Das Genesis-Erlebnis / Kurzgeschichte

in #erzhlung7 years ago (edited)

Alles, was wir erfahren, wird bestimmt durch diesen einen ersten Augenblick. Als wir zum ersten Mal sahen, hörten, schmeckten, fühlten, was auch immer die Welt uns in diesem Moment zu erleben erlaubte. Das Genesis-Erlebnis.

Das Glitzern der Schneeflocken im Schein der gelbleuchtenden Straßenlaterne zeichnete sich antithetisch vor dem dunklen, sternenlosen Nachthimmel ab. Es war bewölkt, doch die Luft war klar. Und so kalt, als hätte man sie problemlos zerschneiden können.
Als ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Schneeflocke sah, geschah das wohl unbewusst. Und trotzdem: jetzt, mit dem Blick auf all das wundervolle Glitzern, war mir, als würde mich der Anblick traurig stimmen. Vielleicht war ich in meinem Kinderwagen gelegen und hatte fasziniert die Flocken betrachtet, während im Hintergrund ernste, laute Stimmen ertönten. Mama und Papa stritten und an diesem Abend brach in ihrer Verbindung etwas, was nie wieder repariert werden konnte.
Ich erinnerte mich nicht, doch gleichzeitig wusste ich: die Schneeflocken machten mich traurig, weil mein erstes verknüpftes Erlebnis mit ihnen mich traurig machte.

Ich weiß noch, als wäre es gestern erst gewesen, wie uns in der Grundschule erklärt wurde, dass jede Flocke ein einzigartiger Kristall sei. Keine Flocke sei wie die andere.
Am Abend schlich ich mich aus der Wohnung, so sehr hatten mich diese Ausführungen fasziniert, in meinen kleinen Schneestiefeln und mit Mütze, Schal und dicken Handschuhen ausgestattet, mit vor Aufregung pochendem Herzen, als würde ich eine Expedition an den Rand der Welt machen.
Ein Schneesturm versuchte meine Expedition zu vereiteln, schrie mich an, ich würde nie das Geheimnis der Schneeflocken ergründen können. Warum sie mich so traurig machten, obwohl sie doch so wundervoll waren. Es fühlte sich so falsch an: ich liebte sie, jede einzelne von ihnen, so sehr, dass mein Herz schmerzte und ich verstand es nicht. Warum nur konnte ich sie nicht ohne Schmerzen lieben, so wie es all die anderen Kinder taten? In ihnen spielen und tanzen und sie als das begreifen, was sie eben waren: Einzigartige Wesen, die zu unserer Freude auf die Erde schwebten, wie kleine Feen, uns Geheimnisse in die Ohren flüsternd, die nie ein Erwachsener verstehen würde.
Ein paar Minuten hatte ich mich schon durch den Schnee gekämpft, und ich fühlte mich, als wäre ich tausende Kilometer weit von Zuhause entfernt. Schließlich landete ich auf einer breiten Spielstraße. Der Sturm tobte, die Schneeflocken schlugen mir eisig ins Gesicht. Doch ich wollte nicht aufgeben. Unter einer gelbleuchtenden Straßenlaterne hielt ich an und schniefte. Ich fror, einen meiner Handschuhe hatte ich bereits irgendwo verloren. Doch es war mir egal. Ich streckte die schon beinahe eingefrorene Hand Richtung Lichtschein und wollte, dass die Flocken sich auf sie setzen und mir irgendeine von ihnen erklären möge, warum ich weinen musste, wenn ich sie sah. Wenn ich in den gelben Lichtschein sah. Der sich wie eine Kuppel aus Unbehagen über mich legte. Als ob etwas passieren würde, was meine ganze Welt zerstören könnte.

Heute, Jahrzehnte später, da verstehe ich es endlich. Ich verstehe, dass das Genesis-Erlebnis zwar Anteile von Psychologie und Neurobiologie beinhaltet, diese es jedoch nicht vollumfänglich beschreiben können: Das Genesis-Erlebnis ist nicht nur ein Trauma im klassischen Sinn, welches man in diesem Kontext auch als Genesis-Gefühl bezeichnen könnte. Und das Genesis-Erlebnis ist auch nicht nur der Auslöser eines einzelnen Neurons, der Genesis-Zelle, die alsbald damit beginnt ein lebloses neuronales Netzwerk zu erschaffen, welches sich durch ständige Wiederholung in eine bestimmte Richtung entwickeln wird.
Das Genesis-Erlebnis ist mehr. Es ist die Abbildung einer Blaupause, die immer schon so geplant gewesen war und nicht erst erschaffen wurde. Ein für sich stehendes, von allem abgetrenntes, echtes Genesis-Erlebnis existiert vermutlich genauso wenig wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander getrennt sind. Genauso wenig wie Leben und Tod Gegenspieler sind. Genauso wenig wie unser Verstand in der Lage ist, zu begreifen, was wir fühlen müssen, wann und weshalb.
Das Genesis-Erlebnis ist am Ende all das: Sowohl Genesis-Zelle als auch Genesis-Gefühl und wir werden nie verstehen, woher es tatsächlich kommt, wo es seinen wahren Ursprung hat. Doch es ist einzigartig, genau wie die Schneeflocken es sind. Und für jeden von uns existieren unendlich viele davon und sie alle sind wunderschön. Sie sind unser Schicksal. Sie sind das, was auf dem Ereignishorizont der Singularität, in dessen Zentrum wir vor uns hin existieren, uns Gedanken machend, warum wir dieses lieben und jenes hassen, codiert geschrieben steht.

Und doch, trotz des unbestimmbaren Schicksals, welches das Genesis-Erlebnis und das große Geheimnis darum mir und dem Schnee auferlegten: Als ich die Schneeflocken zum ersten Mal sah, da waren sie wunderschön, genau wie heute und ich fühlte, dass etwas fehlte. Wie ein Puzzlestück vom Himmel, welches für das Gesamtbild scheinbar unwichtig war, doch wenn man es schließlich fand, so stellte man erstaunt fest, dass sich an diesem Stück Himmel ein Heißluftballon mit einer Botschaft versteckt hatte.
Ich starrte weiter in das diffuse gelbe Licht und langsam verschwamm die Erinnerung an meine Expedition in der Grundschulzeit.

Ein Scheinwerferpaar tauchte in der Ferne links von mir auf. Es kam schnell näher und als würde ich im Moment gar nicht in meinem Körper weilen, bemerkte ich, dass ich mitten auf der Straße stand, in der Dunkelheit, und wie gebannt in das Licht der Laterne starrte, in dem die Schneekristalle glitzerten. Jede einzigartige Flocke brannte einen einzigartigen Abdruck aus Leid und Glück in mein Herz.
Hatte ich es wirklich verstanden? Konnte es so einfach sein? Nur der Code am Rande des Universums? Keine Psychologie, keine Biologie, keine Materie, keine Information, keine Energie? Was bleibt, wenn alles dunkel wird und das Glitzern verschwindet?
Ich drehte mich und starrte nun auf die schnell näherkommenden weiß-strahlenden Scheinwerfer.
Es war merkwürdig, von außen betrachtet: so stark auch die Traurigkeit, der Schmerz und die Wehmut in mir aufkeimten, wenn ich die Schneeflocken im gelben Licht der Straßenlaterne betrachtete, so stark wurde der Frieden in meinem Herzen beim Blick auf die eigentlich bedrohlichen Autoscheinwerfer, die auf mich zurasten ohne abzubremsen. Der Frieden lähmte mich.
Ich musste lachen. Hatte ich wirklich gedacht verstanden zu haben, was mein Genesis-Erlebnis war? Erst jetzt, im Angesicht des nahenden Todes, der in meiner Seele nicht den Anflug von Angst auslöste, verstand ich, dass es nie der erste Moment gewesen war, den ich im Verdacht gehabt hatte, an dem ich herumgetüfftelt und den ich zu verstehen versucht hatte. Das Genesis-Erlebnis war heute gewesen: der Tag, an dem ich im warmen Licht einer Straßenlaterne unter tanzenden Schneeflocken sterben würde. Es war ein Paradoxon. Doch im Angesicht der Erkenntnis, dass Vergangenheit und Zukunft eins waren, ergab es plötzlich Sinn: aus dem Ursprung, der gleichzeitig das Ende war, keimte die Suche nach dem Ursprung heran und breitete sich als Netzwerk aus unendlich vielen Neuronen, Gefühlen, Schneeflocken, Menschen in einem Gefäß aus, das sich Leben nannte.

Das Genesis-Erlebnis war das Exodus-Erlebnis.

Lächelnd wartete ich auf den Aufprall.
Als ich die Schneeflocken zum ersten Mal sah, da waren sie wunderschön, genau wie heute.
Und als ich zum ersten Mal starb, da war ein tiefer Frieden in mir, genau wie heute.


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So schön melancholisch. =) Vielen Dank für die Geschichte!
Aber wo sind die Leser? War sie zu lang und hat alle verschreckt? :( Das braucht mehr Aufmerksamkeit!

Oh, vielen lieben Dank, das freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat :)
Also ich hab die Erfahrung gemacht, dass solche Art von Prosa im Internet nicht gut ankommt - wie du schon sagst, zu viel Text, vielleicht zu wenig Unterhaltung. Hast du da andere Erfahrungen gemacht?
Aber das ist nicht so schlimm, wenn eine Geschichte nur einem Menschen irgendetwas geben kann, hat es sich schon gelohnt sie zu veröffentlichen :)

Das stimmt leider. Schwere oder längliche Texte werden vielleicht mal überflogen aber schaffen es in der Masse kaum, wirklich zur Geltung zu kommen. Wenn man 50 Blogs folgt und jeder mit Texten von ein paar Tausend Wörtern an kommt, dann fehlt einem auch einfach die Zeit. Ich versuche immer, die Texte dann in kleinere Häppchen zu zerteilen, nicht mehr als eine Seite A4, aber auch da verliert man natürlich unterwegs einige Leser. Leider. Dafür weiß man dann, die, die bis zum Ende dabei sind, denen hat es wirklich gefallen, und das bestätigt mich dann doch jedes mal wieder, mehr zu schreiben.

Mir geht es da ganz genauso, deswegen verstehe ich da jeden - es ist einfach wahnsinnig viel Masse heutzutage, so viele Blogs und Plattformen, keine Ahnung, wie und wann man das machen soll... Wenn man sich nicht voll und ganz auf ein Thema und eine Community konzentriert, ist das eigentlich unmöglich... Umso mehr habe ich mich über deine Worte zu meiner Geschichte gefreut :)

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