Die Webfehler der Europäischen Union

in #deutsch5 years ago

https://younggerman.com/2019/01/27/die-webfehler-der-europaeischen-union/



 Webfehler nennt man solche Fehler, die in einer  Konstruktion von Vornherein angelegt sind und die sich nicht mehr so  einfach nachträglich beheben lassen – außer man legt die Konstruktion  bis zu dem Punkt auseinander, an dem sie entstanden sind. Wo sie  auftreten, erscheint der ganze Bau in Frage gestellt. Diese Diagnose  trifft, so muss man bedauerlicherweise feststellen, auf die Europäische  Union und ihre Konstruktions- und Integrationsmechanismen vollauf zu.  Bereits an ihrer Wiege wurden falsche Weichenstellungen getroffen, die  sich nur schwer nachträglich umstellen lassen.
Die seit 1950 aus der  Taufe gehobene Montanunion stand unter zwei prägenden Vorzeichen: Einmal  dem französischen Interesse, die deutsche Kohle- und Stahlproduktion  unter Kontrolle zu bekommen, und der rein ökonomischen Konzeption einer  gegenseitigen Verzahnung der Volkswirtschaften, die eine politische  Einigung nur als pragmatisches Anhängsel erscheinen ließ, weil dies in  Aussicht stellte, Kosten zu ersparen. Die politische Integration wurde  auf diese Weise zum Vehikel der wirtschaftlichen Integration. Die Frage,  die sich heute zunehmend „gute Europäer“ stellen  müssen, lautet denn auch, was Europa politisch noch zusammenhalten wird,  wenn es für die schwächeren Mitgliedsstaaten in ökonomischer Hinsicht  immer ungemütlicher wird, während die stärkeren immer weniger bereit  sein werden, eine Transferunion durch die Steuergelder ihrer Bürger  aufrechtzuerhalten – und das nicht zuletzt aufgrund des innenpolitischen  Druckes, der durch das immer realere Konturen annehmende  Schreckgespenst des „Rechtspopulismus“ größer werden wird. 


 Vier große Webfehler kennzeichnen die Europäische Union. Der erste ist  schon überdeutlich geworden: Das große Banner, um die sich die  europäischen Völker versammelten, war keine kulturell fundierte  politische Idee, sondern der Markt. Indem sich Europa auf Wirtschaft und  Handel gründete, trat es die epigonale Nachfolge der Seemächte wie dem  britischen Empire oder den USA an, ohne dem zugrundeliegenden Element  wirklich gewachsen zu sein. Es ist nämlich ein geopolitisches  Grundprinzip, dass Gesellschaft, Markt und Handel dem Grundelement des  Meeres entsprechen, wohingegen Gemeinschaft und Politik nur im Element  der Erde statthaben können. Dementsprechend heißt es in Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (§ 247): 


 «Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und  Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie  belebende natürliche Element das Meer. In der Sucht des Erwerbs,  dadurch, daß sie ihn der Gefahr aussetzt, erhebt sie sich zugleich über  ihn und versetzt das Festwerden an der Erdscholle und den begrenzten  Kreisen des bürgerlichen Lebens, seine Genüsse und Begierden, mit dem  Elemente der Flüssigkeit, der Gefahr und des Unterganges. So bringt sie  ferner durch dies größte Medium der Verbindung entfernte Länder in die  Beziehung des Verkehrs, eines den Vertrag einführenden rechtlichen  Verhältnisses, in welchem Verkehr sich zugleich das größte  Bildungsmittel und der Handel seine welthistorische Bedeutung findet.» 


 Die Erde ist das begrenzende Element, das einer Landmacht erlaubt, feste  Grenzen um sich zu ziehen und ihren Innenraum rechtlich und politisch  zu einer Gemeinschaft zu gestalten, mit der sich ihre Bürger  identifizieren können. Das Meer kennt wie der Handel keine Grenzen,  beide streben im Gegenteil sogar nach Expansion über bestehende Grenzen  hinweg. Ihm entspricht potenziell die Weltgesellschaft als  globalisierter Produktions- und Konsumtionszusammenhang, dem sich kein  Mensch mehr entziehen kann. Damit sind wir beim zweiten Webfehler: Nicht  nur, dass Europa zu einer Superbürokratie ausgewachsen ist, die in  erster Linie ökonomische Funktionsimperative exekutiert und nach  technokratischen Strategien undurchsichtiger Expertenkommissionen  gesteuert wird; wenn es überhaupt eine politische Perspektive hat, ist  es ein europäischer Bundesstaat als Ausgangspunkt für die Entwicklung  eines transnationalen Netzwerks von Regimen, das in den kosmopolitischen  Weltstaat ausmünden soll. 


 Die jetzige EU wird von dem hegemonialen Diskurs zu einem  universalistischen Projekt umgedeutet. Das ist übrigens auch der Grund  für den Erweiterungswahn der EU seit dem Untergang der Sowjetunion, der  auf Kosten einer Vertiefung der europäischen Integration ging und keine  geographischen, kulturellen und religiösen Grenzen zu kennen scheint.  Statt sich zum Steigbügelhalter einer Weltinnenpolitik machen zu lassen,  sollte Europa aus geopolitischer Vernunft eher danach streben, den  Brückenkopf einer starken Kontinentalmacht zu bilden, die selbstbewusst  ihre Interessen artikulieren und behaupten kann.
Der dritte  Konstruktionsfehler besteht in dem oft monierten Demokratiedefizit der  EU. Er ergibt sich daraus, dass man die Union von oben, also unter Regie  der Brüsseler Institutionen, geschaffen hat und nicht von unten nach  oben organisch wachsen ließ, d.h. von der Ebene der Regionen, der  Staaten bis hinauf auf die europäische Ebene. Subsidiaritätsprinzip  statt Zentralitätsprinzip würde die Alternative heißen und sie ist viele  Male in der Tradition der katholischen Soziallehre ausformuliert  worden, am eindrücklichsten vielleicht 1931 in der Sozialenzyklika  Quadragesimo anno: 


 «Wie dasjenige, was der Einzelmensch als eigener Initiative und mit  seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der  Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die  Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen  leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und  übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; jedwede  Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär;  sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber  niemals zerschlagen oder aufsaugen.» (Papst Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno, Nr. 79) 


 Ein föderales Europa, das Kompetenzen auf subsidiäre Art und Weise  verteilt, wäre das positive Gegenbild der EU-Bürokratie, die dadurch,  dass sie sich immer mehr Befugnisse autoritär anmaßt, den Eindruck  erweckt, nach jakobinischem Vorbild gestaltet zu sein.
Der vierte  Fehler hängt schließlich unmittelbar damit zusammen. Er betrifft den  Umstand, dass die EU nicht mit, sondern gegen ihre Völker errichtet  wurde. Dabei blieb das Verhältnis zwischen Identität, Souveränität und  Demokratie jeweils ungeklärt, denn die Völker sind die entscheidende  Voraussetzung für alle drei. Und da der vermeintlich grundlegende  Lissabon-Vertrag von 2009 noch ein völkerrechtlicher Vertrag war, setzt  er die Völker in ihren Souveränitätsrechten noch voraus und kann diese  nicht aufheben. Ein Vertrag, den die Völker über ihre Vertreter  schließen und der zugleich ihre Souveränität und damit auch ihre  Fähigkeit zum Vertragsschluss aufhöbe, wäre logisch und juristisch ein  Unding und würde einer Selbstabschaffung gleichkommen. Zumal gibt es ja  kein europäisches Staatsvolk, das die einzelnen Völker als  Rechtssubjekte zu ersetzen imstande wäre. Eine demokratisch akzeptable  europäische Verfassung zu schaffen, wird nur dann funktionieren, wenn  die Frage nach der verfassunggebenden Macht auf eine für die  europäischen Völker zufriedenstellende Weise geklärt sein wird. Karl  Albrecht Schachtschneider bringt die Verwerfungen der bisherigen  EU-Politik auf den Punkt: 


 «Die Unions-, zumal die Euro-Politik will Schritt für Schritt die  Nationalstaaten auflösen, ohne dass die Bürger darüber abgestimmt haben,  ob sie ihre Staaten aufgeben und in ihrem Großstaat Europa in einer  vorerst multikulturellen Europabevölkerung leben wollen. Insbesondere  will die politische Klasse Deutschland als Gliedstaat in einem  europäischen Bundesstaat aufgehen lassen, ohne das Volk, die Deutschen,  um dessen Zustimmung zu fragen. Das ist ein langgezogener Staatsstreich.  Die Politik ist zudem undemokratisch und schadet dem Rechtsstaat, vor  allem der Gewaltenteilung und dem Rechtsschutz, aber auch dem  Sozialstaat, wie die Verarmung großer Teile der Unionsbevölkerung  erweist.» (Karl Albrecht Schachtschneider: Die nationale Option, 2017, S.259) 


 Auch wenn der Brexit sich möglicherweise als wirtschaftlich nachteilig  für Großbritannien erweisen sollte, stellt er eine Etappe innerhalb  einer legitimen Revolte dar, in der sich mit der Parole „take back control“  das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen eine faule Ökonomie  durchsetzen könnte, die sich bisher, an der Demokratie vorbei, immer das  letzte Wort sichern konnte.
Es sollte fraglos klar sein, dass ein  politisch konstituiertes Europa eine Notwendigkeit ist, an der wir nicht  vorbeikommen. Die Herausforderungen der Weltpolitik sprengen die  nationalen Handlungslogiken und verlangen, dass unser Kontinent mit  einer Stimme spricht. Europa darf sich nicht nur als Markt, sondern muss  sich als Macht aufstellen, dazu gehören klar definierte Grenzen,  demokratische gemeinsame Institutionen und ein geopolitisches Konzept.  Eine prinzipiell offene Freihandelszone in einem grenzenlosen Raum nach  Analogie des Meeres kann keine europäische politische Idee  hervorbringen, sondern wird diese im Gegenteil gerade in ein  angelsächsisch-atlantisches Modell hinein absorbieren. Entscheidend ist,  dass den Prozess der politischen Integration eine stetige  historisch-kulturelle Selbstbesinnung begleiten und beeinflussen muss.  Ob am Ende die Bildung eines Kerneuropas sinnvoll sein kann, das die  Rolle eines Impulsgebers einer „Europäisierung Europas“  spielen muss, wird die Zukunft zeigen. So oder so ist mehr politischer  Wille nötig, um die Fäden des politischen Gewebes Europas neu zu  verknüpfen. 


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