Eine freie Gesellschaft braucht ein Fundament. Teil 3

in #freie-gesellschaft5 years ago (edited)

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Hat das Ich zwei Seiten? Gibt es einen Dualismus beim Ich? Schauen wir nach, was darunter verstanden werden kann. Schauen wir was es damit auf sich hat.

Welche Art des Daseins hat mein Ich im Unterschied zu anderen Arten des Daseins dieser Welt? Wie lässt sich dieses Vorhandensein begrifflich fassen? Manche Leser könnten bei der Kenntnisnahme der darauf zu gebenden Antworten die für sie überraschende Entdeckung machen, dass sich ihr eigenes Sein nicht nur auf einer Ebene abspielt. Allerdings führt der Gang hin zu dieser Entdeckung über ein Terrain, das unwegsam ist. Jetzt wir er esoterisch könnte man meinen, nicht zu vorschnell Urteilen. Abwarten, es ist weit davon entfernt.

Das Ich ist den aufwachsenden Menschen zunächst völlig unbekannt. Wenn sie im Kleinkindalter über ihre Aktivitäten sprechen, sagen sie anstelle von „ich“ ihren Namen: Erna spielt, Egon rennt, Maria weint usw. Irgendwann beginnen sie zu sagen: Ich spiele, ich renne, ich weine. Und sie lernen vor allem zu sagen: „ich will“ und „ich will nicht“!

Wir beobachten: Jetzt bezieht das Kind die Geschehnisse ausdrücklich auf sich als seinem ureigensten spontanen Zentrum. Vielleicht erlebt das Kind sich schon vorher als Quelle seiner vitalen Aktivitäten. Aber mit dem Ich-Sagen kommt das Erlebnis der Eigenspontanität zur Sprache und wird damit symbolisch (als Wort) vergegenständlicht.
Es wird als Wort sichtbar. Das Wort ich als Symbol des sich selbst erleben.

Das Kind hat fortan sein Ich, sein eigenes Ego ausdrücklich und wird zum - - Ego-Isten.
Wer mit dem Wort „Egoismus“ etwas Unvernünftiges oder gar Bösartiges am Menschen benennen will („das Ich, dieser dunkle Despot“), dem bleibt dies unbenommen. Er muss hinnehmen, dass er sich damit vom ursprünglichen Wortsinn arg entfernt hat. Der Sinn des Wortes Egoismus ist schlicht und wertfrei „Ichigkeit“, „Ichgerichtetheit“, „Bei-sich-selbst-sein“ und nicht etwa Übervorteilungssucht, Ellenbogengebrauch oder Ähnliches.

Das Kind erlebt das Ich zwar als sein eigenstes, aber es erfährt auch, dass es damit etwas hat, was die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung gleichfalls haben. Denn es beobachtet: auch die anderen sagen stets „ich“. Alle haben dieses Ich offenbar gemeinsam. Und dennoch meinen sie allein sich selbst, wenn sie immerfort sagen „ich, ich ich…“. Mit dem Ich-sagen meint zwar jedes Ich nur sich selbst, aber es taucht damit zugleich in die Sphäre des Wir ein, eines Wir allerdings, das mit dem Gruppen-Wir des körperlichen Zusammenseins nichts zu tun hat (hierzu mehr im nächsten und übernächsten Beitrag).

Aufgrund der Beobachtung der Entwicklung unserer Kinder wissen wir: Das kindliche Ich-Sagen ist ganz und gar unreflektiert. Es geschieht in einer Weise, die mit einer bewussten Ich-Habe nichts zu tun hat. Es basiert auf einem diffusen Ich-Erleben. Mag sein, dass sich diese Diffusität bei Vielen von uns über das ganze Leben hin durchhält.
Der Mensch ist das einzige Wesen, das „ich“ sagen kann. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er sich (mehr oder wenige bewusst) als Spontanzentrum seiner Aktivitäen erlebt.

Mit fortschreitender Geistesentwicklung kommt dem Individuum zu Bewusstsein, dass sein Ich wohl zweimal da sein muss: einmal als wahrnehmbare Sache (Körper, Gefühle, Charakter usw.) und zum anderen als ein Etwas, von dem zwar unser unüberhörbares Ich-Sagen Kund gibt, zum Ausdruck bringt, das wir aber vorstellungsmäßig nicht erfassen können.

Das ist ein erstaunlicher und verwunderlicher Sachverhalt. Immanuel Kant, der diesbezüglich als unser hilfreichster Gesprächspartner gelten kann, hat diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht. Er unterscheidet die beiden Aspekte des Ich-Bewusstseins zum ersten Mal in aller Klarheit. Er war es auch, der dafür die beiden Begriffe „empirisches“ (erfahrbares) Ich und „intelligibles“ (nicht erfahrbares, „reines“) Ich in die Theoriediskussion einbrachte. Das „intelligible Ich“ ist eigentlich gemeint, wenn wir ständig „ich“ sagen (ich tue, ich rede, ich vermeide) und uns dezidiert als Ich, und zwar als Ich-Person, und nicht als Ich-Habitus (Leib) meinen. Wenn ich in Folgendem von Ich spreche, meine ich stets das „intelligible Ich“, das Ego.

Wie ist die eigenartige Dualität des Ich genauer zu verstehen?
Das Ich als Spontanzentrum unseres Lebens ist wohl Inhalt einer Erlebnis- und Bewusstseinsform, nicht aber Gegenstand einer Erkenntnisform. Nach Kant ist es „eine gänzlich leere Vorstellung…von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, dass alle Begriffe begleitet.“

Das Ich ist ein physisches Nichts. Es ist (wenn überhaupt, dann) nicht-physisch. Im Ich-Sagen dokumentiert sich eine Seinsweise des Menschen, die außerhalb unserer Erkenntnis- nicht aber außerhalb unserer Erlebnissphäre liegt. Das Ich entbehrt nicht der Erlebbarkeit und Wahrheit. „Ich bin wie übersinnlich so überwahr“, bemerkt – wohl im Anschluss an Kant – der Freiheitsphilosoph Max Stirner (Nachdruck 1972). Von ihm stammt auch der berühmt gewordene Satz „Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt“. Er hätte eben so gut sagen können: Ich hab’ mein Sach’ auf mich gestellt, denn das Ich ist das Nichts (das materiell nicht Greifbare).

Beide Aspekte des Ich, der physische (Ich-Leib; habitus) und der nichtphysische (Ich-Kern; persona), gehören untrennbar zusammen. Sie sind geradezu eins, nur verschiedene Erlebnisweisen ein und desselben Ich. Das Ich kann aufgefasst werden als ein Etwas, dass sich denkend seiner selbst, d. h. seiner physischen und seiner nichtphysischen Seite vergewissern kann. Um den sonderbaren Charakter des reinen Ich-Erlebens auch für eingefleischte Physikaster verdaulich zu machen, schreibt ein begnadeter Sophist: „Das Ich ist ein Hirngespinst, allerdings eines der zähesten.“
Die Person ist also nichts fremdes, oder nicht zu uns gehörendes, wie manche im Internet weiß machen zu wollen. Die Behaupten dies sei ein juristischer Taschenspielertrick um das Individuum von seinem Menschsein trennt. Die Behaupten Mensch-Erklärungen bei Ämtern einzureichen. Oder die Version des Treuhänders Mensch für seine Person, die im von den Machthabern angeheftet werden. Mehr Blödsinn und ein anderes Wort ist dafür einfach nicht anwendbar, kann man nicht mehr von sich geben. Die Person, das geistige Wesen gehört zum Menschen zu seinem Habitus und kann nicht von diesem Getrennt werden.

Unseren Bezug zum Ich, sei dieser auch noch so un- oder vorbewusst (wie bei Kindern), dokumentieren wir im Ich-Sagen. Das Ich-Sagen entwickelt sich beim Menschen relativ früh. Das bedeutet aber nicht, dass uns der Bezug zu unserem Ich sogleich in voller Bewusstheit präsent ist. In der Regel braucht der Mensch lange, um sich als Spontanzentrum seines Lebens und als Ursache (und damit auch als Verantwortungsträger! Dazu in späteren Artikeln mehr) seiner Lebensaktivitäten voll und ganz zu begreifen. Viele sterben, ohne je das Wissen über sich klar und deutlich erlangt zu haben. Ganz ohne Wissen darüber ist jedoch niemand, auch das ichsagende Kind nicht.

Der Dualismus beim Ich ist wegen seiner schweren Erfassbarkeit Vielen fremd. Aber die Analyse des Beobachtbaren offenbart ihn. Die neueste medizinische, insbesondere neurologische Forschung schenkt ihm wieder mehr Beachtung (SPIEGEL, 21/2013), wo er dort schon vergessen zu sein schien. Für die Jurisprudenz und die Humanwissenschaften ist das Wissen darüber unabdingbar (Person-Begriff!). Um diesen Dualismus klar herauszustellen, muss unser gesamtes Erkenntnivermögen bis hin an seine Grenzen ausgeleuchtet sein. Das hat Kant in vorbildlicher Weise geleistet.

Die Reflexion auf das „intelligible“ Ich ist eine Lebensleistung, die wohl dem entwickelten Menschen vorbehalten bleibt. Das bewusste Haben des Ich setzt einen Schritt voraus, den nur bestimmte Menschen tun können und den auch nur diese Menschen tun, zumindest dann, wenn sie den Kinderschuhen entwachsen sind. Das sind sie nicht, wenn sie den Satz „Das Ich ist ein Märchen“ (David Eagleman, „Das ich ist ein Märchen“ Spiegel 7/2012) für eine brauchbare These halten.

Das sinnlich Fassbare ist nur ein Teil des insgesamt von uns Erlebbaren. Unser Erleben geht bei der Beobachtung unserer Geistesvorgänge über das sinnlich Fassbare, das rein Physische, hinaus. Das Ich ist zwar - als Aktionsquell unseres Lebens - in Selbstreflexion erlebbar, nicht aber als konkret Vorstellbares erkennbar Es ist nur so da, wie es sich in Redewendungen wie „ich will“, „ich tue“, „ich entdekke“, „ich erfahre“ und in den individuellen Handlungsabläufen und materiellen Bedürfnisen manifestiert. In all diesem Reden und Tätigkeiten erlebe ich mich als Quell meiner eigenen Aktivitäten.

Ein Ich, so wird von manchen Forschern beteuert, gibt es nicht. Dass ein Hirnforscher bei seinem Untersuchungsobjekt (einem Du!) ein Ich nicht entdecken kann, ist nicht verwunderlich. Das Ich kann er ja nur bei sich selbst erleben – als forschendes Ich, als jenes, das ein Ich im Anderen aufgrund der Beschränkung seines Erkenntnisvemögens niemals entdecken wird. Der Satz „Ich behaupte, es gibt kein Ich“ enthält den krassesten Widerspruch, den man sich denken kann. Denn es ist offensichtlich ein Ich, das dies behauptet. Immanuel Kant nennt derlei Aussagen „frech“, weil sie sich anmaßen, die elementarsten Grundsätze menschlicher Erkenntnis außer Kraft zu setzen.

Die neuerdings von Neurologen oft zu lesende These, das Ich sei eine „Illusion“, kann nur immer ein Ich äußern, niederschreiben, verteidigen, womit es beweist, dass es außerhalb seines Äußerns, Niederschreibens, Verteidigens existiert. Die These steht im Widerspruch mit sich selbst. Also schon aus logischen Gründen (Prinzip des unzulässigen Widerspruchs) kommen wir um den Dualismus beim Ich nicht herum. Wer ihn bestreitet, begibt sich weit unter das Niveau der kritischen Ansätze des 17. und 18. Jahrhunderts.

Es ist eine der epistemologischen Grundwahrheiten, dass das forschende Ich sich selbst nicht erforschen kann. Totzdem kann es ein Bewusstsein über sich gewinnen, was sich im Ich-Sagen dokumentiert. Den Dualismus beim Ich erlebe ich als wirklich Seienden. An diesem Dualismus muss also nicht nur aus logischen, sondern auch aus ontologischen Gründen festgehalten werden.

Die Hauptvertreter der neueren Hirnforschung wollen davon nichts wissen. Der deutsche Psychologe und Hirnforscher Hans Markowitsch meint (2009 „Tatort-Gehirn auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens“): „Der Dualismus [beim Ich; der Verf.] ist passé.“ Der amerikanische Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga, der in seinem Buch „Who’s in charge“ (2011) die Ergebnisse der vergangenen Hirnforschung zusammenfasst, äußert: ein bestimmtes Modul in unserem Hirn schaffe die „Illusion eines Ich“ (Gazzaniga sagt auch: „Wir haben gesehen, dass wir wie Automaten funktionieren“). Hier dokumentiert sich totale Ich-Ferne.

Felix Tretter zeigt, „warum es sich lohnt, das Gehirn einzuschalten, bevor man selbiges erforschen will“, und fragt, „Könnte es sein, dass die Theorie der Neurowissenschaft auf ungenügend durchdachten Annahmen und Konzepten beruht?“ Er bejaht die Frage und folgert, dass die Hirnforscher notwendig aus ihren eindimensional angelegten Versuchen nur eindimensionale Resultate liefern könnten (SPIEGEL, Nr. 9/2014).

Man sollte sich schon mit seinen Aussagen innerhalb der Grenzen bewegen, die durch unsere Erkenntnisvermögen für uns abgesteckt sind. - Natürlich gibt es immer viel zu raten und zu meinen, wenn man, wie bei dem sich als Ich erlebenden Subjekt, den Boden der Sinnesdaten verlassen muss.

Es ist lediglich eine Frage meines persönlichen Entwicklungsstands, wann und wie ich lerne, die Unterscheidung von mir als physischem und zugleich als jenseits aller Physis stehendem Ich in voller Bewusstheit vorzunehmen. Dabei wird das indifferente, vorbewusste Ich-Erleben, das sich beim Menschen als Ich-Sagen schon sehr früh bemerkbar macht, in ein bewusstes überführt. Zugleich wird der Unterschied der beiden Ich-Aspekte ans Licht gebracht. Dieser Unterschied ist keine bloß theoretische Erfindung. Er ist durchaus erlebbar. Für das umfassende Begreifen von Freiheit und vor allem für das Verstehen des Zusammenhangs von Freiheit und Verantwortung ist er eine unverzichtbare Voraussetzung.

Jeder, der „ich“ sagen kann, erlebt und hat sein Ich, ist Ego-Ist. Etwas anderes ist es, ob er zu seinem Egoismus steht oder ob er ihn verschleiert. Der kindliche Egoismus ist unverschleiert. Dieser offene Egoismus geht aber bei den meisten Heranwachsenden irgendwann verloren. Der Egoismus wird verdeckt gehalten, weil er angesichts der heute üblichen Gesinnungsethik zum Wahrheitsproblem wird: als ungeständiger Egoismus.

„Es gibt zwei Arten von Egoisten: diejenigen, die ihren Egoismus zugeben - und wir anderen“ (Walter Mathau ). Dieses Bonmot sagt treffend, was Sache ist: Das Ich, das Ego, ist nicht Sache des Erkennens. Es ist Sache des Bekennens. Die voll bewusste Ich-habe ist ein Bekenntnis, und zwar das Bekenntnis des Menschen zu sich selbst.

Ein Bekenntnis dokumentiert ein Wollen. . Die Offenlegung unseres Ego ist keine Frage des Intellekts. Sie ist eine Frage des Willens. Das Bekenntnis zum Ich ist vor allem das Bekenntnis dazu, nicht nur immer Mittel für Anderes oder für Andere sein zu wollen, sondern Mittel nur für sich selbst, Mittel für einen Selbstzweck.

Und nun bin ich mit diesen Beitrag wieder am Ende angelangt. Bis zum nächsten Beitrag. Alle Artikel zur Serie gibt es unter #freie-gesellschaft

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