Eine freie Gesellschaft braucht ein Fundament. Teil 21

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Wie schon in Teil 20 #freie-gesellschaft angekündigt, müssen wir uns um die Rechtsschutzeinrichtungen kümmern. Dazu wird heute in Teil 21 und auch im darauf folgenden Teil 22 die Lesezeit etwas mehr strapaziert. Diese Notwendigkeit besteht darin, um Zusammenhänge nicht willkürlich zu durchbrechen, da es dem Gesamtverständnis abträglich ist.

Die Verbindlichkeit positiven Rechts gründet bei freien Rechtsgemeinschaften auf dem Versprechen der rechtsetzenden Individuen, die stets auch die Verpflichteten sind (wie wir ausführlich in den vorausgehenden Teilen #freie-gesellschaft festellen konnten). Das sind diejenigen, die sich ihre Verhaltensregulative (ihre Gesetze) in Vereinbarungen und Verträgen selbst schaffen. Daraus folgt aber nicht, dass die so geschaffenen Rechte gesichert sind. Dafür bedarf es eines Rechtsschutzwesens.

Ein Rechtsschutzwesen ermöglicht das, was man schon seit geraumer Zeit einen rechtlichen Zustand nennt. „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechtes teilhaftig werden kann“ (Immanuel Kant).

Soll Lebensentfaltung möglich sein, dann muss damit notwendig auch Eigentumsnutzung möglich sein (wie bereits in Teil 11 angesprochen), ganz gleich, wie man sonst über (viel oder wenig) Eigentum denken mag. Weil persönliches Eigentum - in welcher Form und in welchem Umfang auch immer - Möglichkeitsbedingung für die Lebensentfaltung ist, muss Rechtsschutz stets Eigentumsschutz sein. Ist im Folgenden von Rechtsschutz die Rede, dann ist immer Eigentumsschutz mitzudenken. „Eigentum ist kein Sachenrecht, sondern ein Verhältnis zu der Sache, in welchem alle Sachenrechte gründen“, sagt der Rechtstheoretiker Gustaf Radbruch, (1970). Über die Bedingung der Möglichkeit der Eigentumsnutzung sagt er nichts. Die wohl wichtigste dieser Bedingungen ist der Eigentumsschutz.

Besonders schutzbedürftig ist der menschliche Leib (das Leibeigentum). Innerhalb einer freien Rechtsgemeinschaft darf er und seine Nutzung ohne die freie Zustimmung des Eigentümers nicht vernichtet, verletzt oder behindert werden, z. B. anlässlich einer zwangsbewirkten Einberufung zum Militärdienst. Desgleichen darf die Nutzung jedes weiteren Eigentums ohne Zustimmung des Eigentümers nicht be- bzw. verhindert werden, etwa durch Abdrängen des Eigentümers von seinem Eigentum, durch Zerstörung oder Beraubung. Die Rechtssicherungseinrichtungen haben die Aufgabe, die Fremdnutzung individuellen Eigentums auszuschließen und es von Zerstörung zu bewahren.

Eine Behinderung bzw. Verunmöglichung der Eigentumsnutzung hat zuweilen natürliche Ursachen, herbeigeführt durch Erdbeben, Stürme und Überschwemmungen usw. Sie kann aber auch durch Menschen bewirkt sein, z. B. durch Krieg, Raub und Betrug. Die Rechtsgenossen müssen in jeder Beziehung und gegen alle Unbill ihr Eigentum schützen. Sie wappnen sich sowohl gegen eigentumsschädigende Naturereignisse als auch gegen eigentumsschädigendes Verhalten ihresgleichen. In der hier vorliegenden Veröffentlichung #freie-gesellschaft geht es nur um jene Schutzeinrichtungen, die die durch menschliches Verhalten verursachten Schäden verhindern bzw. beseitigen sollen.

Unrecht war im Abschnitt Teil 17 als Eigentumsschädigung und somit als Behinderung der Eigentumsnutzung definiert worden. Zur Verhinderung der von Menschen verursachten Eigentumsschäden hat die Freie Gesellschaft wie jede andere Gesellschaft eine Reihe von Einrichtungen. Die haben folgende Aufgaben:

  1. Eigentumsschäden gar nicht erst aufkommen lassen;
  2. aktuell sich anbahnende Eigentumsschädigungen unterbinden;
  3. Eigentumsschäden auf dem Wege einer Entschädigung zeitnah zu ersetzen 4. Die Verursacher von Schäden ermitteln;
  4. die Verursacher zwecks Schadensersatz dingfest machen;
  5. den Schadensersatz beim Schadensverursacher durchzusetzen;
  6. beurteilen, inwiefern und nach welchem Modus (versehentlich, fahrlässig, absichtlich) der Schaden entstanden ist und wie hoch er ist. Diese Aufgaben waren schon früh als zentrale Rechtsschutzfunktionen erkannt, mit wie viel Ernst auch immer sie wahrgenommen wurden.

Die Einrichtungen, die den Rechtsschutz leisten, sind in der Freien Gesellschaft nicht zu einem Konzern verbunden. Außerdem sind sie auf allen Ebenen Privatbetriebe. Diese beiden Merkmale unterscheiden die Einrichtungen wesentlich von denen in Staatsgesellschaften. In der Freien Gesellschaft finden wir daher so etwas wie „öffentliche Betriebe“ für den Rechtsschutz nicht.
Ein wichtiges Merkmal des rechtlichen Zustands einer Gesellschaft ist die Art, in der die Beseitigung eines durch Menschen verursachten Eigentumsschadens geschieht. In der Freien Gesellschaft erfolgt sie durch eine Vergeltung, die letztlich der Schadensverursacher leisten muss. Die Form der Vergeltung ist Wiedergutmachung (im Folgenden: Vergeltung von Unrecht.

Aufgrund des Naturrechts steht das Recht des Einen gegen das Recht des Anderen (s. Teil 6). Dieses Dilemma wird durch das statuarische Rechts behoben (s. Teil 15 ff). Ob sich statuarisches Recht wirklich durchsetzt, ist eine Frage der an das Recht gekoppelten Macht (im Folgenden: erst ab Teil 22 genaueres).
Darüber, ob ein Recht besteht oder nicht, kann Streit entstehen. Streitende Parteien werfen sich gegenseitig vor, im Unrecht zu sein. Der Streit kann dadurch geschlichtet werden, dass eine Instanz das sog. „letzte Wort“ spricht. Mit dem „letzten Wort“ wird eindeutig festgelegt, was als Recht und was als Unrecht zu gelten hat. Diese Aufgabe kommt dem Gerichtswesen zu (wie dieses sich gestalten müsste werde ich im nächsten und übernächsten Teil behandeln).

Zuerst betrachten wir Vergeltung von Unrecht.

Begangenes Unrecht bleibt weder für den folgenlos, der es erleiden musste, noch für den, der es getan hat. Die Rechtslehre spricht in diesem Zusammenhang von „Rechtsfolgen“, wo es doch besser „Unrechtsfolgen“ heißen müsste (so wie bei Hans Kelsen; Nachdruck 2008). Die Unrechtsfolge ist bei jeder Unrechtstat dieselbe: ein Schaden einerseits und die Vergeltung des Schadens andererseits.

Die Schadensvergeltung hat sowohl einen physischen als auch einen meta-physischen Aspekt. Der physische Aspekt ist die Wiedergutmachung des Schadens, der Schadensersatz. Der meta-physische kommt nur bei Verbrechen ins Spiel. Beim Verbrechen wird nicht nur eine Eigentumsschädigung am Ich bewirkt (Schädigung des Ich als „Ich-Leib“). Auch das Ich selbst ist beschädigt (Erniedrigung des Ich als Person). Diese Seite der Schadensvergeltung heißt Sühne.

Bevor wir die beiden Seiten der Vergeltung näher in Augenschein nehmen, sollte die Voraussetzung geprüft sein, die es dem Menschen überhaupt gestattet, für bestimmte Handlungen Vergeltung zu fordern. Das bedeutet, der Freiheitsbegriff muss noch einmal, und zwar eingehender als bisher und bezogen auf die aus ihm fließende Verantwortung, erörtert werden (im Folgenden: der etwas längere nachfolgende Part. Das „Verantwortlich sein“ für eigenes Tun rechtfertigt eine Schadensvergeltung (im Folgenden: in Teil 22 und auch etwas länger)

Freiheit und Verantwortung

In meiner bisherigen Darstellung habe ich den Freiheitsbegriff einigermaßen unbedarft und unreflektiert verwendet, ohne dass die freiheitsrelevanten Aussagen dadurch Schaden erlitten. Dabei ging ich davon aus, dass jeder auch ohne tiefer gehende Reflexion ein mehr oder weniger stimmiges Verständnis von Freiheit schon hat. Dieses Vorverständnis reicht aus, um das in den früheren Abschnitten Erörterte nachzuvollziehen. Das gilt für die Rechtfertigung der Unrechts-Vergeltung nun nicht mehr. Dafür muss Freiheit so weit herausgearbeitet sein, dass ihre Verbindung mit der Verantwortung sichtbar wird.

Nur auf der Basis von Verantwortung ist ein wahrhaft freies Rechtswesen zu errichten, insbesondere in den Teilbereichen Vertrags-, Rechtssicherungs- und Vergeltungswesen. Soll „Verantwortung“ in diesen Praxisbereichen nutzbar gemacht werden können, bedarf es eines tragfähigen Fundaments. Das ist mit den bisherigen Aussagen über Freiheit (s. vor allem Teil 5 in #freie-gesellschaft) nicht gelegt.

Dass mit Freiheit auch immer Verantwortung verbunden ist, das sieht nicht jeder sofort, will es vielleicht auch gar nicht sehen. Für die Rechtfertigung der Vergeltung einer Schadens ist unerlässlich, dass eine solche Verbindung nachweisbar vorhanden ist. Um so dringlicher erscheint es, die Unauflöslichkeit dieser Verbindung zu zeigen.

Nachdem das Ich in seinen beiden Daseinsweisen dargelegt und die Freiheit des Ich und des Du verortet wurde (s. Abschnitte Teil 3 bis Teil 5), besteht eine hinreichend konturierte Ausgangsbasis für die folgenden Überlegungen.

Über das, was Freiheit bedeutet, gibt es voneinander abweichende Auffassungen. „Es gibt kein Wort, dem man mehr unterschiedliche Bedeutungen gegeben hätte als dem Wort Freiheit“, wusste schon Charles-Louis de Montesquieu (Nachdruck 1965). In einem neueren Freiheitsbuch (Detmar Doering, Traktat über Freiheit, 2007) spricht der Autor von der Gefährdung der Freiheit durch „begriffliche Beliebigkeit“. Beiden Autoren ist zuzustimmen. Leider beseitigen dieses Dilemma auch sie nicht.

Das Wort „Freiheit“ wird gewöhnlich nicht so aufgefasst, als sei damit ein unbändiges Drauflos-leben-dürfen gemeint. Vielen bedeutet Freiheit aber – um nur einen Aspekt herauszugreifen - frei sein „von eines anderen nötigender Willkür“ (Immanuel Kant). In diesem Sinne wird wohl jeder als freier Mensch leben wollen. Das bedeutet, dass der Begriff Freiheit zunächst als Freisein von Behinderungen, von unberechtigter Beeinträchtigung der Eigenspontaneität, verstanden und auch so definiert wird.

Der Freiheitslehrer Gerald MacCallum bietet hierfür folgende Formel an: „x ist frei von y für z“ (der Freiheitsträger x ist frei vom Hindernis y für die Aktion z). Freiheit meint hier: Nichtbehinderung der Aktivitäten des Ich. Man nennt die so definierte Freiheit negativ („negative Freiheit“), weil damit das Nichtvorhandensein, also die Abwesenheit von etwas im Blick steht: „Freisein von…“ An solche Freiheit denken wir, wenn wir Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“ lesen. Freiheit im Sinne der Nichtbehinderung ist die – von John Locke so bezeichnete – natürliche Freiheit, Motto: der Eigenspontaneität ihre Bahn!

Diesem Freiheitsbegriff liegt die Beobachtung zugrunde, dass wir Menschen leiden, wenn wir hinsichtlich unserer Spontaneität ungebührlich eingeschränkt sind. Daraus schließen wir, dass es etwas in uns gibt, das die Beschränkung nicht erträgt. Wir nennen dies „Freiheit“ und sehen in der Freiheit eine Gabe der Natur (Mensch als „freiheitsbegabtes Wesen“; s. Abschnitt Teil 2 in #freie-gesellschaft) und im Recht auf Freiheit ein Naturrecht (s. Teil 6).

Freiheit im Sinne des Freiseins von Behinderungen, insbesondere von Behinderungen durch Zwänge, das ist jene Freiheit, die der Liberalismus des 19. Jahrhunderts meinte und für die er zu Recht auf die Barrikaden ging. Zu mehr als zu einer Proklamation der „negativen Freiheit“ haben sich allerdings weder die Liberalen noch ihre Nachfolger, die Libertären, durchringen können. Freiheit ist von Vielen überhaupt nur als „negative Freiheit“ intellektuell zu erfassen. So konnte und kann es nicht gelingen, Freiheit mit Verantwortung zusammenzubringen. Aus diesem Grunde wurde es bis heute nichts Rechtes mit der Freiheit der Liberalen. - Mit dem bloß „negativen“ Freiheitsbegriff kommt man nicht sehr weit.

Nun gibt es in unserem Alltag Phänomene, die zwar auf so etwas wie Freiheit hindeuten, die jedoch mit dem „negativen“ Freiheitsbegriff nicht zu erfassen sind. Der Freiheitsbegriff erfordert weitere Untersuchung. Um die folgende Darstellung durchsichtig zu machen, gehe ich auch hier wieder von Beobachtungen aus, und zwar solchen, die jeder in seiner Umwelt bzw. bei sich selbst machen kann.

Bei der Beurteilung einer Tat durch einen Richter kommt ein Freiheitsverständnis ins Spiel, das sich vom Freiheitsbegriff des MacCallum erheblich unterscheidet. Beriefe sich ein Richter auf die Freiheitsdefinition des MacCallum („negative“ Freiheit), müsste er zum Täter sagen: eigentlich dürfte ich Dir gar nicht an den Kragen, jedenfalls nicht, wenn ich ein freiheitsliebender Mensch bin. Denn du als Freiheitsträger x hast dich des Freiheitshindernisses y (Schaufensterscheibe des Juweliers) entledigt für die Wegnahmeaktion z (Juwelenraub). - Dass so etwas ein Richter niemals sagt, wissen wir.

Der Richter weist dem Täter Schuld an seiner Tat zu. Das kann er nur, wenn er die Ursache der Tat im Täter verortet. Oft setzen wir – eigentlich nicht zulässig(!) – Schuld mit Ursache gleich. Unsere Rede „den Täter trifft Schuld an der Tat“ soll aber ausdrücken, dass die Ursache der Tat bei ihm zu suchen ist. Weil er Ursache der Tat ist, läd er die Schuld auf sich, die aus ihr erwächst - ein wohl zu beachtender Sachverhalt.

Augenscheinlich geht es hier aber nicht um Ursächlichkeit im Sinne von Naturkausalität, die notwendig eine bestimmte Wirkung hervorbringt. Der Richter setzt voraus, dass der Täter die Möglichkeit hatte, auch anders als geschehen zu handeln, also nicht notwendig durch etwas außer ihm zur Tat bewegt worden zu sein. Er unterstellt einen Kausalzusammenhang zwischen Täter und Tat – aber nicht im Sinne von Naturkausalität, sondern von einer Kausalität, die den Aspekt „Es-hätte-nicht-sein-müssen“ in sich trägt.

Selbst Kinder haben ein waches Gefühl dafür, dass sie gegenüber einem durch sie Geschädigten „schuldig“ sein können. Sie sind durchaus in der Lage, sich selbst als Quell für bestimmte Handlungsabläufe zu sehen, obgleich sie diesen Zusammenhang noch nicht mit vollem Bewusstsein erfassen. Das führt im Schadensfall - Fußball in der Fensterscheibe - zu heftigem und lautstarkem Abstreiten, wenn von einer Kindergruppe Aufklärung über die Tat verlangt wird.
Halbwegs wache Kinder wissen natürlich längst, wie z. B. bei einem Ballspiel die kausalen Zusammenhänge sind (im Sinne von Naturkausalität). Darüber streiten sie auch nicht. Bei dem Streit geht es um Schuld. Wer ist schuld an dem Unheil? Der Paul, von dessen Fuß der Ball in das Fenster gelangte; der Fritz, der vorgeschlagen hat, hier auf dem Platz dürfe man spielen, oder die Tina, die behauptete, in dieser Gegend seien alle Fenster aus Panzerglas? Nach der Zersplitterung der Fensterscheibe machen die wildesten Schuldzuweisungen die Runde. Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen.

Auch dieses Phänomen ist vor dem Hintergrund des gewöhnlich ins Feld geführten „negativen“ Freiheitsbegriffs nicht zu erklären. Das kindliche Schulderlebnis ist offenbar ebenfalls das Erlebnis einer Ursächlichkeit, das die Komponente „Es-hätte-nicht-sein-müssen“ in sich birgt.

Wir ahnen an dieser Stelle der Erörterung schon, dass es sich bei der Kausalität im Sinne von „Schuld“ um etwas anderes handeln muss als um Naturkausalität. Jedenfalls ist eines klar: Das Vorgehen des Richters und der Streit der Kinder haben keinen Bezug zum Freiheitsbegriff im Sinne von „der Eigenspontaneität ihre Bahn!“

Wenn irgendwo irgendwann Kausalität ins Spiel kommt, dann ist zwecks Aufklärung Immanuel Kant die richtige Adresse. Es gibt wohl kein Werk von Kant, in dem nicht an irgendeiner Stelle das Wort „Kausalität“ auftaucht. Kant wäre nicht Kant, wenn er das Verhältnis der Kausalität nicht auch zur Freiheit bedacht hätte. Er hat es ausgiebig bedacht, vor allem in seinen späten Werken „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“, „Metaphysik der Sitten“ und vor allem in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Kant hat auch als erster die Fußangeln gemeistert, die in der von ihm aufgewiesenen Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit (s. Teil 5 in #freie-gesellschaft) verborgen sind. Und er hat gesehen, dass die Bewusstseinsentwicklung des Menschen einen großen Sprung machen muss, um Freiheit vollumfänglich zu erfassen.
Kant hatte seinen Lebensunterhalt anfänglich vor allem in zwei Praxisbereichen bestritten: dem Unterricht in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Von grundsätzlichen Erwägungen ausgehend (Wie sind in der Mathematik und in den Naturwissenschaften die faktisch vorhandenen - wenn auch oft nicht immer als solche gewussten - synthetischen Urteile apriori möglich?) geriet er im Anschluss an David Hume in tiefgründige Untersuchungen, von deren Umfang sich jeder überzeugen kann. Die Untersuchungen führten unter anderem zu dem Ergebnis, dass mit den Erkenntnisvermögen, die uns Menschen zur Verfügung stehen, das Freiheitsphänomen nicht zu erfassen ist. Jeder Schritt unseres Geistes in Richtung Freiheit über die Grenzen unserer Erkenntnisvermögen hinaus ist Anmaßung.

Der Versuch, Freiheit dingfest zu machen, endet in der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit (s. o.). Um angesichts dieser Antinomie weiter zu kommen, machen wir uns zunächst einmal klar: Die von uns erlebte Naturkausalität ist gar nicht „in der Natur“. Kant zeigt, dass sie aus einer Struktur unseres weltbildenden Geistes stammt. Wir selbst sind es, die Kausalität in die Welt tragen. Vorgänge oder Zusammenhänge, die wir erleben, deuten wir kausal. So liegt es in uns, ob und wie wir einen Kausalzusammenhang sehen wollen oder nicht.

Aber diese Erkenntnis bietet uns noch keinen hinreichend praktikablen Freiheitsbegriff. Um dahin zu gelangen, führt uns Kant einen langen Weg, den wir hier nur grob nachzeichnen können. Zunächst erinnert er uns daran, dass der Freiheitsträger immer ein bestimmtes Ich ist, und nicht ein Verein, eine Gruppe, eine Gesellschaft („Freie Gesellschaft“; s. die Erläuterung des Teiles 2). Welche Beobachtung liegt hier zugrunde?

Wie oft am Tag sagen wir ich: ich laufe, ich esse, ich forsche, ich erkenne…“ und vor allem „ich will“? Wir sagen nicht etwa „es läuft mich“, sondern ganz dezidiert „ich laufe“, das heißt: ich bin es, der läuft. Damit drücken wir einen bestimmten Erlebnisgehalt aus: Ich erlebe mich selbst als Spontanzentrum des Laufens. Das heißt auch: ich erlebe mich als Verursacher des Laufens. - Das sind Beobachtungen, die bei der Diskussion der anstehenden Fragen, insbesondere der Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, zu berücksichtigen sind.

Ohne auf die Untersuchungsergebnisse der Daseinsweise des freiheitsbegabten Ich noch einmal einzugehen (s. Teil 3), halten wir fest: Wir sind nicht nur Auswuchs („habitus“), sondern auch Quell unserer Spontaneität („persona“). Sofern sich das Ich als „intelligibles“ Ich erlebt (s. Abschitte Teil 3 und Teil 5), weiß es von sich als vom Spontanzentrum seines Lebens, weiß von sich als vom Erzeuger („phänomenaler Urheber“; Adolf Reinach, 1953) aller seiner Aktivitäten. Dabei wird die Spontaneität als „inneres Tun“ (a. a. O.) erlebt.

Aufgrund der besonderen Beschaffenheit unseres Ich haben wir „das Vermögen, eine Begebenheit von selbst anzufangen“ (Kant). Das heißt, wir sind hinsichtlich der Ursächlichkeit unseres Verhaltens autonom. Solche Autonomie im Blick spricht Kant von Freiheit. Autonomie und Freiheit sind für ihn „Wechselbegriffe“: „Mit der Idee der Freiheit [in diesem tieferen Sinne] ist…der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden.“ Sofern das Ich hinsichtlich seiner Eigenspontaneität autonom ist, ist es der Ort der Freiheit. Das Ich ist dies als Person und nicht als Habitus. Als Habitus ist es stets der Naturkausalität unterworfen. Vor dem Hintergrund der Dualität des Ich lassen sich also Freiheit und Notwendigkeit zusammendenken, ohne dass damit die unaufhebbare Antinomie zwischen beiden eingeebnet werden muss.

Worauf bezieht sich nun die Freiheit im Sinne von Spontanautonomie? Sie bezieht sich auf unseren Willen. „Der Wille ist eine Art Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen ist, durch den Einfluss fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden“ (Kant). Nur bei der Freiheit im Sinne von Willensfreiheit kann sinnvoll gefragt werden, ob und wie sie „mit jedes anderen Freiheit…zusammen bestehen kann“ (Kant). Sie allein ist die gesellschaftlich relevante Freiheit.

Die Autonomie des Willens bemächtigt, Eigenspontaneität auch zu hemmen. Andernfalls folgten wir ungebremst den inneren und äußeren Anreizen, den bedingten und unbedingten Reflexen (s. Konrad Lorenz und Paul Leyhausen, 1971) und belästigten dadurch unsere Mitwelt. Anreize steuerten uns so, wie sie die Tiere steuern. Aber mit der Freiheit des Willens ausgestattet ist es uns möglich, dieser Steuerung zu entkommen und sie selbst zu übernehmen. Das ist die Voraussetzung für normgerechtes Verhalten. Es ist sogar auch die Voraussetzung für das Setzen von Normen.

Wir sind keinen fremden (Natur-) Ursachen bedingungslos unterworfen. Wir können in eigener Regie Pläne schmieden, uns Ziele setzen, Verträge abschließen, in denen wir uns selbst Pflichten auferlegen. Wir können unabhängig von anderen Entscheidungen treffen, auf autonome Weise agieren usw. Jede Preisverhandlung (Ermittlung des Wertes eines Tauschguts) zwischen zwei Handelspartnern wird u. a. von der Befürchtung umgetrieben, dass der jeweils andere die Möglichkeit hat, nein zu sagen und damit aus dem erwünschten Geschäft auszusteigen. Diese Befürchtung, die die Freiheit des Anderen in Rechnung stellt, diszipliniert die Handelspartner.

Auch beim Abwägen, also dort, wo es um das Hin und Her einer Entscheidungsfindung geht, tritt Willensfreiheit in Erscheinung. Es ist unmöglich, den Vorgang des Entscheidens z. B. zwischen dem Genuß einer Sahnetorte und dem Einhalten eines Diätplans ohne vorausgesetzte Willensfreiheit zu beschreiben.

Willensfreiheit basiert auf dem Zusammenspiel von Kausalität und Autonomie. Sie bedingt, dass die Kausalkette, die der menschliche Geist normalerweise als regressus ad infinitum konstruiert, an einer Stelle unterbrochen ist, nämlich im Ich, in der Person. Nur so ist denkbar, dass die Person selbst als Verursacherin bestimmter Handlungsvollzüge fungiert.

Kant betont immer wieder, dass die Freiheit, so irreal sie uns auch erscheinen mag, eine „Möglichkeit der Kausalität“ für den Realbereich darstellt. Sie wirkt sich in der Realität aus, ist auch als Realursache erlebbar, allerdings als solche nirgendwo aufweisbar! Das lässt vermuten, dass hier ein Kausalbegriff ins Spiel kommt, der nichts mit einer in sich geschlossenen Ursache-Wirkungs-Relation zu tun hat.

Somit wäre jede Warum-Frage zurück hinter die Kausalität eines „Ich will“ unsinnig. Man unternimmt zwar immer wieder redliche Rechtfertigungsversuche für das eigene Wollen. Eine diesbezügliche Warum-Frage kann letztlich aber immer nur mit den vier Worten „Weil ich es will“ sinnvoll beantwortet werden. Der Regressus des Ursächlichen hat im Wollen des Ich sein Ende.

Viele Eltern neigen dazu, anlässlich ihrer Willensbekundungen ihren Kindern gegenüber auf deren Warum-Fragen langatmige Erklärungen abzugeben. Sie getrauen sich nicht, die einzig wahre Begründung, nämlich: „Weil ich es will!“, in aller Deutlichkeit und ohne Umschweife auszusprechen. Kinder haben ein feines Gespür dafür, dass sich hier ein Persönlichkeits- bzw. Authentizitätsdefizit verbirgt. Sie lernen daraus schnell, wie sie künftig ihrem Wollen lauthals Gehör verschaffen können.

Bei seiner Freiheit ist das Ich bereits als schlicht Dahinlebendes, allerdings noch nicht ganz. Ganz ist es dort erst, wenn es sich als Letztursache für bestimmte Geschehnisse zu begreifen gelernt hat. Über unsere Begabung zur Freiheit würden wir nichts wissen, wenn wir kein Bewusstsein über unsere Eigenspontaneität entwickeln könnten. Dass wir ein solches Bewusstsein haben, wenn auch oft nur vage, zeigt die Tatsache, dass wir stets die Redewendung „Ich will“ und nicht „Es will mich“ gebrauchen. „Ich will es“ bedeutet: Ich habe es selbst in der Hand, dies zu tun, oder es zu unterlassen. Dass damit eine Kausalität in die Welt gelangt, die nicht fremdbewirkt, sondern selbstbewirkt ist, wird nicht immer erkannt. Und das bestreiten auch Viele. Der Streit um den feien Willen veranlasste die britische Hirnforscherin Susan Greenfield zu dem Bonmot: „Wer denkt, er habe einen freien Willen, der hat einen freien Willen.“

Nur dann, wenn sich das Bewusstsein bis zum Wissen der Eigenspontaneität, d. h. zum „reinen“ Ich durchgearbeitet hat, kann der Mensch hinsichtlich seiner Spontaneität, die er als Lebewesen (auch unbewusst) schon hat, autonom sein. Diese Autonomie ist die Voraussetzung dafür, dass das Ich seine Spontaneität nicht nur frei zulassen, sondern auch gezielt lenken kann. Es kann die Erwägung anstellen: Soll ich dieses Bestimmte jetzt tun oder doch lieber nicht? Selbst beim Lügen wissen wir sehr genau, dass nur wir es sind, die Anderen gegenüber willkürlich Informationsverzerrung betreiben.

Aus all dem wird klar: Das Ich ist zwar der Freiheit teilhaftig. Aber Freiheit ist keine Eigenschaft des Ich in dem Sinne, in dem wir von sinnlich präsenten Eigenschaften sprechen. Das Ich lebt in der Freiheit, sofern es aus seiner Freiheitsbegabung etwas macht. „Denn die Freiheit ist inhaltsleer. Wer sie nicht zu benutzen weiß, für den hat sie keinen Wert“, schreibt Max Stirner (Nachdruck 1972). In der Freiheit leben, das meint vor allem: in der Möglichkeit freier Zielsetzung leben. Und die selbstgesetzten Ziele werden in der Folge Ursache für zielgerichtetes Handeln - auch für das Einhalten von Versprechen, auch für das Begehen von Verbrechen.

Das Ich lebt in der Freiheit, obwohl diese Freiheit als reale Erscheinung nicht zu erfassen ist. Willensfreiheit ist materiell (physisch) nicht festzumachen, jedenfalls nicht im Sinne eines empirisch Fassbaren. Freiheit lässt sich nicht erkennen, auch wenn einige Wissenschaftler dies zu glauben scheinen, wenn sie mit hochkomplizierter Gerätschaft nach der Freiheit in unseren Köpfen suchen. Freiheit ist nur in ihren Auswirkungen zu spüren, z. B. anlässlich des Leidens überall dort, wo unser freier Wille unzulässig behindert wird.

Das Ich hat keine Macht über sein Schicksal. Aber als freiheitsbegabtes hat es Macht in seiner Rolle als Antwortgeber auf die Fragen, die sein Schicksal ihm stellt. Insofern ist ihm Ver-Antwortung für diese Antworten zuzuweisen. Verantwortlichkeit für das eigene Tun beginnt dort, wo keine Naturursache für dieses Tun aufweisbar ist. Sie ist insofern Selbstverantwortung.

Die Selbstverantwortung für das eigene Tun ist in der Freiheit des Willens begründet. Sie ist die Voraussetzung für die Beseitigung selbstverursachter Schäden bzw. für den Vergeltungsanspruch des Schadensopfers. In einer freien Rechtsgemeinschaft muss jeder das verantworten, was er infolge seiner Handlungen Anderen zugefügt hat.

Selbstverantwortung setzt voraus, dass die Kausalkette an einer Stelle unterbrochen ist, nämlich im Ich, in der Person. Nur so ist denkbar, dass die Person selbst als Verursacherin bestimmter Handlungsvollzüge erscheint. Und nur dann, wenn das Ich Letztursache von Begebenheiten ist, kann es Verantwortungsträger sein. Dann kann man ihm auch eine Tatschuld zuweisen. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Verursachung der Tat im Täter und die Interpretation dieses Ursache-Seins als Schuld gesehen werden.

Von Selbstverantwortung zu sprechen, ist sinnlos, wenn Freiheit nicht auch – neben dem Freisein von den Behinderungen der Eigenspontaneität (s. o.) - als Autonomie der Eigenspontaneität, also als Freiheit des Willens gesehen wird. Wer leugnet, dass natürliche Kausalketten auch unterbrochen sein können, dass unsere Spontaneität Letztursache bestimmter Kausalabläufe sein kann, darf niemanden für sein Tun verantwortlich machen. Selbstverantwortung bedingt, dass das Ich prinzipiell frei ist von Fremdbestimmung jeglicher Art.
Resultat dieser Überlegungen ist, dass es nicht möglich ist, Verantwortung zusammen mit dem „negativen“ Freiheitsbegriff zu denken. Der Grund? - Bei der „negativen“ Freiheit wird Kausalität nicht im Ich verortet, sondern im Nicht-Ich (als Verursacher der Behinderung der Freiheit des Ich). Tatursache und Schuld und damit Verantwortung erscheinen hingegen eng mit dem Ich verknüpft.

Verantwortung ohne Freiheit ist keine Verantwortung. Aber es gilt auch: „Freiheit ohne Verantwortung ist keine Freiheit“ (Mathias Döpfner, 2011), jedenfalls nicht im Sinne Kants. Freiheit ist da, wo der Eigenwille Ursache für reale Vorgänge sein kann. Das ist er z. B. beim Treffen von Vereinbarungen und beim Abschluss von Verträgen oder bei der Planung von Verbrechen. Vereinbarungen und Verträge werden wegen frei gesetzter Ziele abgeschlossen. Verbrechen werden wegen frei gesetzter Ziele begangen.

Verträge basieren auf persönlichen Versprechen. Wer verspricht, signalisiert, dass er die Verantwortung für die Erfüllung des Versprochenen tragen will. Jeder Vertragspartner übernimmt die Verantwortung für das von ihm Zu-Liefernde, und zwar in der Form, dass er die Lieferung garantiert: pacta sunt servanda (Hugo Grotius, der nach Detlev Liebs, 2004, diese Formulierung zum ersten Mal verwendet). Verantwortung darf nicht nur gepredigt, sondern muss auch getragen werden.

Selbstverantwortung und Willensfreiheit sind untrennbar miteinander verknüpft. Nicht die Menschen, die immer sehr nett zueinander sind, verdienen moralisch genannt zu werden, sondern jene, die gelernt haben, ihr Wollen und Tun zu verantworten. Noch besser wäre es, wenn sie darüber hinaus gelernt hätten, ihr Wollen und Tun auf den eigenen Verantwortungsbereich zu beschränken. Dann hätten sie nämlich auch gelernt, das Wollen und Tun der anderen – in deren Verantwortungsbereich – zu akzeptieren. (Reinhard Sprenger, „An der Freiheit des Anderen kommt keiner vorbei“; 2013).

Die Freiheit des Willens ermöglicht es dem Menschen, sich Normen zu setzen und sein Verhalten entsprechend zu steuern. Er ist insofern nicht irgendwelchen äußeren oder inneren Reizen ausgeliefert. Er kann sich selbstgesetzten Zielen gemäß verhalten, die für sein Handeln Normcharakter haben. Das tut er auch als Verbrecher. Wer Unrecht oder gar ein Verbrechen begeht, steht in der Verantwortung. Und darauf berufen sich die Anderen, wenn sie eine Wiedergutmachung fordern oder das Verbrechen sühnen.

Wer leugnet, dass natürliche Kausalketten auch unterbrochen sein können, dass insofern unsere Spontaneität letzte Ursache bestimmter Kausalabläufe sein kann, und dass wir deshalb diesen Abläufen nicht willenlos unterworfen sind, dürfte weder Vertragsabschlüsse noch eine Vergeltung von Unrecht erklären bzw. begründen können. Beides baut auf Selbstverantwortung. Ohne Freiheit keine Selbstverantwortung. Ohne Selbstverantwortung kein Vertrag und vor allem keine Vergeltung von unrechtem Handeln.

Nach der nunmehr vorgenommenen differenzierteren Begriffsfassung der Freiheit ist klar, was der oben erwähnte Richter dem Verbrecher eigentlich sagen will: Eine Ursache im Sinne von Schuld kann ich dir nur unter der Voraussetzung zusprechen, dass du (als Mensch im Gegensatz zum Tier!) einen freien Willen hast. Du hättest nicht Ursache der Tat sein müssen. Du hättest die Freiheit gehabt, die Tat zu unterlassen. Denn Du bist hinsichtlich Deiner Spontaneität autonom. Diesen Umstand setze ich bei meinem Schuldspruch voraus – nicht mehr und nicht weniger.

Richter machen die Freiheit im Sinne von Spontanautonomie zur Grundlage ihres Geschäfts. Und schon Kinder fühlen sie, wie das obige Beispiel zeigt. Freiheit des Willens und Selbstverantwortung sind untrennbar miteinander verknüpft. Der Freiheitsbegriff Kants macht eine solche Verknüpfung verständlich. Von Selbstverantwortung zu sprechen, ist sinnlos, wenn Freiheit – neben dem Freisein von den Behinderungen der Eigenspontaneität („negative Freiheit“, s. o.) - nicht auch als Autonomie der Eigenspontaneität, also als Freiheit des Willens gesehen wird.

Ohne vorausgesetzte Willensfreiheit lässt sich der Anspruch auf Vergeltung von Unrecht nicht rechtfertigen. Für wen „der freie Wille lediglich eine Illusion“ ist, wie für Michael Gazzaniga (s. sein Werk „Who’s in Charge?“; Gazzaniga beruft sich auf Siegmund Freud), der hat hier ein Problem. Gazzaniga beruhigt sich mit der These, dass „soziale Vorgänge den Geist des Einzelnen steuern“, woraus letztlich Selbstverantwortung erwächst. Diesbezügliche Beobachtungsdaten und die Antwort auf die Frage, wie das funktionieren soll, bleibt er schuldig. Jedenfalls gibt es für ihn wie für viele seiner Kollegen im Ich keine Verantwortung, weil es ein solche Ich angeblich gar nicht gibt (s. Abschnitt Teil 3 in #freie-gesellschaft ).

Von Willensfreiheit zu sprechen, ist innerhalb der Neurowissenschaft vielfach obsolet. So musste es am Ende dahin kommen, dass angesehene Vertreter dieses Lagers - neben Gazzaniga z. B. auch Hans Markowitsch, Eckart Voland, David Eagleman und andere aus ihren zweifellos interessanten empirischen Untersuchungen den Schluss ziehen: Willensfreiheit ist eine Illusion. - „Wir sollten den Neurobiologen aber für diese Behauptungen nicht allzu böse sein, meint Reinhard Sprenger dazu (2013), sie sind ja nicht selbst dafür verantwortlich, sondern wurden von ihrem Hirn gesteuert“.

Markowitsch treibt seine Auffassung derart auf die Spitze, dass er die Juristen auffordert, ihre gesamte Strafrechts-Theorie und Strafrechts-Praxis in seinem Sinne umzumodeln: „Unser Rechtssystem bedarf einer neurowissenschaftlichen Reform“ (2009). Sollte damit beabsichtigt sein, Unrechtstäter zu entlasten, wäre dies zumindest bedenklich. „Viele Psychologen kritisieren die Handhabung des Rechts auf der Grundlage des freien Willens und der Verantwortlichkeit, ohne zu beachten, dass der Determinismus bei Gültigkeit jedermann zuteil wird: wenn ein Verbrecher seine Tat nicht vermeiden kann, kann auch der Richter nicht umhin, ihn zu verurteilen, noch kann der Henker verhindern, dass er ihn hinrichten muss“, bemerkt treffend der Wissenschaftskritiker Stanislav Andreski (1977).

Reinhard Sprenger fragt in diesem Zusammenhang, „warum die Ergebnisse der Hirnforschung auf so breite Resonanz stoßen. Was macht die Idee, es gebe keinen freien Willen, so attraktiv?… Nun, es ist ein Erlösungsversprechen. Eine Entschuldigungskulisse. Die Annahme…verspricht Entlastung von Verantwortung. Sie schützt uns gegen die Fröste der Freiheit und entbindet uns von der Pflicht zur Autonomie. Man kann sie als Alibi…missbrauchen und so unsere Welt einfacher und dekomplexer machen…Das ist es also, was die Naturwissenschaften bereit stellen: Trost. Sie mildern die tägliche Anstrengung, des eigenen Glückes Schmied sein zu müssen. Sie erklären Schuld und Scheitern, entlasten von Selbstanklage…Entscheidungen verlieren ihr drückendes Gewicht…Tröste dich, du kannst nichts dafür, es war dein Hirn’. - Ein Freispruch erster Klasse“ (2013).

Die menschliche Gesellschaft hat es trotz Kant und seiner Nachfolger bis heute nicht geschafft, Freiheit umfänglich zu erfassen. Im Gegenteil: Der Raum für ein phänomenadäquates Verständnis von Freiheit wird immer enger. Fast die gesamte Neurowissenschaft hat sich im Reiche des Freiheitsanalphabetismus angesiedelt. Inzwischen ist es sogar richtig schick, Freiheit im Sinne von Willensfreiheit zu leugnen bzw. lächerlich zu machen.

Der Rechtsgenosse in einer freien Gesellschaft entwickelt sein positives Recht in Vereinbarungen und Verträgen mit seinesgleichen selbst. Er ist somit frei von sonstigen recht- und pflichtsetzenden, also gesetzgebenden Instanzen. Die Freiheit, die hier ins Spiel kommt, ist zunächst einmal Freiheit im Sinne von „der Eigenspontaneität ihre Bahn!“

Aber noch in einem weiteren Sinne wird hier Freiheit relevant. Vertragsabschluss und Vertragstreue sind nicht denkbar, wenn der Mensch nur der Kausalität im Sinne von Naturkausalität unterworfen wäre. Beim Treffen von Vereinbarungen und beim Abschluss von Verträgen tritt eine Kausalität in Erscheinung, die wir in die Kette der Naturkausalitäten nicht einordnen können. Sie entspringt im Willen des Menschen. Hinsichtlich seines Willens ist der Mensch nicht der Naturkausalität unterworfen. In diesem Sinne ist er frei. Der Begriff der Freiheit kommt hier als Spontanautonomie ins Spiel.

Die Möglichkeitsbedingung für die Rechtsschöpfung und die Rechtstreue ist die Spontanautonomie des Menschen, also die Freiheit des menschlichen Willens. Aufgrund der Spontanautonomie erfolgt die Festlegung positiver Handlungsnormen in der eigenen Regie von Vertragsparteien, also in Form einer Selbstgesetzgebung (s. Teil 18 #freie-gesellschaft).
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der „negative“ Freiheitsbegriff (Der Freiheitsträger x ist frei vom Hindernis y für die Aktion z; kurz: der Eigenspontaneität ihre Bahn!) ist innerhalb der Grenzen, die man ihm setzen muss, durchaus brauchbar. Indes hat uns Kant gelehrt, dass dieser Freiheitsbegriff nicht ausreicht, um bestimmte Gegebenheiten der Zwischenmenschlichkeit zu erklären. Der Aspekt der Spontanautonomie muss einbezogen sein, wenn von Freiheit in vollem Sinne die Rede sein soll, auch im Sinne jener Freiheit, die uns verpflichtet, Verantwortung für unser Tun zu tragen.

So erscheint Freiheit zum einen als Nichtbehinderung der Eigenspontaneität („negative“ Freiheit), zum anderen als Autonomie der Eigenspontaneität. Die Autonomie unserer Spontaneität meinen wir, wenn wir vom freien Willen sprechen.
Man führt den Standpunkt der Beschränkung des Freiheitsbegriffs auf die „negative“ Freiheit gern auf John Stuart Mill zurück. Dabei wird übersehen, dass Mill seine „Civile or Social Liberty“ klar von einer „Liberty of the Will“ unterscheidet und die Themenstellung seines Freiheitsbuches ausdrücklich auf erstere beschränkt, ohne letztere zu leugnen. Mill steht bezüglich seiner Auffassung von Freiheit tief in der Tradition deutscher Freiheitsphilosophie, was seine Hommage an Wilhelm von Humboldt beweist (John Stuart Mill, Nachdruck 2009).

Wie stehen nun die beiden Freiheitsbegriffe zueinander? - Der „negative“ Freiheitsbegriff basiert auf dem Freiheitsbegriff im Sinne von „Spontanautonomie“. Er hat keine andere Funktion als der Spontanautonomie „freie Bahn“ zu schaffen. Von Behinderung der Eigenspontaneität („negative“ Freiheit) zu reden, macht nur Sinn, wenn wir hinsichtlich unserer Eigenspontaneität autonom sind. Fällt diese Voraussetzung weg, dann kann etwas uns Entgegenstehendes (Behinderung der Eigenspontaneität) schlechterdings nicht als unnatürlich oder leidvoll empfunden werden. Hätten wir keinen freien Willen, würden wir gegen uns gerichtete Willkür gar nicht als Behinderung unserer Spontaneität erleben können. Wir würden sie als Naturgegebenheit hinnehmen und im Sinne von Naturkausalität deuten. Wir würden uns darauf klaglos einstellen und so reagieren, wie wir auch sonst auf Naturgegebenheiten reagieren. Der Freiheitsbegriff im Sinne von „der Spontaneität ihre Bahn!“ fällt ohne den Freiheitsbegriff im Sinne von „Spontanautonomie“ in sich zusammen. Lässt man die „negative Freiheit“ für sich allein bestehen – wie dies mancher (auch liberale!) Denker macht -, hätte man gar keine Freiheit. Freiheit als ganze versänke ins Nichts.

Und nun ist Teil 21 in #freie-gesellschaft beendet und Teil 22 folgt.

Heute mal ohne Rechtssätze, sonst passt es nicht mehr in den Blog.

Euer Zeitgedanken.

Sort:  

Die Selbstverantwortung für das eigene Tun ist in der Freiheit des Willens begründet.

Leider fehlt es in einer Gesellschaft, in der vor allem die meisten Entscheider no skin in the game haben, genau daran.

die Verursacher zwecks Schadensersatz dingfest machen;
den Schadensersatz beim Schadensverursacher durchzusetzen;

Auch daran fehlt es in unserem Rechtssystem, das Strafe anstatt Wiedergutmachung in den Vordergrund stellt.
Da darfst Du dann als Opfer einer Straftat als zusätzliche Strafe auch noch den Gefängnisaufenthalt mitfinanzieren und für die Wiedergutmachung deines erlittenen seelischen/körperlichen Schaden interessiert sich bestenfalls der Weiße RIng.

Auch daran fehlt es in unserem Rechtssystem, das Strafe anstatt Wiedergutmachung in den Vordergrund stellt.
Da darfst Du dann als Opfer einer Straftat als zusätzliche Strafe auch noch den Gefängnisaufenthalt mitfinanzieren und für die Wiedergutmachung deines erlittenen seelischen/körperlichen Schaden interessiert sich bestenfalls der Weiße RIng.

und diesen Fehler gilt es zu korrigieren. Und jede freie Gesellschaft ist dazu auch in der Lage. In den späteren Teilen zeige ich Lösungsmöglichkeiten auf, die den Streit zwischen den libertären Minimalstaatlern und den libertären Anarchisten auflösen könnten. Denn das ist ja genau der Streitpunkt, und eigentlich der einzige Punkt, zwischen diesen beiden Lagern.

Leider fehlt es in einer Gesellschaft, in der vor allem die meisten Entscheider no skin in the game haben, genau daran.

Von Politikern aller Seiten hört man immer, dass sie für bestimmte Angelegenheiten die volle Verantwortung übernehmen würden. Diese leere Floskel gilt es zu beseitigen. Das gelingt nur indem man sie zur Verantwortung zieht. Und das kann nicht gelingen, wenn der Verantwortliche seinen eigenen Staatsanwalt und seinen eigenen Richter mitbringt. Und dort ist die Spaltaxt anzusetzen. Und dafür liefert des GG den Spaltkeil, den man auch nutzen muss. Die Spaltaxt hatte ich schon lange, es hat nur Jahre gedauert um den Spaltkeil zu finden und dabei lag er vor der Nase.

Man sieht es ja auch in der Wirtschaft:
Manager von Großkonzernen/Großbanken mit entsprechenden Kontakten zur Politik => no skin in the game und dementsprechend schlechte Qualität.

Kleine Privatbanken und Sparkassen und Unternehmensgründer die gleichzeitig die Besitzer sind => skin in the game und dementsprechend gute Qualität bzw. wenn schlechte Qualität dann pleite.

Das wichtigste wird sein, dass bei jeder Maßnahme auch von vorne herein klar ist, wie hoch die Kosten sind und wer sie trägt.
Dann hören sich völlig blödsinnige Manöver von selbst auf.

Man stelle sich nur vor die damalige Bundesregierung hätte sich hingestellt und gesagt:
"Lieber Bürger wir möchten gerne Krieg in Afghanistan führen und deshalb müssen wir von jedem von Euch den Betrag X monatlich einziehen."

Man stelle sich nur vor die damalige Bundesregierung hätte sich hingestellt und gesagt:
"Lieber Bürger wir möchten gerne Krieg in Afghanistan führen und deshalb müssen wir von jedem von Euch den Betrag X monatlich einziehen.“

Ich denke es wäre keiner nach Afghanistan gekommen. Aber dafür raubt man ja Steuern und muss dann auch niemanden Fragen. Dann verteidigt man den Bürger am Hindukusch. Muss mal bei Gelegenheit nachschauen, was dieser Spass bis heute an Kosten verursacht hat.

einen upvote spar ich mir, kommt gerade nichts mehr rüber

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Hab auch nur noch 40% voting power.

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