Persönlichkeitsentwicklung 012 - Gedanken zum Lernen und zur Lernfähigkeit

in #deutsch7 years ago (edited)

14. Juli 2017

Schon einige Male war ich mit der Frage konfrontiert, wie man am besten und effizientesten lernen kann. Wie man einigermassen rasch in einem Gebiet auf einen hohen Wissensstand kommen kann. Für mich galt in der Studienzeit leider die Maxime «mühsam ernährt sich das Eichhörnchen». Ich brütete zwar fast die ganze Zeit über dem Lernstoff, brachte es aber nur selten fertig, dass dieser wirklich tiefe Spuren hinterliess. Dazu hatte ich ganz am Ende ernsthafte Probleme, überhaupt noch etwas in den Kopf hineinzubekommen. Unter anderem ermahnte mich ein Professor in physikalischer Chemie, ich solle die Dinge, die ich nicht verstehe, wenigstens auswendig lernen. Worauf ich ihm entgegnen musste, dass ich mir noch viel eher etwas Verständnis beibringen könne, als etwas auswendig zu lernen, dafür sei im Moment einfach kein Speicher mehr vorhanden. Das Verständnis seinerseits war ziemlich gering, allerdings war er ein Riesentalent, der sich selber wohl nie in einer ähnlichen Position wiederfand und wenn doch, dann sicher nicht bei Material, das ein Student zu lernen hat.

Rückblickend kann ich zum Studium sagen, dass nicht allzuviel des Lernstoffs wirklich so verinnerlichen konnte, dass ich selbstverständlich damit umgehe. Um in einem Fach wirklich gut zu sein, ist dies aber eine Bedingung. Die Erfüllung der 80/20-Regel, die besagt, dass man bereits mit 20 % des Aufwands auf 80 % Wissen oder Ertrag kommen kann, reicht für ein wirklich profundes Verständnis längst nicht aus. Der Grund, weshalb mir das Erreichen eines hohen Niveaus eher nicht gelang, dürfte vor allem in der zumeist fehlenden praktischen Anwendung liegen. Wenn man Dinge lernt, um sie in der Praxis produktiv anzuwenden, baut man sein Wissen auf zwei Säulen auf, die eine - die intellektuelle - mit dem Verstand, die andere - die praktische - mit den Händen, bildlich gesprochen. Man baut es nicht nur auf der intellektuellen Säule auf, die aus dem Lesen, Verstehen und der intellektuellen Reproduktion von bekannten Inhalten besteht.

Darüber hinaus bin ich ein grosser Anhänger des lebenslangen Lernens und der Ansicht, dass jeder Mensch gewisse Fähigkeiten entwickeln und beackern sollte, die es ihm ermöglichen, sich Dinge selbst zu erschliessen und sich Wissen anzueignen.

Nach meiner Ausbildung wollte ich eine Liste von Fragen abarbeiten, die ich mir während des Studium notierte, aber keine Zeit hatte, ihnen nachzugehen. Das waren vor allem wirtschaftliche Fragen:

1. Finanzkrise; 2. Nichtbestrafung von Banken bei juristisch relevanten Vergehen; 3. keine Gerichtsprozesse gegen Banken; 4. Rettung von Banken; 5. Privilegierung einzelner, die als kapitalistische Deregulierung bezeichnet wird; 6. Rentenkassen, deren Organisation überhaupt nicht zukunftsfähig ist; 7. stets massiv über dem CPI steigende Gesundheitskosten, ohne Produktivitätszwang im Gesundheitswesen.

Damit unmittelbar verbunden sind natürlich politische Fragen. Das Anstellen von Nachforschungen zu diesem Thema war mir also ein Bedürfnis. Wie es für jemanden, der an echter Forschung interessiert ist gelten sollte, muss bei jeder Erforschung von Problemstellungen die Freilegung der Wurzeln sein. Mein Abenteuer führte mich zunächst zu politisch linken Seite, die mir von Studienkollegen und Intellektuellen empfohlen wurde. Nach etwa einem Jahr war ich von diesen enttäuscht und hatte das Gefühl, dass die Kritik vieler Linker eigentlich fehlschlägt. Da sie das vorherrschende System soweit mitgestaltet haben, dass die Probleme, die sie mantramässig vortragen, längst gelöst sein müssten. Also liess ich diese, die ich als Teil des Problems entlarvt zu haben glaube, hinter mir und kehrte zu meinen bürgerlichen Wurzeln zurück. Diese liegen im unteren Arbeitermittelstand in der Schweiz. Da begann ich Literatur über Marktwirtschaft, ehrliches Geld und Unternehmertum zu lesen, wo ich endlich auf viele Inhalte stiess, die mir schlüssig und stringent erschienen. Insbesondere auch Inhalte zum Thema freiheitliche Gesellschaft, Minimalstaat und Eigenverantwortung haben meinen Geschmack sehr getroffen. Diese Entwicklung auf Basis reinen Selbststudiums hätte ich mir zuvor kaum zugetraut und bin deswegen durchaus stolz darauf.

Wie bei vielen anderen Sachverhalten kann auch die Lernfähigkeit als Glockenkurve darstellen (engl. educability oder learning ability). Der von mir schon mehrfach erwähnte Mark Passio hat eine solche in seinem «Natural Law Seminar» [1] erwähnt. Ursprünglich stammt diese vom amerikanischen Psychotherapeuten Steven Paglierani [2]. Dieser hat eine ganze Webseite zum Thema Lernen gestaltet und eine neue Schule der Psychotherapie begründet, die er «Humanistic Emergence» nennt. Darüber hinaus ist er Persönlichkeitstheoretiker und Autor über menschliches Bewusstsein. Um sein Wirken wirklich einschätzen und bewerten zu können, fehlt mir allerdings das Fachwissen, ich kann nur sagen, dass ich die Dinge, die ich bislang von ihm gehört habe, für interessant halte. Die erwähnte Seite habe ich tatsächlich noch nicht durchstudiert.

Die erwähnte Glockenkurve soll zeigen, in welcher Position und mit welcher Einstellung man am besten lernen kann. Die gelernte und hoffentlich verstandene Stoffmenge zeigt sich im Flächeninhalt der Kurve. Warum der Autor der das Wort der Lehrbarkeit (engl. teachability) verwendet, weiss ich nicht, aber es hängt unmittelbar mit der Lernfähigkeit zusammen. Die Perspektive ist aber eine andere, es ist die des Lehrers. Untenstehend ist die Graphik in deutscher Übersetzung zu sehen, allerdings in handschriftlicher Version.

2017-07 Lehrbarkeit Index 2.png
Erklärung zur Kurve. Sowohl links und rechts befinden sich die Bereiche, in denen man schlecht lernen kann. Ganz links ist ein Mensch gar nicht mehr offen für neue Inhalte. Ganz rechts ist er völlig offen dafür, allerdings ist noch keine Wissensbasis vorhanden, mit der er den Wert des Lerninhalts bewerten könnte. Er ist also auf gute Lerninhalte angewiesen und wird sehr wahrscheinlich nicht merken, wenn ihm falsche, unnütze oder schädliche Dinge vermittelt werden. Anhand des Kurvenverlaufs kann man auch erkennen, dass am Anfang, im naiven und leichtgläubigen Zustand das Lernen mit hoher Intensität eigentlich nicht möglich ist. Vor allem deswegen, weil noch kein vernetztes Denken stattfindet und eine effiziente Bewertung und Zuteilung der Inhalte kaum möglich ist.

Das Optimum für rasches und produktives Lernen liegt zwischen Schüler und Lehrer. Damit sind aber nicht nur äusserliche Zustände wie die Berufsbezeichnung gemeint, sondern vor allem die persönliche Verfassung. Es ist der Zustand, in dem man bereits einiges verstanden hat, soviel dass man dies bereits anderen beibringen kann, aber nach oben noch einiges an Luft da ist. Lehrer und Schüler kann man gleichzeitig oder abwechselnd sein, selber beim Lernen aber gleichzeitig auch andere voranbringen und unterrichten.

Dass man mit zunehmendem Lernfortschritt weniger offen und aufnahmefähig für neue Inhalte wird, ist nicht nur schlecht, sondern sehr verständlich. Wer viel verstanden hat, wird sich von einem Novizen, der dem eigenen Wissen entgegenstehendes behauptet, kaum beeindrucken lassen. Allerdings sollte man sich hüten, in irgendeiner Weise dogmatisch zu werden, da alleine die Tatsache, dass man sich in einem Thema gut auskennt, einen nicht davor schützt, selber auch einmal in die falsche Richtung zu gehen. Auch wenn man in einem Thema als erstklassig anerkannt ist, heisst das noch lange nicht, dass das auch für andere Themen und Gebiete gilt. Da müsste man es eigentlich selbst genau wissen. Im eigenen Spezialgebiet wurde man auch nicht durch Herumsitzen und Nichtstun zum Sachverständigen und gefragten Experten, sondern indem man sich wirklich angestrengt hat, ein hohes Niveau zu erreichen, welches einem ermöglicht, Kunden zufriedenzustellen.

Ähnlich interessant wie die Glockenkurve präsentierte sich mir auf Steven Paglieranis Webseite [4] eine Graphik zu Lehrbarkeitszyklen. Paglierani hat darin nämlich formuliert, dass man die Glockenkurve der Lehrbarkeit keineswegs linear von rechts nach links durchläuft. sondern dass das auch spiralförmig geschehen kann.

2017-07 Lehrbarkeit Spirale 2ed.png
Graphik der Lehrbarkeitszyklen. Der grüne Zyklus beginnt bei naiv, der rote bei überheblich, arrogant. Beides Zustände, in denen effizientes und intensives Lernen kaum möglich ist. Das Ziel muss also sein, in die Mitte zu gelangen. Der grüne Zyklus liest sich folgendermassen:

  1. naiv - 2. überheblich, arrogant - 3. leichtgläubig - 4. zynisch - 5. vertrauensvoll - 6. skeptisch - 7. Schüler, Lehrer

Der rote:

  1. überheblich, arrogant - 2. naiv - 3. zynisch - 4. leichtgläubig - 5. skeptisch - 6. vertrauensvoll - 7. Lehrer, Schüler

Wer bei «überheblich, arrogant» beginnt, ist schon am Anfang mit der Schwierigkeit konfrontiert, die nötige Offenheit gegenüber Lehrinhalten und Lehrern hervorzubringen. Das kann sehr schwer sein. Das war bei mir in meiner Schul- und Ausbildungszeit kaum je der Fall. Allerdings musste ich zwei Dinge konstatieren. Erstens, dass ich von Beginn meiner Schulzeit das systematische Lernen auch von trockener Theorie dem spielerischen Lernen vorgezogen habe. Zweitens halte ich es auch für eine Tatsache, dass viele Lehrpersonen auch wenig brauchbares von sich geben, insbesonders wenn es über ihre Fachbereiche hinausgeht. Ihnen allzuviel Vertrauen zu schenken, ist eher ein Fehler als hilfreich, es sei denn man hat es wirklich mit jemandem zu tun, der das Vertrauen wirklich verdient. Insbesondere wenn es um die Chancen ihrer Schüler und Studenten in Zukunft geht, scheinen sich nicht wenige Lehrer immer wieder in grösserem Masse zu täuschen.

Deswegen suche ich mir seit dem Ende meiner Ausbildung die Leute selber aus, von deren Ihnhalten ich mir einen Fortschritt erhoffe. Mich in naher Zukunft noch einmal in eine Bildungsinstitution zu begeben, in der mir Lehrer einfach zugeteilt werden, kann ich mir gegenwärtig kaum vorstellen. Vor allem wenn ich Menschen als Lehrer annehmen müsste, die von individueller Freiheit und Eigenverantwortung wenig bis gar nichts halten und für mich reine «Systemdenker» sind, wären Schwierigkeiten vorprogrammiert. Unter «Systemdenker» verstehe ich nicht jemanden, der ein bestehendes System gut verstanden hat und darin funktioniert, sondern jemanden, der so damit verhaftet ist, dass für ihn kaum mehr etwas anderes denkbar erscheint. Das sind für mich religiöse Dogmatiker.


[1] Natural Law Seminar. Slide 9/291, Mark Passio, 19. Oktober 2013, Omni Hotel in New Haven CT. http://www.whatonearthishappening.com/videos
[2] "What Kills the Love of Learning?" Part 1 - The Teachability Index. On Education and Learning, Page 12/30, Steven Paglierani http://theemergencesite.com/Tech/FourStates-of-Learning-Wk061009.htm
[3] http://theemergencesite.com/Intros/Emergence-Contacts.htm
[4] "What Kills the Love of Learning?" Part 3 - the Cycle of Teachability. On Education and Learning, Page 14/30, Steven Paglierani http://theemergencesite.com/Tech/FourStates-of-Learning-Wk061023.htm


Bisherige Posts in der Rubrik «Persönlichkeitsentwicklung».
Übersicht über alle Rubriken.

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Vielen Dank für den Post!
Das Lernen interagiert ja mit der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Und in diesem Bereich möchte ich auf Vera F. Birkenbihl (die leider bereits verstorben ist) und auf Louis Howes, mit seiner School of Greatness hinweisen.
Von Frau Birkenbihl gibt es sehr informative und unterhaltsame Vorträge auf YouTube, von Louis Howes gibt es einen Podcast mit Interviews zu "Lebensthemen".

Danke für den Kommentar und die Empfehlungen!
Vielleicht komme ich in naher Zukunft dazu, momentan schaue ich mich gerade in dem Material von Prof. Jordan Peterson um, der in Kanada im Namen politischer Korrektheit stark angegriffen wird.

Ich hoffe, dass an dem Material erkannt wird, dass ich ein Laie bin und selbst ein "Work in Progress" und zwischendurch darüber schreibe.

Ansonsten noch ein herzliches Willkommen bei Steemit. Wie ich gesehen habe, wurdest du von den deutschsprachigen Top-Usern schon gefunden. Ich würde das Tag "deutsch" bei jedem deutschsprachigen Post verwenden, so dass er im Feed erscheint.

interessanter Beitrag

Danke für den Kommentar!

Danke für den Kommentar!
Da mein Artikel um das Lernen und Persönlichkeitsentwicklung geht, ist das Finden von Freunden nicht völlig weg vom Thema. Aber mir reichen im Moment meine 265 Follower bei steemit. Die sollen mir freiwillig folgen, weil sie meine Inhalte mögen. Umgekehrt halte ich es genauso.

Dir noch guten Erfolg auf steemit, aber bitte mit guten Artikeln, nicht mit Netzwerkspielereien.

You should also include an English translation at the end of the article @saamychristen

Thank you for the comment!
At the moment I share most of my material in German language with the tag «deutsch», which means «German». After some training I am able to write an article of this length within about 2 hours.

An English translation would take additional hours of work. In order to be fast enough as well in English I still need some exercising. Probably I would do reposts, bilingual articles make sense as long as they are short or contain more pictures and graphics than text.

Well done post thanks for sharing

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