Medien 025 - Interessante Aussagen zur Demokratie im deutschen ÖR-TV

in #deutsch5 years ago

22. Januar 2019

Im Morgenmagazin des öffentlich-rechtlichen deutschen Senders ZDF vom 15. Januar 2019 [1], auch MoMa genannt, kam es in einem Gespräch zwischen Moderatorin Dunja Hayali [2] und Bundesjustiziministerin Katarina Barley (SPD) [3] zu demokratisch-politisch interessanten Aussagen, die ich hier gerne schriftlich wiedergeben möchte. Allerdings bin ich nicht der erste, der das Thema im Web aufgegriffen hat. Vor mir waren Privatinvestor Politik Spezial mit Markus Gärtner [4] und WIM - Wirtschaft, Information und Meinung mit Jürgen Felger [5]. Beide Videos kann ich empfehlen.

Es ging im Gespräch um den wohl wenig geordnet ablaufenden Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Das Magazin wurde am Morgen des Tages ausgestrahlt, an dem das Britische Unterhaus den ausgehandelten Kompromiss zwischen der EU und der britischen Regierung mit grosser Mehrheit ablehnte. Die Justizministerin einzuladen, war naheliegend, sie ist Doppelbürgerin und ihr Vater Engländer, der als Redakteur für die Deutsche Welle arbeitete. Ihre Beziehung zu Grossbritannien dürfte deswegen etwas intensiver sein als die von anderen Ministern des Kabinetts Merkel Edition IV.


Dunja Hayali (0:01):

Es spricht einiges dafür, dass das Abkommen mit der EU heute im Britischen Unterhaus abelehnt wird. Aber was dann? Wird der für den 29. März 2019 vorgesehene Austritt Grossbritanniens aus der EU noch einmal verschoben? Muss sich Theresa May [6] einem Misstrauensvotum stellen? Fragen über Fragen. Einige davon auch an Bundesjustizministerin Katarina Barley. Sie ist ausserdem die Spitzenkandidatin für die Europawahl in diesem Jahr. Einen schönen guten Morgen!

Katarina Barley (0:32):
Guten Morgen.

Dunja Hayali (0:33):

Warum wird denn Theresa May, das sagen im Grunde alle, fast alle, 99 %, keine Zustimmung für ihren ausgehandelten Deal bekommen? Ist der so schlecht?

Katarina Barley (0:45):
Nein, der ist nicht so schlecht. Aber die Briten wollen am liebsten die Quadratur des Kreises. Sie wollen gerne die Vorteile, die die EU bietet in weiten Teilen erhalten, aber sich nicht weiter dem Regime der EU unterwerfen, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Beispiel. Das kriegt man eben nicht übereinander. Es sind im Vorfeld des Referendums auch viele falsche Versprechen gemacht worden.

Anmerkung: Regime und unterwerfen sind zwei Begriffe, die empfindliche Ohren nicht gerne hören, wenn es um Politik geht. Ausserhalb der Politik kann man ein Regime auch etwas weniger pointiert als einen naturgegebenen Handlungsrahmen begreifen. In der Politik spricht man von einem Regime, wenn es sich um einen von oben vorgegebene, nicht natürlich gekommene Ordnung handelt, wobei man sich oben nicht selten einige Rechte zum Gebrauch der Willkür offen lässt.

Dunja Hayali (1:10):

Viele falsche Versprechen, die jetzt gar nicht eingehalten werden können. Vieles mehr ist schiefgelaufen offensichtlich auch bei Ihrer Schwesterpartei Labour. Ein Eiertanz, den man wirklich selten gesehen hat. Warum gibt es da kein klares Commitment in die eine oder andere Richtung?

Katarina Barley (1:26):
Das britische Wahlrecht ist so, dass man nur von seinem Wahlkreis aus in das Parlament geschickt werden kann. Parteilisten wie bei uns mit der Zweitstimme gibt es nicht. Die Labour-Wahlkreise sind die mit der höchsten Zustimmung sowohl zum Brexit, als auch zum Verbleib in der EU. Die Labour-Abgeordneten sind von ihrer Wählerschaft her auf den beiden entgegengesetzten Polen zu finden. Deswegen ist die Partei auch recht zerrissen, muss man sagen.

Dunja Hayali (1:52):

Und da gibt es dann auch sozusagen keinen Weg heraus. Muss man nicht im Grunde das Wahlverhalten der Wähler irgendwann einmal überwinden und mit einer Stimme sprechen?

Anmerkung: Das Wahlverhalten überwinden. Wenn das in einem ähnlichen Sinne gemeint ist wie die Überwindung des Kapitalismus im Sozialismus, kann man sich Wahlen, Volksentscheide und Demokratie sparen. Wenn ich Wahlverhalten überwinden will, schaffe ich am besten Wahlen ab, dann gibt es auch kein zugehöriges Verhalten. Mit einer Stimme zu sprechen, unabhängig von dem Verhalten der Wähler wirkt auch respektlos und fragwürdig, weil es beinhaltet, dass sich die Politik von den von ihr zu vertretenden Menschen emanzipieren soll. Wenn man bedenkt, dass die Bürger die ersten Auftraggeber der Politiker sind und es in der Demokratie nicht vorgesehen ist, dass von oben herab eigenmächtig eine Ordnung verhängt wird, sollte man eher darauf hinarbeiten, dass zwischen Politik und Bürger möglichst wenig Trennung existieren sollte. Illoyalität gegenüber dem Auftraggeber ist im Allgemeinen keine gute Idee und man braucht sich nicht zu wundern, wenn man sich damit 1. nicht beliebt macht und 2. Konflikte schürt.

Katarina Barley (2:04):
Ja, das ist die deutsche Logik und die kontinentale Logik. Aber in Grossbritannien heisst es eben, wenn man das nicht tut (das Wählerinteresse vertreten - Anm.) wird man beim nächsten Mal nicht mehr wiedergewählt. Und man kommt über keine Landesliste mehr ins Parlament. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier denken ein Stück weit auch an ihre eigene Zukunft und sagen: *"Ich muss das tun, was meine Wähler in meinem Wahlkreis mir mitgegeben haben, sonst bin ich weg.

Anmerkung: Das britische Wahlsystem ist ein anderes als das deutsche. Es gibt nur Direktkandidaten, jeder Abgeordnete hat also seinen Wahlkreis gewonnen. Die Abgeordneten haben einen persönlichen Sieg im Rücken, müssen sich ihrer Verpflichtung den Wählern gegenüber bewusst sein und verfügen damit gegenüber der eigenen Partei über ein grosses Selbstvertrauen. Der Einfluss der Parteien dürfte geringer ausfallen als in Deutschland. Man kann somit nicht sagen, dass das britische System weniger demokratisch sei, als das deutsche. Insbesondere die Tatsache, dass jedem Abgeordneten stets die Abwahl durch die Wähler droht, jeder stets Konsequenzen fürchten muss, ist ausgesprochen demokratisch.

Dunja Hayali (2:23)

Auf der einen Seite versteht man das, auf der anderen Seite geht es auch um die Zukunft des gesamten Landes. Die EU hält jetzt eine Verschiebung des Brexits über das vorgesehene Datum - den 29. März 2019 - für möglich. Was soll denn das bringen?

Katarina Barley (2:38):
Es kann eigentlich nicht mehr viel bringen. Es könnte dann etwas bringen, wenn man wirklich noch einmal über ein zweites Referendum nachdenken würde. Die EU hat ganz klar gesagt, dass es über den ausverhandelten Deal keine Nachverhandlungen geben wird. Aber man muss auch sehen, dass die Europawahlen kommen. Dann muss entschieden sein, ob die Briten mitwählen werden oder es nicht tun. Der Termin dafür ist Ende Mai 2019, es gibt also nicht mehr viel Luft nach hinten.

Dunja Hayali (3:02):

Wobei ich gehört habe, dass man das im Juni für die Briten noch nachlegen könnte. Die Zeit wird natürlich eng. Warum schliesst die EU Nachverhandlungen so kategorisch aus? Ist es im Grunde so, dass die EU Härte anwendet, weil viele den Brexit nicht wollen, damit es zu einem zweiten Referendum kommen wird? Oder ist die Befürchtung so, dass im Falle eines Nachgebens befürchtet wird, dass andere folgen könnten?

Katarina Barley (3:28):
Über dieses Abkommen ist über zwei Jahre gut verhandelt worden. Da hängt ganz viel mit vielem zusammen. Wenn man jetzt anfängt, das an einer Stelle wieder aufzuschnüren, dann purzeln die schwierigen Punkte nur so wieder heraus. Es war nicht die harte Hand, aber es war eine sehr konsequente Verhandlung von der europäischen Seite aus. Die 27 Länder sind ganz nahe beieinander geblieben, das war nicht selbstverständlich. Und die einzelnen Länder haben auch eigene Ansichten, es wäre also schwierig.

Dunja Hayali (3:59):

Eine persönlichere Frage. Sie haben beide Staatsbürgerschaften und haben sicherlich viele Freunde und vielleicht Familie auf der Insel. Wirklich unpolitisch. Ein zweites Referendum wäre Ihnen am liebsten?

Katarina Barley (4:14):
Ich habe schon vor zwei Jahren gesagt, dass ich gerne vor dem ganzen Chaos ein zweites Referendum hätte. Weil ich finde, dass niemand wissen konnte, was der Brexit ganz konkret bedeuten würde. Man hat einfach ein Grundsatzentscheidung gefällt, pro oder contra. Ich fände es fair, hätte es damals schon fair gefunden, wenn man gesagt hätte: "Jetzt wissen wir konkret, was das bedeutet, wollen Sie das? Einen harten Brexit? Oder wollen Sie drin verbleiben?" Ich hielte das für eine faire Entscheidung.

Dunja Hayali (4:32):

Würde man nicht unterstellen, dass die Bürger nicht schlau genug waren sozusagen das zu durchdringen?

Anmerkung: Der Wähler hat seine eigenen Interessen zu vertreten und entsprechend zu wählen. Die Politiker haben sich danach zu richten und die Interessenslage in den politischen Rahmen zu implementieren. Dieser Rahmen hat eigene Regeln. Die Politiker sind aufgrund der beiden Spannungsfelder unter Leistungsdruck. Sich stromlinienförmig im Politzirkus zu bewegen und stattdessen darauf zu setzen, die Gemüter der Wähler weit strapazieren zu können, ist eine Haltung, die zu Konflikten führen muss.

Katarina Barley (4:38):
Das ist immer das Gegenargument. Ich halte das für falsch. Es hatte nichts mit schlau oder nicht-schlau zu tun, sondern einfach damit, dass wir noch nie so einen Fall hatten. Weder diejenigen, die drinbleiben wollten, noch die, die rausgehen wollten, noch die Resteuropäer konnten wissen, wie das eigentlich konkret aussieht. Niemand konnte das wissen. Insofern fände ich es (das zweite Referendum) fair.

Dunja Hayali (4:58):

Das sagt Katarina Barley, Justizministerin hier in Deutschland, aber auch die Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl in diesem Jahr. Deutsche und Britin, aber offenbar schlägt das Herz ganz klar in eine Richtung. Herzlichen Dank für Ihren Besuch heute.

Anmerkung: Die Abstimmung über den Brexit war ganz sicher eine, deren Tragweite bis auf die Tatsache Austritt kaum jemand abschätzen konnte. Aber es gab dieses Ereignis, bei dem die Bürger ihren Willen zum Ausdruck bringen konnten. Wäre die überwiegende Mehrheit mit der Situation zufrieden gewesen, das hätte das Ziel von EU und UK-Regierung sein müssen, hätte es 1. keine enge Entscheidung gegeben und 2. kaum eine Mehrheit für das Experiment. Schade ist auch, dass sich gerade jüngere Bürger, von denen viele in der Folge gegen das Resultat der Abstimmung protestiert haben, sich weder an Kampagnen, noch an der Abstimmung beteiligt haben. Es braucht bei diesen Menschen offenbar mehr Bewusstsein dafür, dass es Termine gibt, an denen verbindliche Entscheidungen getroffen werden und diese Termine sich nicht danach richten, ob man selbst gerade Lust hat oder nicht. Den Wahrheitsgehalt des sehr bekannten Zitats von Gennadi Gerassimow (1930-2010) [7], aussenpolitischer Sprecher der UdSSR-Regierung Gorbatschow - "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" - habe ich schon oft in der Realität erlebt.


[1] Brexit: "Quadratur des Kreises". ZDF Morgenmagazin, 15. Januar 2019 https://www.zdf.de/nachrichten/zdf-morgenmagazin/katarina-barley-zum-brexit-100.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Dunja_Hayali
https://en.wikipedia.org/wiki/Dunja_Hayali
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Katarina_Barley
https://en.wikipedia.org/wiki/Katarina_Barley

[4] Barley: Nicht dem "Regime" der EU "unterwerfen". Der Privatinvestor Politik Spezial YouTube Kanal, 20. Januar 2019


[5] ARD ZDF möchte "Wahlverhalten überwinden". "schlau genug"?!? Wählerbeschimpfung im Moma 15.1.2019. WIM - Wirtschaft, Information und Meinung YouTube Kanal, 21. Januar 2019
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Das Wahlverhalten überwinden. Wenn das in einem ähnlichen Sinne gemeint ist wie die Überwindung des Kapitalismus im Sozialismus, kann man sich Wahlen, Volksentscheide und Demokratie sparen. Wenn ich Wahlverhalten überwinden will, schaffe ich am besten Wahlen ab, dann gibt es auch kein zugehöriges Verhalten. Mit einer Stimme zu sprechen, unabhängig von dem Verhalten der Wähler wirkt auch respektlos und fragwürdig, weil es beinhaltet, dass sich die Politik von den von ihr zu vertretenden Menschen emanzipieren soll. Wenn man bedenkt, dass die Bürger die ersten Auftraggeber der Politiker sind und es in der Demokratie nicht vorgesehen ist, dass von oben herab eigenmächtig eine Ordnung verhängt wird, sollte man eher darauf hinarbeiten, dass zwischen Politik und Bürger möglichst wenig Trennung existieren sollte. Illoyalität gegenüber dem Auftraggeber ist im Allgemeinen keine gute Idee und man braucht sich nicht zu wundern, wenn man sich damit 1. nicht beliebt macht und 2. Konflikte schürt.

Klasse formuliert! Deinen Beiträge sind immer wieder ein Genuss und eine Wohltat auf die vom Sozialismus geschundene Seele eines jeden Freiheitsdenkers.

Dank an dieser Stelle dafür...

Danke für den Kommentar!
Gern geschehen.

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