Neues aus dem „B-ley“

in Deutsch Unplugged11 months ago (edited)

Neues aus dem „B-ley“

Zwischen „Alte Försterei“ in Köpenick und „Alte Weberei“ in Cottbus steht fernab der Zivilisation eine Halle, von der gesagt wird, sie sei die Halle mit dem größten freitragenden Dach der Welt. Daneben ist ein Musik-Schuppen der besonderen Art mit dem Namen „Neues B-ley“, ein Heavy Metal Club. Manche meinen daher, der Name deute auf das schwere Metall „Blei“, andere aber denken an den Jazz-Club „B-flat“, noch andere an „Schwur-B-ley“ oder an „B-ley-digung“. In diese Richtung deuten nämlich überwiegend die Texte derjenigen Bands, die sich dort die Klinkenstecker in die Guitarren (sprich: Gu-itarren) drücken.

Wie dem auch sei, Rezensent war im „Neuen B-ley“ und hörte dort die „CO2-Videoten“, die ihre neue Scheibe „Songs of Hate and Leif“ vorstellten. Im Vorprogramm spielten zuerst noch „Die Klimaversteher“, eine Folklore-Truppe, einige Zugaben zu ihrem Programm „Shades Beyond the Colours“. Um es vorwegzunehmen: Rezensent verließ den Club leicht verwirrt bis sehr verstört.

„Die Klimaversteher“ eröffneten mit einem ganz neuen Song: „Disrupt Disrupting Disruption“. Trotz des englischen Titels ist der Text auf Deutsch, und er handelt vom Kampf zwischen El Ninho und La Ninha, zwei tropischen Ozeanriesen, von denen der eine allergisch ist gegen den Rauch von Waldbränden. Das Intro zweier akustischer Gu-itarren beruht deutlich erkennbar auf dem Präludium XXII b-moll aus Bachs Wohltemperierten Klavier, Band 1, und von dort wechselte der Song durch ein Signal vom Dudelsack brutal und übergangslos nach E-dur. Das ist Symbolismus plakativster Art, das Markenzeichen der „Klimaversteher“. Im Text reimt sich dann ja auch „womit ich meine Zeit verschwende“ auf „bis zur nächsten Zeitenwende“, „wir streichen um die Seitenwände“ auf „Meere brauchen kein Gelände“, eine sinnfreie Permutation von Silben zur Verdeutlichung der Beliebigkeit von Inhalten.

Das Lied „Atmosphères“, in französischer Schreibweise zur Anspielung auf den Komponisten György Ligeti, bringt wie in dessen Gewebe aus Mikro-Intervallen die interagierenden Schichten und Bestandteile der Luft zu Gehör, indem der von Vokalen befreite und leicht dadaistisch anmutende Text mit den Lauten „f“, „s“, „sch“, „h“ (aspiriertes h, h aspiré) so lange herum spielt, bis entleerte Lungen und von allen Treibhausgasen verlassene Dudelsäcke in ein Ohren-ergreifendes Waschbrett-Solo kollabieren. „Atemnot in der Nacht“ mit seiner radikal gesellschaftskritischen Zeile „Du kannst mich mal in der Mitte kneifen“ folgte attacca, also ohne Pause direkt angeschlossen. Der Sänger wand sich dazu wie ein Wurm auf der Bühne liegend, Kollaps total.

Mit ihrem Song „Ich sinke in den Rhein“ (zur Melodie von „I’m singing in the Rain“) über Hamburg als das neue Venedig beschlossen „Die Klimaversteher“ ihren Auftritt. Dass Hamburg gar nicht am Rhein liegt, spielt in solch großartiger Narration keine Rolle, denn wer will schon einen Song hören über Düsseldorf oder Rotterdam? „Ich sinke in den Rhein“ endet mit ergreifenden a-cappella-Gesang, zuerst 4-stimmig, dann 3, dann 2… in der reziproken Reihenfolge der Unterlippenhöhen. Bei „Knorkator“ wäre also Stumpen als Erster raus gewesen, aber Köpenick liegt ja an Spree und Dahme, also keine Gefahr.

Rezensent erlaubt sich nicht ohne Grund diese kleine Abschweifung. Es gab eine kleine Umbau-Pause auf der Bühne im „B-ley“, während derer von der Video-Wand „Zeig mir den Weg nach unten“ dargeboten wurde. Der ideale Übergang zum nächsten Act.

Fulminanter Einstieg der vom Publikum frenetisch begrüßten „CO2-Videoten“ war ihr Knaller „Null CO2 – bist du dabei?“, dessen Text aus nichts anderem besteht als aus der 50-mal wiederholten Frage. Die Lead Guitar zerhackt dazu die Melodie aus „Fifty Ways to Leave Your Lover“ in der Manier von Jimi Hendrix’ Interpretation der amerikanischen Nationalhymne, während Bass und Schlagzeug mehr oder minder unabhängig davon Reminiszenzen an Led Zeppelins „Kashmir“ intonieren. Beide Songs erschienen 1975, unnötig zu sagen: das ist in Kürze fünfzig Jahre her. „O-O-O, let the sun beat down upon my face!“ wurde damit Robert Plant zitiert, eine makabre Anspielung auf die Ozon-Krise. „I′d like to help you in your struggle to be free“, sang hingegen Paul Simon und bezog sich damit auf eine toxische Beziehung. Beides muss man unbedingt im Sinn behalten, um die ganze Wucht von „Null CO2 – bist du dabei?“ interpretieren, ja vielleicht sogar verstehen zu können: Dieser Song ist auf höchst komplexe Weise anti-affirmativ.

„Die H-Bombe“, das nächste Stück im Setting, thematisiert dagegen aktuellste deutsche Wirtschaftspolitik, und im Text wird aus „Minister“ „Ministrant“, aus „Wirtschaft“ „Kneipe“ und aus „Bombe“ „Sahne“. Das Publikum hatte augenscheinlich viel Spaß an der Vorstellung, wie ein Messdiener in einer Berliner Eck-Kneipe H-Sahne zapft, und johlte den Refrain mit: „Kernkompetenzen sind rar / Niemals klang dies je so wahr! Erst lassen sie dich nicht ran / Aber dann, aber dann!“ Folgerichtig kam als nächster Song „Drag on, Fly“, in dessen Text eine Libelle sich als Dragqueen verkleiden möchte und per drag & drop in einer ganz anderen Geschichte aufwacht, wo zur Harmonik von „Happy Nation“ eine Coronation inszeniert wird mit Co-Davit XIX als Beherrscher der nicht nur britischen Empiristen. Rezensent kann die Fülle der Wortspiele hier nur andeuten, den ganzen Text finden geneigte Leser sicherlich im Fangnetz der Sohschel Miedija.

Den fulminanten Abschluss des Konzerts im „B-ley“ bildete ein AI-arrangierter Gastauftritt von Michael Holm. Ein Medley aus „Shalalalah oh-oh-oh/ Wie der Sonnenschein“, „Tränen lachen nicht“ und „Mendocino/ Großes Kino“ vereinten Ozon-Problematik, Hochwasser-Allegorie und fossile Brennstoffe zu einem zündenden Zweitakt-Gemisch, in dessen Verlauf O3, H2, H2O, NaCl und CO2 sowie eine namenlose Dame „an der Straße“ ungeniert und unverbleit die Hirne penetrierten. Auch der reanimierte Dudelsack der „Klimaversteher“ nahm an dieser Allianz der CO2-Videoten Teil. Rezensent rettete sich ins Freie.


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 11 months ago 

 11 months ago 

Hihi! Hihihi! Hihihihi!

Geistreicher fällt mir dazu gerade nix ein ;-)))

 11 months ago 

Na, dass war dann ja offensichtlich ein gelung... äh, überraschender Abend für den Rezensenten :-))

 11 months ago 
 11 months ago 

Gibt eben nix, was es nicht gibt ;-))

 11 months ago 

Hihi!

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 11 months ago 

;-))

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