulierungsdichte die legale Tätigkeit von Kleinunternehmern heute weitgehend verunmöglichen, boomen steuerfreie Alternativen: Nachbarschaftshilfe, Tauschkreise etc.
    Die meisten Tauscher würden diesen schlichten Grund erbost von sich weisen. Doch um den Unterschied zu spüren, muß man sich dessen gar nicht bewußt sei. Entsprechend versucht der Staat schon längst, diese Schlupflöcher zu erschweren und wird dem regen Tauschtreiben eines Tages wohl ein jähes Ende setzen.

  2. REGIONALER BEZUG
    Regiogelder florieren nicht, weil sie teilweise als Schwundgeld ausgelegt sind, sondern trotzdem. Entscheidend ist der kleinräumige, regionale Bezug. Der Mensch ist ein soziales Wesen; regionale Bezüge werten unsere Lebensverhältnisse auf und trotzen der modernen Anonymität ein wenig Menschlichkeit ab. Produkte aus der Region zu kaufen, sich der Vorzüge und Besonderheiten seiner Umgebung bewußt zu werden, entspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Identität. Mit Freiwirtschaft hat dies gar nichts zu tun, wie wir gleich feststellen werden.

  3. KONTROLLE DER INFLATION
    Angesichts der spürbaren laufenden Geldentwertung, die völlig außerhalb der Kontrolle der Menschen zu liegen scheint, ist ein Bedürfnis nach einer Mitbestimmung über das Geldwesen nachvollziehbar. Die Kontrolle über das Geld wiederzugewinnen – dies ist sicher oft unbewußtes Motiv von Alternativwährungen. Schließlich ist die kontrollierte Inflation zumindest absehbar und beschränkt. Dies fühlt sich wesentlich besser an, als auf Gedeih undVerderb intransparenten politischen Entscheidungen der Zentrale ausgeliefert zu sein.

WAS HABEN REGIOGELDER UND TAUSCHKREISE MIT SILVIO GESELL ZU TUN?

Man wird den Eindruck nicht los, daß jene Gründer von Regiogeldern und Tauschkreisen, die sich auf Gesell beziehen, diesen nie gelesen haben. Tauschkreise lehnt Gesell scharf ab: als vorzivilisatorischen, reaktionären Unsinn. Auch regionale Komplementärwährungen widersprechen der Gesellschen Lehre aufs Gröbste. Regionale Bezüge oder gar Protektionismus waren dem Kosmopoliten und radikalen Freihandelsbefürworter Gesell zuwider. Sein Ziel war ein Weltstaat frei umherziehender Menschen – größtmögliche Globalisierung!
Auch der Gedanke des Währungswettbewerbs ist Silvio Gesell vollkommen fremd: „Also entweder staatliches Geld oder überhaupt kein Geld. Gewerbefreiheit in der Herstellung des Geldes ist einfach unmöglich.“ Seine Rezepte sind stets zur globalen Umsetzung vorgeschlagen, ein regionales, sogar nationales Vorgehen erscheint ihm unmöglich: „Der Kapitalzins ist eine internationale Größe; er kann nicht einseitig für einen einzelnen Staat beseitigt werden.“
Mit freien, zivilgesellschaftlichen Initiativen hat er nichts am Hut. Gesell schreibt für die Weltpolitik. Trotz manch anarchischer Sympathien, sieht er den Staat als einzig wirksames Instrument und schreckt dabei auch nicht vor offener Gewalt zurück. Geld ist für ihn ohne Staat undenkbar. Daß er mehrmals auf Lykurg Bezug nimmt, ist kein Zufall. Der spartanische Totalitär zog das Eisen der Waffen stets dem Gold der Münzen vor. So spricht denn Gesell auch vom Krieg als „einzig mögliche[m] Zustand zwischen Rentnern und Arbeitern“. Friede könne es erst geben, wenn „wir diese uralten barbarischen Einrichtungen [u.a. das Grundeigentum] … restlos von der Erde vertilgt haben“. „Die Völker, Staaten, Rassen, Sprachgemeinschaften, religiösen Verbände, wirtschaftlichen Körperschaften“, die seinen Rezepten im Wege stehen, sollen „geächtet, in Bann getan, und für vogelfrei erklärt“ werden. Für den Endkampf zur Durchsetzung seiner Utopie, der ein unausbleibliches „Massengemetzel“ bringen wird, empfiehlt Gesell:
Das Volk muß bewaffnet sein! In jedes Haus gehört ein Gewehr mit Munition. In jedes Dorf gehört neben die Feuerspritze ein Geschütz … Sorgen wir dafür, daß jeder Bürger, jede Bürgersfrau, jeder Knabe, jedes Mädchen bewaffnet sei - bis an die Zähne. Auf die Waffen allein ist wirklich Verlass …
Einmal war es Silvio Gesell beschieden, selbst Politik zu betreiben. Kein friedlicher Währungswettbewerb war die Folge, kein regionales Experimentieren. Als Volksbeauftragter für Finanzen in der Münchner Räterepublik von 1919 ordnete er die Beschlagnahmung aller Sparkassen-
und Bankguthaben sowie eine Enteignung von 75% aller Vermögen an.
Sein „Freiland“- Rezept bedeutet nichts anderes als die gewaltsame Enteignung allen Bodens. Er spricht zwar vom „Kauf“ mittels Staatsschuldscheinen. Daß die Bürger diese„Entschädigung“, die bloß einen Anspruch auf ihre eigenen zukünftigen Steuerzahlungen bedeuten, nicht akzeptieren, ist in seinem Entwurf jedoch schlicht nicht vorgesehen. Aller Boden wird dann vom Staat an den meistbietenden Pächter versteigert, was für Gesell den Vorteil einer gründlichen Durchmischung der Weltbevölkerung brächte, um die Weltregierung zu erleichtern. Die Pachterträge sollen dann vom Weltstaat für Gebärprämien eingesetzt werden, um den Frauen das „Zuchtwahlrecht“ zu ermöglichen. Wie fast alle Utopien erweist sich auch diese letztlich als schlimmster Totalitarismus - im Namen der Freiheit und des Wettbewerbs.

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Arbeite noch etwas an deiner Formatierung.
Mit Markdown kann man seinen Text sehr einfach viel schöner zum Lesen machen.
Glaub mir, die Zeit die du da investiert lohnt sich :)
Greets
ps: Hast du den Text überhaupt selber geschrieben?

Ich bin schon fast 10 Jahre aktives Fördermitglied (Patron und Beirat) des scholarium (früher Institut für Wertewirtschaft) und ja, an den Grundlagen der Ausarbeitung zu Analysen selbst beteiligt. Das Bild im Eingansartikel stammt ebenfalls aus meiner Bibliothek und diente zur Grundlage, wie auch die Lehren von Gesell. Viele Analysen entstehen in Gemeinschaftsarbeit.

Alles klar!
Dann bekommst auch den 100% Upvote ;)
Sorry, hier sind sehr viele Plagiatoren unterwegs..
Greets!

Danke, ist aber im Text auch vermerkt

"Das Scholarium möchte die hier vorliegende Freiwirtschaftslehre, deren Zinskritik und das vorgeschlagene Schwundgeld kritisch überprüfen."

Natürlich.
Trotzdem weiß ich als Leser nicht wer genau das Scholarium ist.
Und ob du die Rechte hast..
Greets :)

Du kannst die Ursprungsanalyse auch als PDF von mir bekommen, oder bei https://de.scribd.com/document/177152622/Kritik-Gesell-Freiwirtschaft herunterladen. Solltest Du diese Analyse als Druckform erwerben wollen, kannst Du diese ebenfalls bei mir oder im scholarium https://scholarium.at/buecher/ umsetzen.

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