Aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“: Voltaire – „Die Glanzzeiten der Geschichte“

in #deutsch7 years ago

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute ein weiteres phantastisches Werk vorstellen: „Die Glanzzeiten der Geschichte“ von Voltaire.

Kritik:
Voltaire gehört sicher zu den bedeutendsten Philosophen und zählt zu den Aufklärungsvätern. Seine Werke sind in klarster sprachlicher Eleganz formuliert und ein wahres Vergnügen zu lesen.

Voltaire:
Francois Marie Arouet - frz. Schriftsteller und Philosoph 1694, † 1778 – wurde wegen satirischer Schriften verfolgt, festgesetzt und später verbannt. Die Verbannung trieb ihn u. a. von 1750 – 53 in die Hände von König Friedrich II. (Alte Fritz). Volaire vertrat die Vernunftgläubigkeit und eine kirchenfeindliche Toleranz. Seine Schriften trugen u. a. zur frz. Revolution von 1789 bis 1799 bei.


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.


Aufklärung durch Weltliteratur

Voltaire

Die Glanzzeiten der Geschichte


Alle Zeiten haben Helden und Staatsmänner hervorgebracht, und alle Völker haben Umwälzungen durchgemacht. Für den, der nur sein Gedächtnis mit Tatsachen füllen will, sind alle Geschichten ungefähr gleich. Aber wer denkt und, was noch seltener ist, wer Geschmack hat, zählt nur vier Jahrhunderte in der Weltgeschichte. Diese vier glücklichen Zeitalter sind die, in denen die Künste in Blüte standen und zu denen als zu Marksteinen menschlicher Geistesgröße die Nachwelt bewundernd aufsieht.

Das erste der vier ist das der Perikles, der Demosthenes, Aristoteles, Plato, Apelles, Phidias und Praxiteles; es ist auf Griechenland beschränkt; der Rest der Erde war noch Barbarenland.

Das zweite Zeitalter ist das Cäsars und Augustus' und wird gekennzeichnet durch die Namen Lukrez, Cicero, Livius, Virgil, Horaz, Ovid, Varro, Vitruvius.

Das dritte ist das Ruhmeszeitalter Italiens, das auf die Eroberung von Konstantinopel durch die Türken folgte, in dem in Florenz eine bürgerliche Familie, die Medici, das unternahm, was die Könige Europas hätten tun sollen.

Das vierte und vielleicht dasjenige, das der Vollendung am nächsten kommt, ist das Jahrhundert Ludwigs XIV. In den Künsten mag es die drei anderen vielleicht nicht überragen, aber die Vernunft im allgemeinen hat die größten Fortschritte gemacht; erst jetzt ersteht eine gesunde Philosophie. In den Geistern, in den Sitten, im politischen wie im künstlerischen Leben kündigt sich ein Umschwung an, der der beste Ruhmestitel für unser Vaterland ist, dessen glücklicher Einfluß sich aber nicht auf Frankreich beschränkt. Er wirkt nach England hinüber und weckt den Wetteifer dieser Nation voll Geist und Willenskraft; er bringt den Geschmack nach Deutschland und die Wissenschaft nach Rußland; und ganz Europa verdankt seine feine Sitte und seine gesellige Bildung dem Hof Ludwigs XIV.

Von Leiden und von Verbrechen frei waren auch diese vier Jahrhunderte nicht. Friedliche Bürger mögen sich der Pflege der Kunst weihen; das hindert die Fürsten nicht, ehrgeizig zu sein, die Völker nicht, aufsässig zu werden, die Priester und Mönche nicht, heimtückisch zu intrigieren. Im Punkte der menschlichen Bosheit gleichen sich alle Jahrhunderte; was diese vier und nur sie auszeichnet, das ist die Schar großer Talente.

Die Philosophie macht heute so große Fortschritte in der Milderung der menschlichen Sitten. Unserem Jahrhundert scheint es beschieden, die Verbrechen vergangener Jahrhunderte wieder gutzumachen; das wird gelingen, wenn der Geist der Duldung sich durchsetzt. Aber um sagen zu dürfen, wir seien besser als unsere Vorfahren, müßten wir unter denselben Umständen wie sie vor den Grausamkeiten, deren sie sich schuldig machten, zurückschaudern; und es ist nicht bewiesen, daß wir in ähnlicher Lage menschlicher wären als sie. Die Philosophie dringt nicht immer zu den Großen durch, die befehlen, und noch weniger zu den Horden der Kleinen, die ausführen. Sie findet sich meist nur bei Menschen in bescheidener Lebensstellung, die gleich weit von dem herrschsüchtigen Ehrgeiz entfernt sind wie von der engstirnigen Roheit, die in dessen Diensten steht. Das christliche Europa wurde schließlich eine Art ungeheurer Republik, in der das Gleichgewicht der Mächte besser festgelegt ist als einst in Griechenland.

Trotz den Kriegen, die der Ehrgeiz der Könige erregt, und trotz den noch wüsteren Religionskriegen verbindet ein nie aussetzender Verkehr alle Teile Europas. Die Künste, nach denen der Glanz der Staaten gewertet wird, sind auf einer Höhe, die Griechenland und Rom niemals kannten.


ENDE


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-philosophische-aufsatze-2437/14


Joe C. Whisper

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