Deutsche über den Tisch gezogen, der Beweis ! Spiegel vom 19.03. 1990 +++ Zeitdokument+++

in #politik6 years ago (edited)


„Anschluß ist ein falscher Begriff“


SPIEGEL: Herr Meckel, die Zeit für eine Einheit müsse erst heranreifen, sagen Oppositionelle in der DDR, die Angst haben vor Gleichmacherei und Angst davor, den eigenen Charakter zu verlieren. Teilen Sie solche Befürchtungen?

MECKEL: Ich denke, die Zeit zur deutschen Einheit ist schon herangereift. Wir haben jetzt die Aufgabe, diese Einheit in entsprechenden Schritten zu gestalten. Und dabei ist es das Interesse von DDR-Bürgern, die mehr als 40 Jahre betrogen worden sind, sich nicht noch einmal, zum Beispiel in der Eigentumsfrage, übers Ohr hauen zu lassen. Im übrigen denke ich, wir, die Oppositionellen, die sich untereinander kannten, haben durchaus eine Identität, die durch das Gegenüber bestimmt ist, anders als die Leute, die sich anpaßten oder in private Nischen zurückzogen. Die hatten durch den Fernseher die Bundesrepublik erlebt. Da ist ihre Perspektive.

SCHÄUBLE: Nach meiner Einschätzung gibt es eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung der DDR, die nach dem Grundgesetz, jedenfalls nach den Das Streitgespräch moderierten die Redakteure Wolfram Bickerich und Paul Lersch im Bonner SPIEGEL-Büro. Grundstrukturen von Demokratie und Freiheit leben will, die sie von der Bundesrepublik her kennt.

MECKEL: Das stimmt, ohne daß es differenziert gesagt wird, insofern, als die Mehrheit der Bürger sich Demokratie und freiheitliche Ordnung wünschen.

SCHÄUBLE: Und soziale Marktwirtschaft?

MECKEL: Marktwirtschaft heißt zu allererst Streben nach Wohlstand, so wie ihn die Bundesrepublik geschaffen hat. Und obwohl wir gelernt haben, dort seien die sozialen Probleme so stark, wissen wir auch, so schlimm ist das gar nicht, obwohl natürlich nicht alles Gold ist, was glänzt. Skeptisch bin ich, wenn Sie sagen, die Leute wünschen sich das Grundgesetz. Denn das ist gar nicht bekannt in der Bevölkerung. Ich, der ich das ein bißchen kenne, kann wohl sagen: Es ist ganz gewiß die beste deutsche Verfassung, die wir bisher hatten.

SPIEGEL: Nach der Vorstellung von Herrn Schäuble soll die DDR demnächst den Beitritt zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes erklären und so das Grundgesetz übernehmen. Was halten Sie davon, Herr Meckel?

MECKEL: Unser Ziel ist ein Vereinigungsprozeß nach Artikel 146 des Grundgesetzes, der mit einer gemeinsamen neuen Verfassung endet, ausgehend vom Grundgesetz. Auch wir wollen nicht alles neu machen. Ich meine, so wie es Herrn Schäuble vorschwebt, ist die Vereinigung der beiden Staaten nach dem Grundgesetz gar nicht gewollt. Denn Artikel 23 behandelt den Beitritt eines anderen Teils, Beispiel Saarland. Jetzt soll eine Übergangslösung, die provisorische Bundesrepublik, durch einen neu entstehenden, gemeinsamen deutschen Bundesstaat abgelöst werden. Der Schluß der Verfassung bezieht sich zurück auf das Einheitsgebot der Präambel. Das ist ein ganz anderer Fall.

SCHÄUBLE: Ich respektiere Ihre Interpretation. Aber sie ist zumindest nicht die herrschende. Artikel 146 sagt nur, dieses Grundgesetz gilt so lange, bis sich das deutsche Volk eine neue Verfassung gibt, nicht mehr und nicht weniger. Der Artikel 23 beschreibt dagegen zunächst, wo das Grundgesetz gilt, und sagt dann, andere Teile Deutschlands könnten beitreten. Und nach diesem Beitritt werden wir Artikel 23 Satz 2 für erledigt erklären müssen, weil sonst Fragen bleiben: Wer soll denn sonst noch beitreten? Mit der Vollendung der deutschen Einheit ist also auch die Grenzfrage beantwortet.
Zudem heißt Beitritt keineswegs: „Vogel, friß oder stirb.“ Zuvor müssen die beiden deutschen Staaten über die Modalitäten dieses Beitritts sprechen.

MECKEL: Also ich finde es gut, wenn Sie sagen, mit der deutschen Einheit ist das, was Deutschland ist, sozusagen beisammen. Das heißt faktisch: dauerhafte Geltung der polnischen Westgrenze.

SCHÄUBLE: Für eine Neudefinition von Grenzen ist in Europa niemand zu haben. Deswegen werden wir die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze anerkennen müssen.

MECKEL: Und zwar sofort, ohne einen Friedensvertrag als Bedingung. Das ist ein wichtiger Punkt.

SCHÄUBLE: Ich wollte klarstellen, es ist nicht eine Entscheidung der Deutschen allein. Als ein Preis für die Einheit wird die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze unvermeidlich sein.

MECKEL: Nicht als Preis. Hier wird Geschichte als Folge deutscher Schuld von uns anerkannt. Mein zweiter Punkt, es wäre gut, wenn auch in allen Wahlveranstaltungen zu hören gewesen wäre, was Sie jetzt sagen.

SCHÄUBLE: Sie müßten öfter zu meinen Veranstaltungen hingehen.

MECKEL: Ich sage, es wäre gut, wenn das durchgängig so käme: Artikel 23 heißt nicht unmittelbarer Anschluß. Auf Veranstaltungen der DSU dagegen mußte der Eindruck entstehen, als sei Aufgabe der Souveränität gemeint, künftig werde nur noch die Bundesregierung entscheiden, wir gliedern uns ein und geben die Löffel ab.

SCHÄUBLE: Anschluß ist ein falscher Begriff. Es ist letztlich allein Sache der Menschen in der DDR und ihrer Vertreter zu entscheiden. Nach der Wahl werden jetzt die beiden deutschen Staaten Gespräche führen. Und die müssen gar nicht lange dauern. Und dann wird die Entscheidung in der DDR zu treffen sein: Beitritt ja oder nein.

SPIEGEL: Wird in den Gesprächen auch über einzelne Verfassungsbestimmungen zu reden sein?

SCHÄUBLE: Wenn die DDR das wünscht, müssen wir vor dem Beitritt auch solche Gespräche führen und uns darüber einigen oder sogar eine Änderung des Grundgesetzes vollziehen. Das folgt aus dem Gebot der Wiedervereinigung, das von uns ernsthaftes Bemühen zur Herstellung der deutschen Einheit fordert. Der Artikel 23 bietet dazu jede Form von Flexibilität.

SPIEGEL: Herr Meckel, muß ein Verfahren nach 146 in ein langes Palaver ausarten, wie die Gegner meinen?

MECKEL: Genau das ist der zentrale Punkt. Auch der Weg nach 146 muß überhaupt nicht lange dauern. Ich denke, daß sich die Artikel 23 und 146 gar nicht ausschließen. Ich strebe es nicht an, aber ich halte es auch nicht für unmöglich, auf der Grundlage des Artikels 23 in Verhandlungen mit der Bundesregierung einzutreten, um konkrete Bedingungen auszuhandeln. Im Ergebnis soll dann eine neue Verfassung entsprechend Artikel 146 herauskommen, die der gesamten Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wird.

SCHÄUBLE: Man kann theoretisch durchaus beide Wege miteinander verbinden. Die Zeitfrage ist auch nicht das entscheidende Argument. Wichtig ist, daß bei einem Prozeß über Artikel 146 überhaupt keine Klarheit besteht, wie die Grundstrukturen unserer Verfassung aussehen werden. Wir brauchen aber ein Element der Vertrauensbildung, der Stabilität. Denn wir haben, weiß Gott, genügend große Aufgaben mit der Vollendung der Einheit zu bewältigen.

MECKEL:Jetzt bauen Sie aber einen Buhmann auf. Wir haben mit aller Klarheit gesagt, wir wollen vom Grundgesetz ausgehen, nur ein paar Bestimmungen sollten thematisiert werden. Es ist doch eigentlich sinnvoll, daß sich das Volk 45 Jahre nach dem Krieg in einer historischen Situation eine neue Verfassung gibt. Natürlich soll nichts von dem, was sich bewährt hat, worauf auch viele DDR-Bürger mit Bewunderung blicken, über den Haufen geworfen werden.

SCHÄUBLE: Das ändert nichts daran, daß der Weg über Artikel 146 erst am Ende Klarheit schafft, während nach Artikel 23 von vornherein Klarheit besteht, daß dieses Grundgesetz in seinen Grundstrukturen erhalten bleibt.

MECKEL: Was unterstellen Sie denn eigentlich den Bürgern der DDR? Das, was wir als Verfassung hatten, ist doch ein Lappen. Und das Grundgesetz ist die beste deutsche Verfassung. Dies ist Konsens in der DDR, behaupte ich. Aber das heißt nicht, sie sei nicht noch verbesserungswürdig.

SCHÄUBLE: Gleichwohl können Sie so keine Verläßlichkeit schaffen. Eine verfassungsgebende Versammlung nach Artikel 146 entscheidet mit einfacher Mehrheit. Nach Artikel 23 ist Grundlage das Grundgesetz, das nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden kann. Sonst gilt das Grundgesetz weiter.

MECKEL: Nach der Wahl stellen wir jetzt die Frage: Was machen wir eigentlich in der kommenden Übergangszeit? Es gibt zwei Möglichkeiten: Wir suchen nur bausteinartig einige Grundregeln für die Strukturen, oder wir machen erst einmal eine neue Verfassung für die DDR, und zwar nehmen wir das Grundgestz und ändern ein paar Artikel, vielleicht sind es auch ein paar mehr. Dann ist deutlich: Verhandlungsmasse in der Nationalversammlung beziehungsweise im Rat zur Deutschen Einheit nach 146 sind die Verfassungen der beiden deutschen Staaten – und man stellt fest, so unterschiedlich sind die ja nun wirklich nicht. Da braucht keiner Angst zu haben, daß die Welt zusammenbricht. Vielleicht merkt dann sogar jeder, so schlecht ist das gar nicht, was die wollen.

SCHÄUBLE: Der Risikospielraum für Verfassungsänderungen bei den qualifizierten Mehrheitserfordernissen – Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat – ist und bleibt sehr viel geringer. Das ist genau der Punkt. Bei 146 ist alles offen, bei 23 nicht.

SPIEGEL: Die verfassungsgebende Versammlung könnte entsprechend den Bevölkerungsanteilen beschickt werden. Das wäre auch eine Garantie.

SCHÄUBLE: Das halte ich für selbstverständlich. Sonst würde das gegen primitivste Demokratieprinzipien verstoßen.

MECKEL: Das sehe ich gar nicht so.

SCHÄUBLE: Sie wollen eine neue Verfassung mit einfacher Mehrheit haben, bei der 16 Millionen so viel Einfluß haben sollen wie 60 Millionen? Ich bitte Sie, ich bitte Sie herzlich! * Erste Reihe von rechts die Politiker Seebohm, Heuss, Löbe, Schmid.

MECKEL: Entschuldigung, warum soll nicht nach einer neuen Verfahrensordnung das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für die Beschlüsse eines paritätisch besetzten Rates zur Deutschen Einheit festgelegt werden? So steht es in unserem Wahlprogramm.

SCHÄUBLE: Eine verfassungsgebende Versammlung, bei der 16 Millionen Deutsche in der DDR genausoviel Stimmen hätten wie 60 Millionen Deutsche in der Bundesrepublik, wäre ein Verstoß gegen das tragende Prinzip der Demokratie, daß die Stimme jedes einzelnen gleich zählt.

MECKEL: Die zählt genau gleich beim Volksentscheid. Aber ich sehe, es gibt offensichtlich verschiedene Modelle, und keines hat die Wahrheit gepachtet, denke ich.

SPIEGEL: Sprechen wir über ein paar Grundsätze einer veränderten Verfassung. Können darin stärkere plebiszitäre Elemente enthalten sein?

MECKEL: Darf ich mir die Freiheit nehmen, nicht mit den plebiszitären Elementen anzufangen?

SPIEGEL: Eigentlich nicht.

MECKEL: Aber ich möchte gern: Ganz wichtig ist mir der Schutz der natürlichen Umwelt, aufgrund der neuen technischen Situation auch ein Grundrecht des persönlichen Datenschutzes, weiter die Frage der Tarifhoheit, die in einzelnen Länderverfassungen deutlicher formuliert ist. Ein Recht auf Arbeit, paritätische Mitbestimmung und ein Verbot der Aussperrung müßten in die Verfassung. Ich denke auch, daß die Sozialbindung und die ökologische Verantwortung in bezug auf das Eigentum verstärkt werden müßten. Die Gleichstellung von Mann und Frau in der Wirtschaft ist ein weiterer Punkt. Die Rolle der Länder, also der föderative Aufbau, sollte verstärkt werden. Und schließlich gehören plebiszitäre Elemente in diese Liste.

SCHÄUBLE: Ich meine, es ist für ein Streitgespräch ein bißchen schwierig, wenn man eine ganze Liste abhandeln muß. Ich greife jetzt nur mal kurz einiges heraus. Tarifhoheit haben wir ausdrücklich im Grundgesetz geregelt. Volle paritätische Mitbestimmung verträgt sich nicht mit der Eigentumsgarantie bei aller Sozialbindung des Eigentums, die bei uns sehr weit entwickelt ist. Dazu gibt es höchstrichterliche Entscheidungen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hat unser Verfassungsgericht aus den Artikeln 1 und 2 unseres Grundgesetzes schon entwickelt, und beim Datenschutz ist die Bundesrepublik von keinem Staat zu übertreffen. Zu den plebiszitären Elementen sage ich: Das Prinzip der repräsentativen Demokratie ist zumindest so sehr wie zu irgendeinem Zeitpunkt in der Verfassungsgeschichte des Abendlandes notwendig, um eine stabile Ordnung für Freiheit und Demokratie zu garantieren. Deswegen bin ich gegen plebiszitäre Experimente in unserer Verfassung.

MECKEL: Ich sehe solche Gefahren nicht. Auch wir wollen eine repräsentative Demokratie. Aber nach meiner Vorstellung sollte gegen einen Parlamentsbeschluß ein Volksbegehren in Gang gesetzt werden können. Eine Minderheit im Parlament muß eine Korrekturmöglichkeit haben, und wenn’s eine Mehrheit bei der Volksabstimmung für die Revision gibt, muß die Sache neu verhandelt werden. Der konkrete Auftrag lautet also: Denk noch mal nach.

SPIEGEL: Herr Schäuble, sollte der Bundespräsident künftig direkt vom Volk gewählt werden, um ihm eine von den Parteien unabhängigere Stellung zu verschaffen?

SCHÄUBLE: In der Bundesrepublik haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes bewußt dagegen entschieden. Und wenn man sich einmal die Reihe der Bundespräsidenten anschaut, dann spricht eigentlich nichts dafür, den Auswahlmechanismus zu verändern.

MECKEL: Ich wäre für einen solchen Vorschlag, weil er deutlich macht, daß der Präsident als der Repräsentant von allen gewählt wird. Ich denke, wir haben eine andere Situation als 1949. Damals war die Erinnerung an die Weimarer Republik und die zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft noch stärker in Erinnerung. Man hat damals erlebt, wie das Volk hurra schrie. Jetzt aber haben wir 40 Jahre Demokratie in der Bundesrepublik. Das ist eine lange Übungszeit. Und alle heutigen Repräsentanten der Demokratie sind davon geprägt. Und wir haben andererseits in der DDR eine Bevölkerung, die gerade gegen Tyrannei aufgestanden ist. Ich denke, damit ist eine gänzlich neue Situation da.

SCHÄUBLE: Das Grundgesetz will einen Bundespräsidenten, der alle Gruppen integriert, alle politischen und auch alle Schichten der Bevölkerung. Das aber kann ein Bundespräsident nur, wenn seine politische und rechtliche Macht begrenzt ist. Wenn er politische Macht hat, wird er notwendigerweise auch im Parteienstreit stehen. Seine Fähigkeit zu integrieren würde dabei Schaden nehmen.

SPIEGEL: Und ein Recht auf Arbeit? Die Bürger der DDR beschäftigt die Frage sehr.

SCHÄUBLE: Das verstehe ich wohl. Die DDR-Bürger haben de facto so etwas Ähnliches wie ein Recht auf Arbeit seit 40 Jahren gehabt. Aber die Ergebnisse sind desaströs.

MECKEL: 1947 hatten wir noch keine zentralistische Wirtschaft, wie sie danach unseren Staat kaputtgemacht hat. 1947 hatten aber verschiedene Länderverfassungen das Recht auf Arbeit festgeschrieben. Ich will nur sagen: Ihr Argument sticht nicht.

SCHÄUBLE: Mein Argument ist vor allem ökonomisch. Der Staat kann in einer Ordnung der sozialen Marktwirtschaft und der Tarifautonomie nicht das Risiko von wirtschaftlichen Fehlentscheidungen des einzelnen, die auch zu Arbeitslosigkeit führen können, übernehmen . . .

MECKEL: Die Frage ist doch viel grundsätzlicher.

SCHÄUBLE: Je mehr Aufgaben ein Staat hat, um so mächtiger wird er, um so stärker ist die Gefahr, daß er die Freiheit beschränkt, und um so größer die Chance, daß die Ergebnisse so miserabel sind wie in der DDR:

MECKEL: Dieser Vergleich stimmt eben nicht. Es ging in der DDR um eine Einparteienherrschaft und ein entsprechend zentralistisches System. Ich sehe auch die Probleme der Einklagbarkeit; wenn wir trotzdem soziale Grundrechte fordern, so soll damit eine Pflicht des Staates zur Beschäftigungspolitik verbunden sein. Ein solcher Fall ist zum Beispiel in der spanischen Verfassung enthalten.

SCHÄUBLE: Herr Meckel, wir haben uns eigentlich angewöhnt, unsere Rechte, die wir im Grundgesetz haben, auch ernst zu nehmen, nicht bloß schöne Programmsätze reinzuschreiben. Sie können nicht bestimmte staatliche Politiken, auch nicht in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, mit Verfassungsqualität ausstatten.

MECKEL: Von der Sache her sagen Sie ja selber, es gehört zur Pflicht des Staates, für Beschäftigung zu sorgen, und wir wollen, daß diese Pflicht in die Verfassung kommt. Dieser Pflicht entspricht das Recht auf Arbeit. Wir sind hier, das ist mir bewußt, bei dem sattsam bekannten Streit um den Charakter von sozialen und bürgerlich-politischen Menschenrechten. Es ist aber doch international anerkannt, daß es auch soziale Grundrechte gibt, trotz ihrer unterschiedlichen Einklagbarkeit.

SPIEGEL: Ein Recht auf Arbeit wäre als Ausgestaltung des Sozialstaats zu verstehen, ähnlich das Recht auf Wohnung oder auch eine stärkere soziale Bindung des Eigentums – alles Fragen, die in der DDR diskutiert werden.

MECKEL: Ich wollte mich nicht in Ihren politischen Streit um staatliche Beschäftigungspolitik einmischen. Ich spreche von verfassungsrechtlichen Traditionen. Wir wollen auch nicht neue Spleenigkeiten von Sozialdemokraten einbringen.

SCHÄUBLE: Das sind die alten Irrtümer, nicht neue Spleenigkeiten.

MECKEL: Ich greife mal das Thema Eigentum auf. Uns geht es tatsächlich darum, die Sozialpflichtigkeit stärker zu betonen und zugleich die ökologische Verantwortung, die auch mit Eigentum verbunden ist.

SCHÄUBLE: Wir haben natürlich ein hohes Maß an Sozialpflichtigkeit des Eigentums.

MECKEL: Ich will das gar nicht bestreiten, aber was spricht dagegen, daß es stärker betont wird?

SCHÄUBLE: Ich kann wirklich nicht erkennen, warum wir unsere Verfassung mit weiteren, das Eigentum schwächenden Elementen verstärken sollten. Was das Staatsziel Umwelt angeht, sind wir bei uns mitten in den Gesprächen.

SPIEGEL: Die Frage ist, wie wirkungsvoll soll das Eigentum, wieweit sollen wirtschaftliche Interessen, beispielsweise von industriellen Großverschmutzern, eingeschränkt werden?

SCHÄUBLE: Der konkrete Diskussionspunkt zum Thema Umwelt ist nicht so sehr das Eigentum, sondern vor allem die Frage, ob ein unmittelbarer Klageanspruch aus diesem Staatsziel abzuleiten ist. Und was die Industrie angeht, so erweisen sich unsere gesetzlichen Auflagen durchaus als wirkungsvoll – gerade auch im Vergleich mit der DDR.

MECKEL: Es geht natürlich um Eigentum. Rücksicht auf die natürlichen Lebensgrundlagen heißt Verpflichtung im Umgang mit dem Eigentum, heißt ökologische Verantwortung. Da höre ich von Ihnen immer, „haben wir alles schon“ – als ob es nichts Besseres gäbe. Und außerdem frage ich mich, warum wehren Sie sich dagegen, so etwas auch verfasssungsrechtlich festzuschreiben?

SCHÄUBLE: Wenn wir alles verfassungsrechtlich zementieren würden, wären wir bei den rasch sich verändernden Anforderungen nicht mehr reaktionsfähig. Gerade im Umweltschutz haben wir in den letzten 40 Jahren unglaubliche Veränderungen erlebt. Ich denke, es ist viel besser, wir beschränken uns auf die wichtigen Gestaltungsprinzipien und lassen im übrigen den Gesetzgeber einfach entscheiden.

MECKEL: Ich halte es für ganz problematisch, daß Sie, wenn ich von Verantwortung spreche, die mit Eigentum verbunden ist, von zementieren reden. Ich spreche hier von ethischen Grundlagen, die auch für jeden Eigentümer gelten. Darauf soll er auch verfassungsrechtlich festgelegt werden. Das ist ein entscheidender Unterschied.

SCHÄUBLE: Sie mißverstehen mich. Schutz des privaten Eigentums, aber mit der Begrenzung der Sozialpflichtigkeit ist doch unumstritten. Was wollen Sie über diese Elemente hinaus noch durch den Verfassungsgesetzgeber regeln?

SPIEGEL:Je stärker Sie ein Staatsziel oder Grundrecht Umwelt formulieren, desto stärker kann – bei der Abwägung im Einzelfall – das Eigentum eingeschränkt werden.

SCHÄUBLE: Über ein Staatsziel sind wir uns einig.

SPIEGEL: Wenn sich Ihr Szenario nach Artikel 23 erfüllt, Herr Schäuble, wann rechnen Sie dann mit einem Beitritt?

SCHÄUBLE: Das würde meines Erachtens relativ bald sein können. Ich denke schon, daß noch in diesem Jahr ein Beitritt möglich wäre.

MECKEL: Ich denke, was ich beschrieben habe, ist auch in diesem Jahr noch zu verwirklichen.

SPIEGEL: Wird nach der Vereinigung das Problem, das hier und drüben besonders bedrückt, nämlich die Abwanderung, gelöst sein? Oder wird die Enttäuschung, daß der erhoffte Wohlstand so schnell nicht kommt, die Zahl der Übersiedler noch höher steigen lassen?

SCHÄUBLE: Wir können und sollten so rasch wie möglich erste Schritte auf Wirtschafts-, Währungs- und Sozialeinheit schaffen. Wir haben gemeinsam ein dringendes Interesse daran, daß die Ressentiments gegen Deutsche aus der DDR hier in der Bundesrepublik nicht weiter geschürt werden.

MECKEL:Jetzt nach den Wahlen werden nicht plötzlich alle dableiben. Andererseits aber wird es auch einen Zug aus der Bundesrepublik in die DDR geben. Leute mit Initiativen werden in die DDR kommen, weil es sich lohnt.

SCHÄUBLE: Ihr Blatt erscheint kurz nach der Wahl; da ist es gut, daß wir gemeinsam sagen: Wir sollen so rasch wie möglich dafür sorgen, daß die DDR nicht weiter ausblutet.

SPIEGEL: Herr Meckel, Herr Schäuble, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Von W. Bickerich und P. Lersch


Quelle SPIEGEL-Archiv : http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13507138.html

Als PDF Datei : http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13507138


Aus der heutigen Sicht erscheint das wie eine Verhöhnung. Es wurde der Status Quo des Artikel 133 Grundgesetz "Der BUND tritt in die Rechte und Pflichten der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes ein." beibehalten, statt dem Artikel 146 zu folgen, einen Staat nach dem Völkerrecht zu errichten mit einer Verfassung, die der gesamten Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wird.
Das ist bis heute nicht geschehen .... es wird Zeit dieses zu tun !

siehe auch : Wer oder was ist eigentlich der BUND

https://www.verfassunggebende-versammlung.com/

https://www.bundesstaat-deutschland.com/

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