Eine freie Gesellschaft braucht ein Fundament. Teil 23

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In Teil 22 hatten wir Wiedergutmachung und Schadensvergeltung betrachtet. Doch um zu seinem Recht zu kommen um Unrecht wiedergut zu machen und den Schaden zu vergelten muss sich um die Durchsetzung positiven Rechts jemand kümmern.

Ich habe ein Recht auf etwas bedeutet: ich kann dies oder jenes tun, sagen, unterlassen usw.; ich habe ein Recht auf Entfaltung einer meiner Lebensmöglichkeiten. Das muss aber auch heißen: ich habe die Macht, dieses Recht durchzusetzen. Zumindest muss eine solche hinter mir stehen. Ohne die es durchsetzende Macht ist mein Recht wie Nichts.

So kann ein Rechtskonflikt gesehen werden als ein Aufeinanderstoßen von Mächten. Rechtskonflikte sind letztlich Machtkonflikte. Das Recht eines Anderen, das ich unter Umständen gar als Unrecht empfinde, siegt im Rechtskonflikt gegen mich, kann mein Recht sogar zum Unrecht erklären, wenn es sich Macht verschafft. Die Rechtsfrage in Verbindung mit der Machtfrage hat mit der Frage nach dem „wahren“ Recht nichts zu tun. „Wahres“ Recht ist unwirklich, wenn es sich keine Macht verschafft. Recht ist immer nur so „wahr“ wie es Macht hat, sich durchzusetzen. Das „absolut wahre Recht“, dass angeblich über allem steht, auch über der Macht, gibt es nicht. Wir haben nicht darüber zu hadern, ob das so sein soll oder nicht. In der Praxis sind wir ständig mit dieser Wahrheit konfrontiert. Wir sollten uns beeilen, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Es ist nicht jede Negation des Rechts als Unrecht zu qualifizieren. Unrecht ist nur, was die Partei des Rechtskonflikts, die die größere Macht hat, zum Unrecht erklärt. Überspitzt könnte man sagen: es gibt nur ein Unrecht, nämlich gegen bestehende Machtverhältnisse angehen.

Wir sind nur zu dem nicht berechtigt, wozu wir uns nicht berechtigen können. Dieser Umstand ist vor allem von den Vertretern des Rechtspositivismus hervorgehoben worden (insbesondere von Hans Kelsen; 1934). Obwohl die hier vorliegende Serie keine Fortsetzung rechtspositivistischer Tradition ist, wird zugestanden, dass der Bezug des Rechts zur Macht nicht rein zufällig besteht, sondern prinzipiell.

Die Grenzziehung zwischen dem Recht auf der einen Seite und dem Recht auf der anderen erscheint also ganz anders, als das Allgemeinbewusstsein dies zu sehen gewohnt ist. Aber die Lebenserfahrung zeigt uns immer wieder: Recht ist eine Frage der Macht. Macht ist eine der notwendigen Bedingungen, „unter denen allein jeder seines Rechtes teilhaftig werden kann“ (Immanuel Kant). Was gerecht ist und was nicht, entscheiden die Machtverhältnisse. An dieser Wahrheit kann man noch so viel herumdeuteln. Sie wird deshalb nicht weniger wahr. (Friedrich Dürrenmatt: „Man kann die Wahrheit nicht ins Feuer werfen. – Sie ist das Feuer!“)

Im Streitfall setzt sich jenes Recht durch, das sich gegenüber entgegenstehendem Recht Macht verschafft. Das ist auch dort so, wo die Individuen für die Regulierung von Streitfällen Gerichte anrufen. Für die Verkoppelung von Recht und Macht spielt es keine Rolle, ob der Rechtsentscheid durch einen der am Rechtsfall unmittelbar Beteiligten (Faustrecht) oder durch eine unbeteiligte Instanz (Gericht) vorgenommen wird.

Jeder hat nur so viel Recht, wie er mittels Macht behaupten kann. Wo er es nicht kann, gilt das Recht einer anderen Macht. Wenn er dagegen hält, setzt er sich ins Unrecht. Dies nicht nur in dem Sinne, dass es ihm beliebt, solches Unrecht von seiner Warte aus als „eigentlich rechtens“ anzusehen. Das vermeintlich „eigentliche Recht“ ist (wegen der engen Verkoppelung von Macht und Recht) nichts als Unrecht.

In Teil 19 + 20 war davon die Rede, dass es zum Vertragsabschluss dreier Instanzen bedarf. Mit der Existenz von „Promittent“ und „Akzeptant“ ist ein Vertrag nicht vollständig. Es fehlt der „Kavent“, der Bürge, der die Einhaltung der vertraglich vereinbarten Rechte absichert. Keine Vertragssicherheit ohne Bürgen! Die Funktion einer Vertragsbürgschaft kommt auch in der freien Rechtsgemeinschaft einer Vollzugsinstanz zu, also der Exekutive.

Wer in der Freien Gesellschaft ein Recht auf eine bestimmte Eigentumsnutzung innehat, darf dieses Recht in Anspruch nehmen und genießen. Wenn er daran gehindert wird, darf er sich wehren. Wenn er diese Gegenwehr nicht selbst leisten will oder kann, hilft die Exekutive. Die verschafft dem Recht Macht. Welchem Recht? Antwort: nur dem, was erkennbar Recht ist. Der Rechtsinhaber muss einen Rechtstitel vorweisen. Sonst wird die Exekutive nicht für ihn tätig. Ihre Macht steht dafür, dass nur das als Recht Anerkannte sich durchsetzt.

Mit der Anrufung der Exekutive verwandelt sich die dem Recht zukommende Macht in Gewalt. Denn das Funktionspotential der Exekutive ist Gewalt. Bei der Vollstreckung z. B. eines richterlichen Urteils kommt nicht irgendeine Form von Macht zum Zuge, sondern ostentativ die physische, also die Macht in Form von Gewalt. Den in Verträgen festgelegten Rechten und der Rechtsprechung von Richtern wird nur dadurch Geltung verschafft, dass wer einen Rechtstitel hat, diesen mit Gewalt durchsetzen kann.

Die Exekutive bürgt für den Erhalt des durch das Vertragswesen zustande gekommenen Rechtsgefüges. Sie ist also nicht „Vollstreckerin des Volkszorns“, wie Michael Gazzaniga (2011) sie deutet, sondern ganz schlicht die Verteidigerin bzw. Wiederherstellerin von Recht. Sie kann von jedem angerufen werden, der meint, sein Recht erzwingen zu müssen bzw. der sein Recht aufgrund richterlichen Urteils erzwingen darf. Denn „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten… einerlei“ (Immanuel Kant).

Die Exekutivgewalt lässt sich durch die Rechtsgenossen der Freien Gesellschaft nicht beliebig abrufen. Die Rechtslage muss eindeutig sein. Die Eindeutigkeit kann nur durch die Worte geschaffen werden, die in den individuellen Vertägen stehen oder durch das „letzte Wort“, das ein Richter spricht. Der Richterfunktion wollen wir uns jetzt zuwenden.

Feststellung von Unrecht

Wenn manche Leute, wie seinerzeit Albert Schweitzer, unsere Zeit eine „Periode der Rechtlosigkeit“ nennen, dann können sie damit nicht verteufeln wollen, dass sich das Mächtige gegen das weniger Mächtige durchsetzt. Denn dies an sich wäre nicht beklagenswert. Eine solche Aussage ist nur sinnvoll, wenn sie bemängelt, dass es offenbar immer noch nicht gelungen ist, überall die Grenze zwischen Ich-Recht und Du-Recht effektiv durch eine neutrale Instanz ziehen zu lassen und gegen Angriffe zu verteidigen.

Mit der Existenz des Naturrechts sind Rechtskonflikte zwischen Menschen von vorneherein programmiert (s. Abschnitt Teil 6). Aber das Konfliktpotential zeigt sich zunächst nur theoretisch, weil die aus dem Naturrecht ableitbaren „dutiless rights“ zu nichts verpflichten und deshalb niemand etwas schuldet. Die Konflikte flammen erst auf, wenn jemand konkret gesetztes positives Recht missachtet, anzweifelt oder verletzt. Das tut er, wenn er sein Eigentum ohne Rücksicht auf die bestehenden Rechtsverhältnisse unzulässig zu mehren strebt, fahrlässig oder gewinnsüchtig ist oder Rache üben will.

Der entscheidende Schritt im Rechtswesen der Menschheit wurde getan, als man sich entschloss, in der Situation der Uneinigkeit streitender Parteien oder des Rechtsbruchs den Rechtsanspruch den beteiligten Parteien zu entreißen. Eine unbeteiligte dritte Instanz soll Rechtmäßigkeit und Rechtsanspruch beurteilen und festlegen. Diese Instanz ist das Gericht.

Man kann das Festsetzen der Rechtsgrenzen innerhalb einer Gesellschaft natürlich dem Kampf in Form einer gewaltsamen Auseinandersetzung der Streitparteien überlassen. Man kann dem kämpferischen Parteiegoismus aber auch ein Überego entgegensetzen, das im Falle eines Streits die Grenze zwischen dem Recht des Einen und dem Recht des Anderen herausfindet bzw. neu bestimmt. Dieses Überego repräsentiert das Gericht.

Je mehr sich Gesellschaftlichkeit entwickelt, desto mehr wird die Interpretation und Scheidung von Recht und Unrecht Gerichten übertragen. Konfliktparteien werden der Beurteilung und den Entscheiden der Gerichte unterworfen. Die Rechtsbeurteilung unterliegt hier nicht der Willkür eines der am Rechtsstreit Beteiligten (Faustrecht), sondern der Willkür neutraler Dritter. Die nennt man gewöhnlich Schiedsleute, Schlichter oder Richter.

Die Richter einer freien Rechtsgemeinschaft haben bei Rechtsstreiten aufzuklären, ob das, was als Recht gesetzt durch Selbstgesetzgebung (Teil 18 + 19 in #freie-gesellschaft ) war, bei der zur Verhandlung stehenden Tat behindert oder verhindert wurde, mit anderen Worten, ob die Tat gerecht war oder nicht. Richter sind vom strittigen Recht in der Regel persönlich nicht betroffen. Manchmal sind sie es. Dann gelten sie als befangen und müssen ausgewechselt werden.

Richter haben die Aufgabe, die außerhalb und ohne sie zustande gekommenen Rechte zu interpretieren. Außerdem muss er Höhe des durch den Rechtsbruch entstandenen Schadens ermitteln und Höhe und Art der Entschädigung festlegen (s. Teil 21 +22.
Die Rechtsnorm für die richterliche Rechtsauslegung ist jene Norm, die die Rechtsparteien bei ihren Vertragsabschlüssen selbst für sich gesetzt hatten. In einer freien Rechtsgemeinschaft gibt es keine „von oben her“ gesetzte Rechtsnorm. Gerechtigkeit, die unabdingbare Eigenschaft eines professionellen Richters, muss sich stets an der von den Rechtsgenossen gesetzten und aktuell gültigen Rechtsnorm orientieren.

Richter überprüfen die Gesetzmäßigkeit eines Verhaltens. Das heißt, sie prüfen die Kompatibilität einer Aktivität oder einer Absicht mit dem von den Rechtsparteien gesetzten Recht, also die Kompatibilität mit dem Gesetz (Gesetz im Sinne der Selbstgesetzgebung).

„Wenn der Richter einen konkreten Tatbestand – etwa ein Delikt – als gegeben feststellt, so richtet sich seine Erkenntnis zunächst nur auf ein natürliches Sein…Juristisch wird seine Erkenntnis erst, wenn er den von ihm festgestellten Tatbestand mit dem von ihm anzuwendenden Gesetz in Beziehung bringt“ (Hans Kelsen, a. a. O.). Das läuft letztlich darauf hinaus, die Unrechtmäßigkeit von Verhalten zu ermitteln. Deshalb liegt in der Freien Gesellschaft der Kern der richterlichen Tätigkeit darin, unrechtes Verhalten zu erforschen.

Ein zu beurteilender Rechtsfall kommt immer dann vor den Richter, wenn eine der vor ihm erscheinenden Streitparteien einen Schaden erlitten hat oder meint, ihr entstehe ein Schaden und ihr drohe deshalb Unrecht. Der Fokus beim Rechtsstreit liegt insofern nicht beim Recht, sondern beim Unrecht, worauf vor allem Hans Kelsen hingewiesen hat (a. a. O.).

Stets ist der Richter mit der Behauptung des Klägers konfrontiert, der Beklagte habe Unrecht getan bzw. plane, dies zu tun. So hat die richterliche Tätigkeit zum Ziel, diese Behauptung zu bestätigen oder zu widerlegen. Das ist auch dann der Fall, wenn eine Unrechtstat noch gar nicht begangen wurde, sondern nur ein Rechtsstreit der Parteien, der Unrechtspotential birgt, geschlichtet werden muss.

Bei einem vorliegenden Rechtsstreit sprechen die Richter das „letzte Wort“. Das „letzte Wort“ gibt den streitenden Parteien ihr Recht, das zwischenzeitlich durch den Richter suspendiert war, in „gerechter Verteilung“ wieder zurück. Was Recht ist und was Unrecht, wird aufgrund eines „letzten Wortes“ bestimmt.

Ein Richter macht geschehenes oder vermeintliches Unrecht auf dem Wege der Rechtsauslegung ausfindig. Richter setzen kein Recht. Sie deuten nur das ihnen vorgelegte Recht. Und sie ermitteln und definieren daraufhin das den Streit verursachende Unrecht. Insofern greifen sie in vorliegendes Recht nicht ein. Sie stellen nur klar, ob ein Verhalten dem vorliegenden Recht entspricht. Mit der Rechtsschöpfung selbst haben sie nichts zu tun. Sie interpretieren nur bereits geschöpftes Recht.

Aber diese „Nur“ hat es in sich. Es stellt sich nämlich hier wieder (ähnlich s. Einleitung Teil 8) ein erkenntnistheoretisches Problem. Ein rechtschöpfendes Element bei der Auslegung des außerhalb seiner Zugriffssphäre entstandenen Rechts ist beim Richter nicht auszuschließen. Richterliches Tun ist kein bloßes Subsumtionsverfahren. Im Akt der Rechtsauslegung liegt nämlich, worauf vor allem Hans Kelsen (a. a. O.) und Josef Esser (1972) hingewiesen haben, auch ein Teil Rechtserzeugung. Das ist die Tücke der sog. juristischen Hermeneutik (Auslegungskunst). Sie ist bisher wenig beachtet worden. Vor allem Josef Esser war es, der die damit verbundene Problematik umfassend untersucht hat.

Die Tätigkeit des Richters ist beendet, wenn ein Tun oder dessen Planung als Unrecht festgestellt wurde und ein Urteil darüber vorliegt. Die Art des Unrechts, der Verursacher, die Schadenshöhe (Umfang der Wiedergutmachung; Teil 22 in #freie-gesellschaft ) und der Modus der Tat (versehentlich, fahrlässig, vorsätzlich) müssen bekannt und schriftlich fixiert sein. Die Durchsetzung des richterlich festgestellten Rechts ist dann Sache der Geschädigten (in der Freien Gesellschaft in der Regel eine Versicherung, die vorab Schadensersatz geleistet hat).

Im Zusammenhang mit der richterlichen Rechtsdeutung ist die Sprache der Rechtsniederlegung wichtig. Die zu verhandelnde Verträge sind in der Regel in einer bestimmten Sprache abgefasst. Der Richter muss mit der Vertragssprache so vertraut sein, dass er auch Nuancen der Vertragsgestaltung erkennt und zu deuten weiß. Dieser Umstand muss bei der Richterbestallung berücksichtigt werden und das Anforderungsprofil für diesen Berufstand wesentlich mitbestimmen.

Die Durchsetzung des richterlichen Urteils obliegt jener der streitenden Parteien, die den Rechtstitel, d. h. das beurkundete Gerichtsurteil in Händen hat. Diese Urkunde ist so etwas wie ein Befehl für die Exekutive. Der Befehl wird dieser durch die Siegerpartei des Rechtsstreits erteilt. Insofern ist das Gericht nur eine indirekte Machtinstanz. Seine Macht ist dennoch nicht zu unterschätzen (s. o.: die Tücke der Hermeneutik).

Für Heute ist erst mal Schluss und Ende von Teil 23. In Teil 24 der Serie #freie-gesellschaft geht es weiter.

In Hochachtung

Euer Zeitgedanken

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