Ein kleines Brainstorming zu einem Gedicht von Rilke | A little brainstorming on a poem by Rilke

in Deutsch Unplugged2 years ago

Ein kleines Brainstorming zu einem Gedicht von Rilke:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen


Trigger-Warnung
Es geht mir im folgenden keineswegs darum, die klassische Frage (die wohl von Reich-Ranicki stammt und von Deutschlehrern allzu häufig zitiert wurde) zu verfolgen: "Was will uns der Autor damit sagen?"
Wen aber eine Reflexion über einen Text dennoch zu sehr an leidvolle Deutschstunden erinnert, der oder die möge hier das Lesen abbrechen.


Texte, insbesondere lyrische Texte, sind meist nicht auf den allerersten Blick zu erschließen, das ist in meinen Augen Teil ihres inhaltlichen Zaubers. Insofern kann ich auch von mir sagen, dass ich Ambivalenz, also das Spannungsverhältnis aus der Mehrdeutigkeit, durchaus schätze. Gegenüber Rilke habe ich allerdings seit meiner Jugend Vorbehalte, das ist teilweise seinem Stil geschuldet, teilweise seiner Zeit, teilweise meiner eigenen Auffassung von Formung und Verfremdung, von Verrätselung und vom Öffnen von Horizonten (auch der eigenen) beim Schreiben eines Poems. Welche Metaphern, welche Bilder, welche Klangfarben mag ich - welche nicht?

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

(Rilke, 1899 - möglicherweise entstanden in Berlin-Schmargendorf)

Im vorliegenden Gedicht von Rilke nehmen mich die "wachsenden Ringe" als Bild von vornherein mit; darin schwingt mir ein angenehmes, ein lebensbejahendes Bild. Über die in der zweiten Zeile erwähnten "Dinge" bin ich jedoch gestolpert, und das lag daran, dass ich die "Ringe" zuerst auf das Wachstum von Bäumen (Jahresringe) bezogen habe. Das legt die dritte Zeile nahe, schien mir. Wie aber sollte ein Baum seine Ringe über Dinge legen?

Ich entdeckte dann andere Möglichkeiten (und im Gegentum zu Deutschlehrern ist es mir relativ wurscht, ob das der Autor im Sinn hatte), und eine davon ist, an solche Ringe zu denken, die sich auf einer Wasser-Oberfläche ausbreiten, wenn - beispielsweise - ein Tropfen oder ein Felsbrocken hineinfällt. Dann ziehen sich die Ringe tatsächlich auch über Dinge, nämlich über die Oberfläche des Wassers, über Kleinigkeiten oder größere "Dinge", die darauf schwimmen. In diesem Bild breite ich mein Leben aus über immer mehr Gegenstände und Einflussbereiche meiner Umwelt, und ich ziehe sozusagen Lebenskreise. Ich wachse nicht als Baum, sondern breite meine Energie, meine Kräfte aus auf einer Oberfläche von etwas, dessen Teil ich bin (als Tropfen) oder dem ich fremd gegenüber stehe (als Stein im Wasser).

Die Frage, ob Rilke das so gemeint haben könnte, kehre ich um in die Frage, ob er es ausgeschlossen, abgelehnt, verboten hätte, seinen Text, sein Bild in dieser Weise aufzufassen. Und ich halte es für denkbar und möglich, dass der Dichter uns Lesern mehrere Möglichkeiten offen lässt, seine Zeilen zu verstehen.

Soweit könnte ich den ersten Vers in sich stimmig aufnehmen. Dann aber strauchele ich über den zweiten, und darin abermals über die zweite Zeile: „jahrtausendelang“?! Welches Ich umkreist denn irgendwas so überlang? Ist das ein Individuum? Oder kann ich mir hier eine Art Menschheits-Ich denken? Die Menschheit oder doch große Teile davon umkreisen den Gottesgedanken in der Tat seit Jahrtausenden. Und wäre Gott ein Turm, so weiß sie bis heute wohl nicht: wohnt sie in diesem Turm, ist er ihr Zuhause (als Falke)? Oder rüttelt sie daran, reibt sich daran, will den geschaffenen Turm wieder umwerfen (als Sturm)? Oder formt sie in all ihrer Widersprüchlichkeit einen großen Gesang (wie in der „Ainulindalë“, der Musik der Ainur, die sich Tolkien als seine Version des Schöpfungsmythos ausgedacht hat)?

Jetzt ergeben sich mir weitere Fragen an den Text von Rilke: Ist das Ich im ersten Vers auch schon ein solches Vielfach-Ich? Und wie kommt dieses (oder wie gelange ich) von den wachsenden Ringen zum Kreisen um den Turm?

Wenn ich das Ich des ersten Verses rückwirkend als vielfaches Menschheits-Ich nehme, dann wandelt sich für mich der optimistische, lebensbejahende Ton in einen skeptischen: ich sehe, wie die Menschheit über alles ihre wachsenden Ringe zieht und nichts unberührt zu lassen vermag, was in ihre Reichweite gelangt. Und wenn sie dabei auch noch gegen jenen Turm tobt, welcher ihr dazu von ihr selbst erbauter Orientierungspunkt sein könnte im Suchen nach dem Wahren und vor allem nach dem Guten – dann wird mir Rilkes Text auf einmal erschreckend aktuell.

An dieser Stelle bleibt für mich immer noch offen: wie gelange ich lesend und mitdenkend von den wachsenden Ringen zum Kreisen um den Turm? Ist da ein Bruch, ist der Bruch für sich wieder bedeutungshaltig? Oder gibt es einen kontinuierlichen, einen verbindenden Übergang von Vers 1 zu Vers 2?

Kommentare und vor allem Antworten zu diesen Fragen erwünscht!

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Foto: ty-ty

A little brainstorming on a poem by Rilke:
I live my life in growing rings


Trigger warning
In what follows, I am in no way interested in pursuing the classic question (which probably originated with Reich-Ranicki and was all too frequently quoted by German teachers): "What is the author trying to tell us?"
But if a reflection on a text nevertheless reminds you too much of painful German lessons, you may want to stop reading here.


Texts, especially lyrical texts, are usually not accessible at first glance; in my eyes, that is part of the magic of their content. In this respect, I can also say that I appreciate ambivalence, that is, the tension arising from ambiguity. However, I have had reservations about Rilke since my youth, partly due to his style, partly due to his time, partly due to my own conception of shaping and alienation, of puzzlement and of opening horizons (including my own) when writing a poem. Which metaphors, which images, which timbres do I like - which not?

I live my life in growing rings,
that stretch across things.
I may not be able to complete the last one,
but I will try.

I circle around God, around the ancient tower,
and I circle for millennia;
and I do not yet know: am I a hawk, a storm
or a great song.

(Rilke, 1899 - possibly written in Berlin-Schmargendorf)

In the present poem by Rilke, the "growing rings" take me along as an image from the beginning; in it, a pleasant, a life-affirming image resonates for me. However, I stumbled over the "things" mentioned in the second line, and that was because I first related the "rings" to the growth of trees (annual rings). That's what the third line suggests, it seemed to me. But how should a tree put its rings over things?

I then discovered other possibilities (and unlike German teachers, I don't really care if that's what the author had in mind), and one of them is to think of such rings spreading out on a water surface when - for example - a drop or a rock falls into it. Then the rings actually stretch over things too, namely over the surface of the water, over small things or larger "things" that float on it. In this image, I spread my life over more and more objects and spheres of influence in my environment, and I draw circles of life, so to speak. I do not grow as a tree, but spread out my energy, my powers on a surface of something of which I am a part (as a drop) or to which I am a stranger (as a stone in the water).

I turn the question of whether Rilke could have meant this in this way into the question of whether he would have excluded, rejected, forbidden his text, his image, to be understood in this way. And I think it is conceivable and possible that the poet leaves several possibilities open for us readers to understand his lines.

So far I could take the first verse coherently. But then I stumble over the second, and in it again over the second line: "for millennia"?! What kind of ego circles around something for so long? Is this an individual? Or can I think of some kind of humanity ego here? Humanity, or large parts of it, have indeed been circling the idea of God for millennia. And if God were a tower, we probably still don't know: do we live in this tower, is it our home (as a hawk)? Or do we shake it, rub against it, want to overturn the created tower again (as a storm)? Or do we form a great song in all our contradictions (as in the "Ainulindalë", the music of the Ainur, which Tolkien came up with as his version of the creation myth)?

Now I have further questions about Rilke's text: Is the self in the first verse also already such a multiple self? And how does this (or how do I) get from the growing rings to the circling around the tower?

If I take the self of the first verse retrospectively as a multiple human ego, then for me the optimistic, life-affirming tone changes into a sceptical one: I see how humanity draws its growing rings over everything and is unable to leave anything untouched that comes within its reach. And when it rages against the tower that could be its own point of orientation in the search for the true and above all for the good - then Rilke's text suddenly becomes frighteningly topical for me.

At this point, it still remains open for me: how do I get from the growing struggles to the circling around the tower while reading and thinking? Is there a break, is the break meaningful in itself again? Or is there a continuous, a connecting transition from verse 1 to verse 2?

Comments and especially answers to these questions welcome!

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 2 years ago 

Ich war ja so sicher, daß Du Dich hier vor Kommentaren nicht retten kannst...

Für meine Begriffe ging es ja um das sprichwörtliche: ich ziehe meine Kreise... Je länger ich das tue (und je monotoner sie ausfallen), desto mehr decken sie auch Vergangenes zu. Daß der letzte Kreis, zu dem man imstande sein wird, vielleicht nicht (ab-)geschlossen werden kann, liegt in der Natur unserer Vergänglichkeit.

Der Turm... Wir alle kreisen "um" irgendetwas. Unsere Wünsche, Ideen, Philosophien. Wenn Du Gott als Teil von all dem verstehst, drückt der Rest nur noch die Suche nach der eigenen Wertigkeit, der eigenen Rolle in dem ganzen System aus.

 2 years ago 

Das würde bedeuten, die Redewendung vom Ziehen seiner Kreise hätte keinen weiteren Hintergrund, sei nicht selbst eine metaphorische Redeweise.

Was also würde "ich ziehe meine Kreise" bedeuten? Ich gehe wie ein Pferd an der Longe? Und umkreise dabei Gott, den uralten Turm? Frage mich aber nicht, ob ich Tinker oder Andalusier oder Shirehorse bin, sondern Falke, Sturm oder Gesang? Wohl nicht...

Mir scheint, eine solche Lesart müsste ferner "jahrtausendelang" einfach ignorieren und würde letztendlich aus Rilkes Zeilen die Poesie tilgen.

 2 years ago 

Nun ja... Jahrtausendelang kann und dürfte metaphorisch gemeint sein - wir haben gefühlte hundert Jahre Pandemie hinter uns (oder vor uns...?) und die Dimension "Jahrtausende" spricht für mich von unendlicher Ödnis und Frustration. Kreise ziehen, ohne Sinn dahinter zu sehen... Wenn Du einen Vergleich willst, dann eher den mit dem Pferd oder Esel am Göpelwerk...

 2 years ago 

Du meinst, gar nicht Rilke hat das geschrieben, sondern der Panther?

 2 years ago 

Rilke hat sich in vielerlei Hinsicht ähnlich gefangen gefühlt wie der beschriebene Panther... Meinst nicht?

 2 years ago 

Nein, diesen Eindruck hatte ich bisher keineswegs.

 2 years ago 

Nicht... Ich dachte nur. Als Mädchen aufgezogen, von der Militärschule verschreckt, lebenslang Beziehungen zu sehr viel älteren - mütterlichen - Frauen, jahrelanges selbstgewähltes Verstummen, Traumata,... Klingt für mich gezwungen / gefesselt / gefangen. Und seine Texte sprudeln nicht über vor Launigkeit und Frohsinn...

 2 years ago 

frühe Fotografien zeigen ihn mit langem Haar im Kleidchen

Das gab es auch als norddeutsche Tradition, um böse Geister in die Irre zu führen, welche mehr Jungs als Mädchen in die Kindersterblichkeit hinein zogen.

 2 years ago 

Ich halte ihn für einen Anhimmler, daher diese Beziehungen.

 2 years ago 

Das BaumEnde wächst an der RindEnden , ich dachte die Mitte wächst , hihi .

Ja , voll , voll rein gesahnt hat R. in die Bilder, die damals modern waren , und die ja noch viel extensiver später auch verwendet wurden , sodass wir im Heute sie immernoch fassen können , automatisch .
Die WirkUng ist aber anders geworden , wegen der WisseNsChaft , GesChÏcHte , und deren "EntwÏcklUngen" .

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 2 years ago 

#CHOZ , diese GefÜhlereÏen , die die dann damals wohl dazu hatten mit alles so groß und so .
Das->

: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
kann wech´, dann geht´s das Ding, ja , hihi .

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 2 years ago 

Mag sein, dass das der Zeit geschuldet ist, oder der Jugend des Dichters.
Doch ich denke ja, dass dieses "Ich" weder sein eigenes Ego meint noch ein anderes Individuum. Zumindest sehe ich Hinweise darauf, und im Gegenzug finde ich keine Hinweise, die es mir verbieten, das so zu lesen.

 2 years ago 

Immerhin hatte R. wohl ein auch ein #ES ???

Hihi, die TheatRalÏk , die so Gedicht haben musstete, weil dieses ja eigentlich gesprochen werden solltete , haben nicht einmal die DaDaÏsten verschmäht , aber damals , da musste DichtUng grosartig sein.
Also hat #Es R. gelobt , indem #Es das "GrosartÏge entferte , indem #Es nur den letzten Satz entfernte , ja .

Jaja, und heute ?
#Es weis nicht , wie das bei AndeRen ist , aber #Es liest vokal , und so trägt #Es #Sich gLesEneS so vor , als wäre es gesprochen , hmm , deshalb ist für #Es das Coden so anders , weil dort der Klang der WortEnden keine Rolle spielt für das BegreÏfen ... .

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 2 years ago 

declare myObject as New Object
declare var returnValue as long integer
If... Then... Else... End If
While... Wend
For Each... End
returnValue equals Function blablablubb(with these parameters)
set myObject NOTHING

Also, für mich klingt das.

 2 years ago 

#BABYLON5 #SATRAS
Hihi , jaja, wieder ´mal fein #Es´s #Es´ÏgkeÏt auf das LeÏmeNde getipperiert , weil #Es ja nicht davon tippte , dass diese WortEnden nicht klangelingieren würdeten .
Und so #Es darüber sinniert benutzt #Es auch den Klang , um #Sich zurecht zu finden ?
Dann hatte #Es Lust Code zu zitieren.
Und dass "wir" jetza hier beim #CODE gelandet sind , hihi , aber da war doch noch ein Punkt gewesen , wegen dem VergLeÏch mit PoesÏe.
Genau daneben hatte #Es wieder geschossen , um eventuell drauf zu kommen darüber nach zu sinnen poetich zu coden ?
Nee , ein imageflip( $Bild , FLIP_IT_THIS_WAY ); ist immer eine Zeile für sich .
Und so eine BedÏenuNgslOgÏk wie rechts ... .
Ja , wenn #Es #Sich das durchliest , dann sind alle Wörter klanglos , nicht tonlos , das Gehirn versucht "VerarbeitungsTitel: " nicht zu vokalisieren, weil es keine vokale Äusserung ist ?
'Projekt' und 'Sojekt' allerdings bedeuten #Es ´was und werden vokalisiert gelesen.
Ja , seltsam , und das tropsehm "VerarbeitungsTitel:" in derBenutZung des #SCRIPTCHENS dann wieder vokalisiert verwendet wird , von #Es als UseNdem .
Hihi #ALLSESKLAA , danke für den HinweÏs , da wird #Es ´mal drüber ... , ...

#FINDTHEBUG :
<?php if($_POST['Projekt'] || $_POST['Projekt']){ echo "VerarbeitungsTitel: " ; if(!$_POST['Projekt']{ echo "<input type='text' name='Projekt' size='12' maxlength='27' value='" . $_POST['Sojekt'] . "'></input>" ; echo "<input type='hidden' name='Sojekt' value='" . $_POST['Sojekt'] . " ' </input>" . $_POST['Projekt'] . "</br>" ; } if(!$_POST['Srojekt']{ echo "<input type='text' name='Projekt' size='12' maxlength='27' value='" . $_POST['Projekt'] . "'></input>" ; echo "<input type='hidden' name='Sojekt' value='" . $_POST['Projekt'] . " ' </input>" . $_POST['Projekt'] . "</br>" ; } } if($_POST['Optwahl'] == "Testo"){ echo "<input type='hidden' name='Projekt' value='leer' </input>Projekt</br>" ; echo "<input type='hidden' name='Sojekt' value='leer' </input>Sojekt</br>" ; }?>

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 2 years ago 

If(!$myInputType=='Hidden'{ echo "gerne"; alert("gerne") })

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