Per Frachtfähre übers Schwarze Meer

in #deutsch6 years ago

enter image description hereWir haben es geschafft. Wir sind mit einer Frachtfähre über das Schwarze Meer gefahren. 62 Stunden hat unsere kleine Kreuzfahrt gedauert. Als die Geroite na Odessa am Sonntagvormittag in Varna anlegte, hatte sie schon einige LKW und Eisenbahnwaggons aus Odessa an Bord. Drei Tage später in Poti waren mindestens 8 Schweine über Bord gegangen und wahrscheinlich 3l Vodka pro Person durchschnittlich durch die Kehlen geflossen.
enter image description hereBis wir an Bord konnten, erforschten wir das Hafenareal, in dem, so die Aussage unseres shipping agents, vor 10 Jahren noch 2000 Menschen gearbeitet haben sollen. Heute seien es noch etwa 35 und an diesem Sonntag gefühlte 10. Das Gebäude, in dem wir unsere Mitfahrgelegenheit nach Georgien bezahlten, stand leer und außer dem kleinen Zimmer des Agenten schien nichts mehr funktionsfähig.
enter image description hereUm unsere Zollpapiere abstempeln zu lassen, mussten wir in die nächste Bauruine, in dem mehr Schwalben hausten, als Menschen arbeiteten. Die Wände waren über und über mit Vogelkot beschmutzt, der Geruch im Gebäude entsprechend und es war unglaublich, hinter einer demolierten Tür ein modern eingerichtetes, voll funktionsfähiges Büro des Zolls zu finden, in dem auch tatsächlich jemand sehr zügig unsere Papiere bearbeitete. Überhaupt ging die gesamte Abwicklung sehr koordiniert vonstatten. Das hätten wir nicht gedacht, nachdem wir 10 Tage lang fast täglich „maybe“ neue Abfahrtstage genannt bekommen hatten.
enter image description hereAuf dem Gelände standen verlassene Fahrzeuge, verschlossene Nebengebäude und aufgebrochene Räumlichkeiten, die wir erforschten und erkundeten. Ein „lost place“, in dem noch gearbeitet wurde! Hier unser Fotoalbum auf Facebook: Im Hafen von Varna
enter image description hereDas Schiff legte gegen 11 Uhr an. Die Geroite na Odessea ist Baujahr 1978, immerhin also jünger als wir und mit entsprechend modischen Innendesign in dunkelbraunem Kunstholz mit dunkelgrünen Vorhängen und Polsterstoffen. Nachdem die Crew gewechselt, ein Cateringservice aus dem Nirgendwo die Vorräte aufgestockt hatte und ein einziger Personenwagen aus Armenien von Bord rollte, durften wir aufs Schiff. Außer Jan und mir waren das ein motoradreisender Amerikaner, den wir vor 2 Wochen schonmal getroffen hatten, ein Reisender aus New York, ein radelnder Holländer und ein rucksackreisender junger Belgier. Außerdem ein deutschgeorgisches / deutschukrainisches Pärchen mit einem Mercedes auf Roadtrip.
enter image description hereIm Hafen warteten seit mindestens vier Tagen auch vier Viehtransporter aus der südwestlichsten Ecke Bulgariens auf das Schiff, jeder hatte geschätzte 150 Schweine geladen, die auf drei Etagen so dicht zusammengepfercht waren, dass sie sich kaum drehen und wenden konnten. Sie wurden auf dem oberen Deck in der prallen Sonne platziert und das Motorengeräusch des Schiffes war nicht laut genug, um ihr tagelanges Quieken zu übertönen.
enter image description hereWir bezogen mit dem amerikanischen Motorradreisenden unsere geräumige und luxuriöse Außenkabine mit Bad und zwei Stockbetten. Einen solchen Luxus hatte ich nun wirklich nicht erwartet!
Gegessen wurde in zwei Schichten, der Smutje hatte wohlwissend seine etwa 40 Mitreisenden in LKW Fahrer und Reisende getrennt. Schon als wir an Bord gingen, wurden wir von lallenden und torkelnden LKW Fahrern „begrüßt“, die sich die Überfahrt mit Vodka noch schöner tranken, als sie war.
enter image description hereDie ganze Fahrt über fielen sie durch die Gänge, brüllten sich an, schlugen sich die Köpfe ein, vertrugen sich wieder, wankten auch ohne Seegang bedrohlich übers Deck, lallten herum, pfiffen mir hinterher, stellten sich in den Weg und quiekten und quakten die ganze Zeit nicht weniger herum, als die Schweine auf den vier Viehtransportern. Auch der Geruch war ähnlich, denn bei so viel Vodka blieb nicht jede Nahrung auch im Magen und die leeren Flaschen bedufteten die Gänge zusätzlich. Wenn wieder Mal ein ukrainischer LKW Fahrer mehr auf allen Vieren als auf zwei Beinen versuchte, sich auf dem Schiff fortzubewegen, war ich mir nicht so sicher, ob der Viehtransport sich nicht doch auch auf das Passagierdeck austreckte...
enter image description hereDer größte Unterschied zu den armen Schweinen unter Deck war sicherlich der, dass vermutlich kein LKW Fahrer über Bord ging, die Schweine aber schon. Gegen 10 Uhr wurden die Schweine täglich gefüttert und gewässert, um die Mittagszeit auf Tote kontrolliert. Und wenn ein Kadaver gefunden wurde, ging der über Bord und schwamm im türkisblauen Wasser, alle Viere zum Himmel gestreckt, dem Horizont entgegen…
enter image description hereUnser internationales Grüppchen genoss die Überfahrt wie eine Kreuzfahrt. Jedes der drei täglichen Essen war ein kulinarisches Highlight aus männerfreundlicher Küche (Pommes und Wurst in verschiedenen Kombinationen) und brachte den radelnden Holländer jedes Mal zu dem Satz „This is the best sausage, I ever had… on this ship“. Wir hatten eine gute Zeit! Und es gab auch 1x Linsensuppe – ganz ohne Wurst!
enter image description hereEin bisschen fühlte es sich an wie Tage in der Trans-Sib. Die Tage folgten einem festen Rhythmus aus Frühstück, wenn der Smutje „breakfast now!“ in die Kabine brüllte (und dabei die Tür aufriss ohne anzuklopfen), dann Tee an Deck, Mittagessen, wenn man persönlich vom Smutje dazu aufgefordert wurde, dann Lesen an Deck, vielleicht Mittagsschlaf und dann Abendessen und ein Tee zu Sonnenuntergang an Deck.
enter image description hereAm zweiten Tag begleiteten uns fast die ganze Zeit Delfine, die um das Schiff herum sprangen und durch das kristallklare Wasser flitzten. Trinkwasser und Tee stand uns den ganzen Tag zur Verfügung, aber bald fingen wir alle an, unseren eigenen Tee und Kaffee zu kochen, da Tee und Kaffee instant und eher Spülwasser waren. Bis auf die fehlenden Annehmlichkeiten wie Pool, Bar, Restaurant, Kino, Wellnessbereich, TV, Lounge, Rezeption, Cafeteria und Poolbillard fühlten wir uns wie auf einem Kreuzfahrtschiff, das gemütlich durch kristallblaues Wasser glitt. Die See war meist ruhig und wir hatten sehr entspannte Tage auf See. Unser Fotoalbum bei Facebook dazu: Luxuskreuzfahrt
enter image description hereWir lernten das deutschgeorgische/deutschukrainische Pärchen besser kennen, das zwar eigentlich mit deutschem Pass in Frankfurt lebte und lieber in Frankreich segelte, aber jetzt wegen der bevorstehenden Geburt ihres ersten Kindes zurück in sein Heimatland fuhren. Er hatte sich dazu seinen Kindheitstraum eines alten Mercedes erfüllt, mit dem sie nun auf Roadtrip waren. Ihr Plan: in Georgien auf die Geburt des Kindes warten und dann mit dem Neugeborenen zurück nach Frankfurt fliegen. Ich war verdutzt und ließ mir erklären, dass die beiden der Meinung waren, dass im deutschen Gesundheitssystem zu viel schief laufe, als dass man in Deutschland sicher ein Kind bekommen könne. Sehen wir auch so, glaubt uns nur keiner, aber die zwei machten Ernst, zu viel war bei Geburten im deutschen Freundeskreis in deutschen Krankenhäusern schon schief gegangen.
enter image description hereAm Morgen des vierten Tages (Sonntag war Abfahrt, Mittwoch Ankunft) legte die Geroite na Odessa im Hafen von Poti an. Der Smutje hatte uns den Abschied mit dem letzten Wurstfrühstück besonders leicht gemacht. Die Grenzer kamen an Bord und die paar Handvoll Passagiere mussten sich im Gang vor der Küche aufreihen. Sehr zuvorkommend durften die einzigen zwei Frauen an Bord zuerst zu den Grenzern an den zum Büro umfunktionierten Esstisch. Blöd nur, dass wir ja mit Männern reisten und ohne deren Abfertigung brachte uns die bevorzugte Behandlung nichts.
enter image description hereNachdem die Pässe an Bord gestempelt waren, durften wir das Schiff verlassen. Der radelnde Holländer war Erster und wurde direkt vom Zoll abgefangen und musste alles noch auf der Rampe auspacken. Gott sei Dank ergab sich recht schnell ein Verkehrschaos aus dem Fahrrad, dem Frankfurter Mercedes und einem rückwärts wendenden LKW auf der Verladerampe, sodass wir unbehelligt von den Zöllnern vorbei fahren konnten.
Der Frachthafen war völlig unvorbereitet auf Reisende mit eigenen Fahrzeugen. Man musste an einem Container die Fahrzeugpapiere und Pässe zeigen und wurde dann von den Damen gebeten, aus dem Hafen zu fahren. Rob, der Amerikaner, und wir fuhren los. Doch an der Hafenausfahrt konnte man uns nicht raus lassen, uns fehlte ein Papier. Also zurück zu den lächelnden Container-Damen, die uns an eine Container-Oma verwiesen, die uns Passierscheine ausstellte. Und dann waren wir endlich samt Fahrzeugen richtig in Georgien!
enter image description hereSeit dem 1.3. müssen ausländische Fahrzeuge in Georgien eine georgische Versicherung abschließen. Es gab vom Zoll sogar extra Zettel dazu. Da drauf stand, dass es die Versicherung in Banken gibt oder an „Payboxen“. Weil das Gesetz aber neu ist, ging es natürlich nicht bei den ersten zwei Banken. Gut, dass der Frankfurter Georgisch spricht und genauso hilflos dastand wie wir!
Dann erlebten wir ein Beispiel georgischer Gastfreundschaft: ein Mann, der gerade in der Bank Geld aus dem Automaten zog, bekam von unserem Problem mit und versprach, zu helfen. Er kannte eine „Paybox“, bei der es gehen sollte. An einer „Paybox“ kann man in Georgien so gut wie alles bezahlen, allerdings nur in Bar und in genau abgezählter Summe. Weil aber keiner von uns das Geld abgezählt dabei hatte, ist er wieder mit uns los gezogen, um trotz Mittagspause der Banken Kleingeld zu besorgen. Er blieb mindestens eine Stunde bei uns, bis wir alle vier unsere Fahrzeuge versichert hatten. Danke an den Unbekannten Helfer, den es wohl in Deutschland nicht gegeben hätte…
enter image description hereJetzt war es Zeit für die leckerste Küche der Welt! Oder fast. In Thailand ist es ähnlich lecker, nur ganz anders. Mit Rob ließen wir uns georgische Köstlichkeiten auf der Zunge zergehen und schlemmten die Wursterlebnisse vom Schiff aus dem Gedächtnis. Dann trennten wir uns, Jan und ich fuhren, bis es Zeit war, ein Bett zu suchen. Wir fanden es in Gori, Stalins Geburtsstadt. Der heutige Tag ist dank gutem Internet spontan ein Arbeitstag geworden, morgen machen wir uns auf den Weg Richtung Russland über die georgische Heerstraße. Und dann geht es erstmal zur Fußball-WM. Doch keine Sorge: wir kommen zurück nach Georgien! Und dann ganz intensiv…

Sort:  

Das klingt ja richtig abenteuerlich! Respekt, dass ihr das gut überstanden habt, und jetzt mit einer Prise Humor erzählen könnt...! :D

Ach, wir sind da nicht so "zart besaitet" :-)

Wow, was für eine Geschichte, toll ! 👍
Ich hoffe, alle LKW-Fahrer haben ihr Gefährt nüchtern und sicher herunter bekommen 😉

Die standen bei Ankunft zumindest auf zwei Beinen, frisch geduscht & rasiert zur Passabfertigung in Reih und Glied Schlange. :-)

Coin Marketplace

STEEM 0.32
TRX 0.11
JST 0.034
BTC 66785.29
ETH 3229.75
USDT 1.00
SBD 4.30